Das "Ch'i", die alles erhaltende Vitalenergie, ist in China schon seit mehreren tausend Jahren Gegenstand der Forschung. Gesundheit wird in der traditionellen chinesischen Medizin als Ausgeglichenheit der Energiezirkulation (經絡) betrachtet. Während manche Leute nicht glauben, daß "Ch'i" existiert, sagen manche Kampfsportler, daß sie die Zirkulation des "Ch'i" im ganzen Körper spüren können. So herrscht auf der einen Seite absolute Überzeugung von der Nichtexistenz des "Ch'is", während die andere Seite das Vorhandensein vehement vertritt. Doch heute kann "Ch'i" quantitativ erfaßt werden, sein westlicher Name lautet "Bioenergie".
Im Krankenhaus des Chinese Medical College meldet sich ein an Bluthochdruck und Parkinsonscher Krankheit leidender Patient in der Akupunkturklinik an. Er hat nicht die Absicht, sich behandeln zu lassen, sondern er ist gekommen, um zu erfahren, ob ein ihm verordnetes Medikament auch helfen wird. Mit einem elektronischen Meßgerät stellt die Krankenschwester fest, daß der Patient auf bestimmten Punkten der Haut Werte aufweist, die höher als bei einem gesunden Menschen liegen. Als dann das Medikament dazu gelegt wird, bewegt sich die Nadel auf den Normalwert zurück. Damit steht die Wirksamkeit des Medikaments fest.
Auf diese Art und Weise hilft das Instrument, nach seinem Erfinder, einem deutschen Mediziner E.A.V. (Elektroakupunktur nach Voll) benannt, den Ärzten im Chinese Medica College herauszufinden, welches die geeigneteste Medikation für die Patienten ist. Da die Anwendung in den Krankenhäusern auf Taiwan jedoch nicht weit verbreitet ist, sind viele Chinesen mit dem E.A.V. noch nicht vertraut. Dabei liegt die Entwicklung dieses Geräts schon 33 Jahre zurück.
Die Grundlagen, auf denen das E.A.V. beruht, sind zehn Punkte auf den Händen und Füßen des Menschen, die mit den Organen und Systemen des Körperinneren in Verbindung stehen. Sondiert man diese Punkte mit einer Elektronadel, so erhält man Aufschluß über den Gesundheitszustand des Patienten.
Die alten Chinesen hatten schon sehr früh entdeckt, daß weit von der eigentlichen Wund- oder Schmerzstelle entfernt liegende Punkte, die man mit Steinen beklopft, oder mit Wärme behandelt, den Schmerz lindern. Nach langfristiger Sammlung von Erfahrungen fand man endgültig Regeln für diese ungewöhnlichen Phänomene. Daraus entwickelte sich die Grundlage für die traditionelle chinesische Medizin, die sogenannte Lehre von der Energiezirkuation, die besagt, daß die Konstitution der menschlichen Organe und Systeme vom Fluß der Vitalenergie abhängig ist. In sogenannten Energiekanälen fließt die Vitalenergie in besonders reiner Form und sammelt sich an bestimmten Stellen auf der Hautoberfläche, die Vitalpunkte (穴道) genannt werden. Da der Energiefluß bis in die Spitzen des menschlichen Körpers, das heißt bis in alle vier Gliedmaßen reicht, kann an den Vitalpunkten, auf Händen und Füßen, der Zustand von Körpersystemen und Organen im Inneren überprüft werden.
Dr. Voll entwickelte sein Gerät 1955, als er selbst an Blasenkrebs erkrankt war. Um seine Krankheit zu bekämpfen, wandte er das japanische Ryodoraku an, bei dem die elektrische Spannung an den Vitalpunkten ebenfalls mit Hilfe eines Instruments gemessen wird.
Dr. Voll, der nicht nur Mediziner, sondern auch Elektroingenieur ist, baute bald sein eigenes, verbessertes Gerät. Nach vielen Tests stellte er fest, daß gesunde Organe einen bestimmten, gleichbleibenden Wert aufweisen, der nur im Falle einer Erkrankung höher oder niedriger liegt. Je größer dabei die Abweichung, desto ernster war der Zustand des Patienten. Das war die Geburt des E.A.V.
Neben der Überprüfung von Lunge, Herz, Milz, Leber, Magen, Gallenblase, Nieren, Blase, Dickdarm, Dünndarm, Kreislauf und Hormonhaushalt kann das E.A.V. auch zur Untersuchung von Lymphen, Nerven, Allergien, Organverschleiß, Gelenken, Haut, Fetten und Geweben, kurz, der acht Systeme der modernen westlichen Medizin, angewendet werden.
Was bedeutet eigentlich der vom Gerät gemessenen Wert? Chung Chieh sagt, er sei das, was in der chinesischen Medizin "Ch'i" und in der westlichen Medizin "Bioenergie" genannt wird.
Vor sieben Jahren begann die Akupunkturabteilung des Veterans General Hospitals, in Zusammenarbeit mit Ts'ui Chiu, Gastprofessorin am National Yang Ming Medical College, mit der Erforschung der Bioenergie.
