Für die Chinesen der Vergangenheit und Gegenwart ist die Gesellschaft eine Erweiterung der Familie. Die innerhalb der Familie genossene moralische Erziehung und das Kultivieren des Charakters bilden die Grundlagen für alle weiteren Beziehungen in der Gesellschaft. Seit Jahrtausenden sind die Praxis des vorsichtigen Formulierens der Sprache und die Regeln, welche das Miteinander eines jeden mit anderen Familienmitgliedern festlegen, die wesentliche Grundvoraussetzung, um die Pflichten in allen sozialen und politischen Bereichen erfolgreich zu erfüllen.
Interessanterweise werden die in der Familientradition verankerten Tugenden wie kindliche Pietät und jen (仁, liebevolles Wesen, wohlwollende Zuneigung), durch das traditionelle Design eines chinesischen Hauses noch untermauert. Die Ethik beeinflußt die Architektur.
Im folgenden Artikel erklärt Prof. Vincent Shen(沈清松), Vorsitzender der Fakultät für Philosopie der Staatlichen Chengchi Universität in Taipei, den direkten Zusammenhang zwischen der konfuzianischen Philosophie und der Architektur eines traditionellen chinesischen Hauses. Ferner beurteilt er den Zusammenprall der überlieferten Familienethik mit den zahlreichen Modernisierungen, insbesondere die Verdrängung der alten Familienstätten durch moderne Hochbauten.
Obgleich ein traditionelles chinesisches Haus viele bauliche Varianten aufweisen kann, welche von der Lokalität, der geschichtlichen Periode und dem materiellen Stand der Familie abhängen, so folgen diese Häuser im wesentlichen einer grundlegenden strukturellen Form: Eine zentrale, rechteckige Einheit umrahmt mit zwei oder drei damit verbundenen Flügeln einen Hof. Die Häuser, die den Hof an drei oder vier Seiten begrenzen, werden dementsprechend San ho yüan(三合院)oder Ssu ho yüan(四合院)genannt.
Gleich ob es sich um ein hufeisenförmiges dreiseitiges oder ein den Hof völlig umschließendes vierseitiges Haus handelt, sind der Haupteingang und die Hauptgebäude entlang einer Nord-Süd Achse ausgerichtet, wobei die wichtigsten Räume nach Süden weisen. Allgemein gesagt, ist das chinesische Haus eine geschlossene Einheit, in der sich alle Räume dem zentralen Hof oder Nebenhöfen hin öffnen. Zum Schutz vor menschlichen oder anderen Eindringlingen, sind Türen und Fenster an den Außenwänden der Wohnanlage selten; die Familie schaut nach innen.
Die "horizontalen", öst-westlich ausgerichteten Gebäude heißen Chin(進)und sind in den meisten Fallen die zuerst gebauten. Das "horizontale" Haupthaus, Chengshen(正身), beinhaltet die große Halle und grenzt den Hof nach Norden ab. Die daran anschließenden "vertikalen" Seitenflügel werden entweder Shun(順)oder im Norden Chinas Hsiangfang(廂房)und auf Taiwan Hulung (護龍, "beschützende Drachen") genannt. Der Hof inmitten der miteinander verbundenen Gebäudeteile trägt den metaphorischen Namen Tienching (天井, Himmelsbrunnen) . Die traditionellen Wohnhäuser auf Taiwan folgen gewöhnlich dem hufeisenförmigen Arrangement; häufig ist das Haupthaus mit seinen zwei den Hof abgrenzenden Flügeln von einer Mauer umgeben und somit nach außen hin geschlossen. Im Falle größerer Familien wurde der ursprüngliche Gebäudekomplex durch den Anbau weiterer Flügel erweitert.
Der Hof ist ein integraler Bestandteil des Wohnhauses. Er dient der ganzen Familie zur Erholung und Entspannung und ist zugleich auch rituelles Zentrum des Hauses. Im Hof pflanzen die Familienmitglieder Blumen, züchten im Teich Fische, schnappen frische Luft, reden miteinander und spielen mit den Kindern. Auf allen vier Seiten von Mauern und Gebäuden umgeben, symbolisiert der Hof die Geschlossenheit und Harmonie der ganzen Familie.
Bei sorgfältiger Aufteilung und Nutzung des vorhandenen Raumes kommen dank der Architektur eines chinesischen Hauses die bedeutenden ethischen Familienbeziehungen zwischen "Wurzeln und Ästen" sehr deutlich zum Ausdruck. Die Anordnung der Zimmer beispielsweise verdeutlicht das hierarchische Beziehungsnetz der Familienmitglieder. Sowohl der traditionelle Konfuzianismus als auch dessen moderne Varianten betonen die Regeln des Anstands (Li, 禮), welche sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen regeln. Drei der fünf Schlüsselbeziehungen sind familiengebunden: jene zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, ferner zwichen älterem und jüngerem Bruder. (Die beiden anderen Beziehungen verbinden die Familie mit dem Staat: Sie klären das Verhältnis zwischen Freunden, ferner zwischen Herrscher und Untertan).