Ts'ui Chiu erklärt: "Um den Gesundheitszustand eines Menschen zu diagnostizieren, benutzt der chinesische Arzt die Methode des Pulsmessens, während sich das E.A.V. die Spannung an der Oberfläche der Haut des Menschen zunutze macht".
Chung Chieh fügt hinzu: "Die von der chinesischen Medizin betonte Ausgeglichenheit in der Körperkonstitution bedeutet eigentlich Balance der Energie; zu starkes oder zu schwaches 'Ch'i', ist gleichermaßen schlecht. Nehmen wir zum Beispiel die Energiekanäle der Lunge. Wenn das 'Ch'i' zu stark ist, fühlt man Schmerzen im Rücken und in den Schultern. Man verspürt häufig Harndrang, aber die gelassene Harnmenge ist gering. Ist das 'Ch'i' zu schwach, spürt man ebenfalls Schulter- und Rückenschmerzen, und die Harnfarbe verändert sich."
Der Leiter des Forschungsinstituts für chinesische Medizin am Chinese Medical College, Huang Wei-san meint, daß das vom E.A.V. gemessene "Ch'i" lediglich die in der chinesischen Medizin sogenannte Ernährungsenergie sei, das heißt, die durch Nahrungsaufnahme und Verdauung entstandene, in den zwölf Energiekanälen bis in die einzelnen Organe weitergeleitete Energie. "Das echte 'Ch'i' sei die Lebens-, Wachstums-, und Vermehrungskraft, kurz, die Urkraft des Menschen, die vom E.A.V. nicht gemessen werden kann," sagt Huang Wei-san.
In der Akupunkturabteilung des Veterans General Hospital wird der Versuch unternommen, traditionelle chinesische und moderne westliche Medizin zu verbinden. Dabei hat man festgestellt, daß die westliche Bioenergie eigentlich auf der Lehre der Energiezirkulation beruht.
Seit der ersten schriftlichen Niederlegung der Lehre der Zirkulation im Gelben Kaisers klassisches Werk über die interne Medizin (黃帝內經), ist das "Ch'i" ein wichtiger Bestandteil im Leben der Chinesen, denn schließlich ist in allen Lebewesen "Ch'i" enthalten.
"Wie können wir die Verantwortung für das Erbe unserer Vorfahren anderen überlassen?" fragt Chung Chieh. Das Wissen um die Grundlagen der chinesischen Medizin sei in Taiwan so umfangreich, meint er, daß die Voraussetzungen für eine weitere Erforschung schon deshalb viel besser seien.
Vor ihrer Rückkehr in die Heimat in Hawaii praktizierend, hatte Ts'ui Chiu dort bereits zwei Jahre mit einem praktischen Arzt zusammengearbeitet. Sie entdeckte, daß die Resultate bei der Anwendung der Bioenergiemethode im Vergleich zu herkömmlichen Untersuchungsmethoden zu 90% identisch waren.
Im Rahmen eines Forschungsprojekts sind unter der Leitung von Chung Chieh und Ts'ui Chiu seit 1970 bereits mehr als 400 Menschen mit Hilfe der Bioenergiemethode untersucht worden. Ein Vergleich mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden wird angestrebt, um herauszufinden, ob sich die entsprechende Beurteilung auch hier bestätigt.
Das Veterans General Hospital hat auf der Grundlage des E.A.V. und des Ryodoraku sein eigenes Gerät entwickelt. Die Skala, urprünglich von Null bis Hundert gehend, wurde auf zweihundert erweitert und der Normalwert von 50 auf 100 verlegt. Chung Chieh hat eine Bezeichnug für die Bioenergie gefunden: "Ch'in". Das Veterans General Hospital nennt sein Gerät daher "Ch'in Meßgerät."
Im Augenblick ist die Bioenergie eine international noch nicht anerkannte Einheit. "Wir sollten unsere Forschungsergebnisse sobald wie möglich in internationalen Fachzeitschriften veröffentlichen, so daß 'Ch'in' international anerkannt werden kann", sagt Dr. Chung Chieh. " Nur auf diese Art und Weise können die Chinesen ihr verlorenes Gesicht zurückgewinnen."
Das Veterans General Hospital hofft, daß die Nutzung der Bioenergiemethode in Zukunft ein System zur Krankheitsdiagnose werden kann. Dr. Chung Chieh sagt: "Tumoren und Zellkrankheiten sind sich schrittweise entwickelnde Krankheiten, doch moderne medizinische Technologie, wie zum Beispiel Röntgen oder auch Computer-Diagnose, brauchen handfeste Krankheitssymptome um eine Diagnose zu erstellen. Die Überprüfung mit der Bioenergiemethode hingegen gibt bereits anhand einer Abweichung der Feldstärke im elektronischen Potential des Körpers Aufschluß über Schwäche oder Erkrankung eines Organs oder eines Systems."
Chung Chieh vergleicht einen Zigarettenstummel mit einem Krankheitsherd, der frühzeitig entdeckt und gleich darauf ausgelöscht, keinerlei Brandgefahr mehr darstellt. "Die Diagnose kann wesentlich früher gestellt werden und die notwendigen Abwehrmaßnahmen können früher getroffen werden. So kann vermieden werden, daß wir wie die westliche Medizin erst dann zur Stelle sind, wenn das Feuer bereits ausgebrochen ist."
Voll selbst war der erste, der diese Innovation nutzte. Obwohl er seit über 30 Jahren an Blasenkrebs leidet, ist er heute noch immer in einer sehr guten Verfassung. Sobald bei einer Überprüfung der Körperkonstitution eine zu schwache Spannung angezeigt wird, ist er überzeugt, daß der Krisenherd sofort behandelt werden muß.
Eine glänzende Zukunft scheint vorprogrammiert zu sein, doch in Wirklichkeit stehen der Bioenergiemethode noch viele Hindernisse im Weg. In vielen Ländern ist die Anerkennung durch die medizinischen Behörden auch noch äußerst zweifelhaft.
Das größte Problem ist, daß die Energiezirkulation, nicht wie Adern, Knochen und Nerven nachweisbar ist, führt immer wieder zu heftigen Diskussionen. Es wird gezweifelt, ob die Spannung an den Vitalpunkten des Körpers wirklich den Gesundheitszustand der menschlichen Organe repräsentieren kann.
Als die Bioenergiemethode vor einigen Jahren in Taiwan eingeführt wurde, waren Diskussionen unvermeidlich. Dr. Chung Chieh sagt, er befände sich in einer Zwickmühle.
"Die traditionellen chinesischen Mediziner behaupten, daß ich ihnen den Schleier des Mysteriösen weggezogen und somit ihr Geschäft geschädigt habe. Die westlichen Mediziner hingegen behaupten, daß meine Theorie weder 'Fleisch noch Fisch sei'. Obwohl sie aus der westlichen Medizin entstanden sei, hätte ich der Bioenergie ein Element des Mysteriösen hinzugefügt."
Die Gesundheitsbehörde enthält sich jeglicher Meinung. Sie drückt nur völliges Unverständnis aus und deutet an, daß die Bioenergiemethode noch einen weiten Weg zurückzulegen habe, bis sie zu einer alltäglichen Behandlungsmethode werden kann.
Der Leiter des Komitees für chinesische Medizin in der Gesundheitsbehörde, Chang Chi-hsien, ist der Meinung, daß das Vererans General Hospital in dieser unsicheren Situation kein Geschäft mit der Bioenergiemethode betreiben dürfe. Das vom Veterans General Hospital entwickelte Gerät ist allerdings bereits auf dem Markt erhältlich.
Auch in der Ambulanz der Akupunkturabteilung des Krankenhauses des Chinese Medical College gibt es ein solches Gerät. Es wird jedoch nicht zur Behandlung benutzt, sondern dient den Ärzten hauptsächlich um die Wirksamkeit von Medikamenten zu überprüfen.
Obwohl es viele Kontroversen um das E.A.V. gibt, sagt Chung Chieh: "Das Veterans General Hospital wird die Erforschung der Bioenergie nicht aufgeben." Seit sieben Jahren Arzt der inneren Medizin, hatte Chung Chieh vor 18 Jahren auf ein hohes Gehalt und eine sichere Position verzichtet, um in der zu dieser Zeit in Taiwan völlig unbekannten Luft- und Raumfahrtmedizin tätig zu werden. Wiederum sieben Jahre später wandte er sich der traditionellen chinesischen Medizin zu. Auf beiden Gebieten gleichermaßen bewandert, drückt er sein Empfinden wie folgt aus: "Moderne innere Medizin und Chirurgie bauen stark auf Chemie und verschiedene Behandlungsinstrumente auf, die in ihrer Anwendung sehr begrenzt sind. Zum Beispiel ist es für die moderne westliche Medizin sehr schwer, das Phänomen von Gallenentzündung mit Schmerzsymptomen im Schulterblatt oder von Herzmuskelentzündung mit Schmerzen im linken Arm zu verstehen. Daher müssen wir an der Verbesserung von Diagnose und Behandlung arbeiten. Bioenergie ist eine Methode." "Jeder glaubt nur das, was er sehen oder fühlen kann. In der Tat gibt es jedoch noch viele Dinge, von denen wir noch keine Ahnung haben." Auch die Gynäkologin, Dr. Ts'ui Chiu sagt, daß es in ihrer Praxis viele, für die westliche Medizin kaum erklärbare Fälle gibt, bei denen mit Hilfe von Akupunktur oder Akupressur die Schmerzen gelindert werden können.
"Angesichts solcher Tatsachen, werden Sie da nicht neugierig? Statt solche Dinge immer als Wunder zu betrachten, sollte man unverzüglich mit der Forschung beginnen," fordert sie.
(Deutsch von Angela Heise)