Diese fünf Beziehungsregeln, das Kernstück der konfuzianischen Ethik, dienen als Schablonen oder Modelle für sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen, sowohl in- als auch außerhalb der Familie. Durch das perfekte Rollenverhalten und festgelegte Handlungsweisen innerhalb der Großfamilie wird jedes Familienmitglied auf die soziale Vielschichtigkeit außerhalb der eigenen Mauern vorbereitet.
Diese ethischen Erwägungen werden anhand der Hausarchitektur konkretisiert: Die Güter jenseits des Haupttores gehören den Nachbarn, der Gemeinde oder dem Land, die diesseits der Familie. Selbst wenn Gäste ins Haus geladen werden, muß man gewissen Regeln Folge leisten. Besucher werden in der Empfangshalle, der großen Halle, begrüßt, welche mit dem Wohnzimmer der Familie nicht identisch ist. Die Empfangshalle dient den mehr "öffentlichen" Angelegenheiten, während zum Wohnzimmer nur Familienmitglieder Zugang haben.
Der Aufbau einer Familie ist genauestens strukturiert. Die Aufteilung des Wohnraumes richtet sich nach dem Alter, der Generation oder der individuellen Position innerhalb der Familie. Diese Struktur ist unter Umständen nicht einfach festzusetzen, doch wenn einmal bestimmt, wird ihr streng Folge geleistet. Die einzelnen Familienbeziehungen werden durch die von der Familie benutzte Terminologie noch deutlicher: Mitglieder eines Haushalts werden nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrem Titel, der ausdrückt in welcher Beziehung sie zum Sprecher stehen, angesprochen, so daß die eigene Rolle in der Familienhierarchie zu jeder Zeit klar ist. "Onkel" oder "Cousin" als Anrede im Deutschen ist für Chinesen, die sich genauer ausdrücken, vollkommen ungenügend; wenn sich beispielsweise jemand an seinen Shu shu(叔叔)wendet, so spricht er mit dem jüngeren Bruder seines Vaters. Diese Unterscheidungen machen einen Unterschied - der Haushalt ist so strukturiert, daß sich diese feinen Stellungsunterschiede darin wiederspiegeln .
Die Raumverteilung eines Hauses verlief tatsächlich in hohem Maße klassenbewußt. Türhüter und Dienstboten wohnten im vorderen Teil, während die rückliegenden Räume Frauen oder Älteren vorbehalten waren. Diese Aufteilung stimmt im wesentliehen mit dem Grundsatz überein, daß der Vorderteil für die Öffentlichkeit und die Untergebenen angemessen sei, der hintere Teil für das Privatleben und die Älteren.
Von sämtlichen Beziehungen innerhalb der Großfamilie ist die Beziehung zu den Vorfahren die wichtigste, da diese den Ursprung des Lebens und die kulturelle Herkunft eines jeden Mitglieds der weitverzweigten Familie repräsentieren. Konfuzius sagt: "Beim Kultivieren des Respekts für die Toten und dem Zurückschweifen der Erinnerung in die Vergangenheit, wird die Moral der Menschen erwachen und an Tiefe gewinnen." Verehrung der Ahnen ist die logische Konsequenz der kindlichen Pietät und die Vorfahren im eigenen Haus anzubeten, ist eine jahrtausende alte Praxis, in welcher der Fortbestand der Familie über Generationen geehrt wird. Demzufolge sind die Familien mitglieder , deren Räume direkt an die große Halle anschließen, in welcher die Ahnentafeln aufbewahrt werden, dem Kern der Familie am nächsten.
Die Haupthalle dient einer Reihe von Anlässen, die von feierlichen Ritualen über Feste bis hin zum Empfang von Besuchern reichen. Die wichtigsten Stellungnahmen und Urteile werden hier gegeben, ebenso Belohnungen und Strafen - was zeigt, daß die bedeutenden Ereignisse im familiären Leben vor den Ahnen stattfinden sollten. Auf diese Weise wird den Ahnen nicht nur Autorität und Wert zuteil, sondern ihr Geist ist auch von ritueller Bedeutung erfüllt.
Geomantie - besonders die Art, die auf dem Buch der Wandlungen(易經), einem der Fünf Klassiker, (五經, Wu ching) des alten China, basiert - spielt gleichfalls eine entscheidende Rolle bei der Zuweisung des Wohnraumes für einzelne Familienmitglieder, bei der allgemeinen Ausrichtung des Hauses und den weiteren philosophischen Überlegungen, wie beispielsweise kindliche Pietät zum Ausdruck zu bringen sei. Es existieren verschiedene Kommentare zu den Triagrammen dieses komplexen klassischen Werkes, und individuelle Umstände wie Zeit, Ort und Familiengröße hatten beträchtlichen Einfluß darauf, welcher Kommentar vom Geomant zur Analyse auszuwählen sei.
Doch das Ziel ist unbedingt das gleiche: das Haus und den Haushalt auf eine Art und Weise zu organisieren, daß diese die Kultivierung der ethischen Ordnung in der Familie unterstützen und von außen auf die Familie einwirkende Mächte zufriedenstellen. Im letztgenannten Fall handelt es sich darum Zimmer, Fenster, Türen und den Grundriß an sich, in Übereinstimmung mit Feng shui(風水), "Wind und Wasser", zu gestalten, den Kräften der Natur, welche das Universum und alles, was darin enthalten ist, durchdringen. Ist das Haus nicht in Einklang mit diesen Mächten konstruiert, so nimmt der Haushalt und erst recht alle außerhalb liegenden Beziehungen Schaden. Dem Bau eines Hauses und allen späteren Anbauten wurde daher die größte Aufmerksamkeit geschenkt.
Beispielsweise soll laut den Triagrammen einer auf dem I ching basierenden Analyse, "der Vater im Nordwesten, die Mutter im Südwesten, der älteste Sohn im Osten, der zweite Sohn im Norden, der jüngste Sohn im Nordosten, die älteste Tochter im Südosten, die zweite Tochter im Süden und die jüngste Tochter im Westen" des Hauses wohnen. Jeder dieser Standorte steht mit den Triagrammen des I ching in Beziehung. Diese Analyse verdeutlicht nicht nur die philosophische Tiefe der chinesischen Tradition auf diesem Gebiet, sondern veranschaulicht auch das konfuzianische Anliegen eine ethische Hierarchie einzurichten, welche die Unterschiede zwischen Mann und Frau betont und wo die Älteren gegenüber den Jüngeren ihre vorrangige Stellung beibehalten.
Doch die Tradition muß den Veränderungen der Gegenwart weichen. Weil sich die Bevölkerung zunehmend mehr in den Städten konzentriert, schnellen die Bodenpreise in die Höhe. Daraus ergibt sich, daß die Kosten die Form diktieren. In Taiwan ersetzten hohe Appartementblocks mit unglaublicher Geschwindigkeit die traditionellen eingeschossigen Familienhäuser. Das alte Muster der Großfamilie wurde durch in kleinen Wohnungen lebende, isolierte Kleinfamilien ersetzt. Die Aufsplitterung der Familie in getrennte Lebenseinheiten - oft auf verschiedene Stadtteile oder zwischen Stadt und Land - gefährdet die jahrtausende alte ethische Beziehung zwischen den "Wurzeln und Ästen" der Familie. Aus Platzgründen scheitert heute der Austausch der Beziehungen innerhalb der ausgedehnten Familie. Auch die Verbindungen zwischen Himmel und Erde haben Schaden genommen. Der Kontakt zur Erde, sei es durch einen Garten, einen Teich oder einen Spielplatz, fehlt genauso wie ein "Himmelsbrunnen", der die unmittelbare Bewunderung des wechselnden Tageslichts oder des Sternenhimmels der Nacht erlaubt.
Das Ergebnis ist ein wahrhaft trauriges Phänomen. In den modernen Wohnungen verkommt die konfuzianische Tradition mehr und mehr: jahrtausende altes, mit dem Wohnraum aufs engste verknüpftes, philosophisches Gedankengut schwindet dahin, jetzt, wo es von der Architektur getrennt wurde, welche ursprünglich seine tiefere Bedeutung wiederspiegelte. Daher müssen die chinesischen Familien, wie auch Architekten und Philosophen einer neuen Herausforderung ins Auge sehen. Innovationen werden dringend benötigt, um den passenden Lebensraum für die Familien zu schaffen. Gleich welche architektonische Form gewählt wird, sie sollte die ethischen Schlüsseibeziehungen zwischen "Wurzeln und Ästen" der Familie, ferner zwischen Mensch und Universum beinhalten und unterstützen. Bessere architektonische Formen sollen sicherstellen, daß die verehrten Traditionen an zukünftige Generationen weitergereicht werden und der Modernisierungsprozeß das Fundament der chinesischen Kultur nicht zerstört.
(Deutsch von Gesine Arnemann)