Händler und Reisende ziehen durch das Tor in die Stadt. Entlang der Hauptstraße befinden sich (von rechts) die Wache; ein Mann entläd vor einer Apotheke seinen Karren, während in der Apotheke Medizin verkauft und zubereitet wird; ein Gasthaus mit Stall; und eine auf Knochenfrakturen spezialisierte Klinik, zu der zwei Männern der Weg gewiesen wird. Rolle, Ch'ing Dynastie.
*"Eine Stadt in China" Photos mit freundlicher Genehmigung des Nationalen Palastmuseums.
Vor zweitausendfünfhundert Jahren konnte die Befolgung eines ärztlichen Rates gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen. Doch unter gewissen Umständen war es noch riskanter Arzt, denn Patient zu sein. Wen Chih (文摯), ein herausragender Arzt zur Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) ist diesbezüglich ein leuchtendes Beispiel.
Er wurde an den Königshof gerufen, um den König des Staates Ch'i zu behandeln, da andere Ärzte an der Heilung der den König entkräftenden Erkrankung bereits gescheitert waren. Unter den beunruhigten Blicken des Prinzen machte Wen Chih seine erste, äußerst vorsichtige Untersuchung. Anschließend teilte er dem Prinzen mit: "Die Krankheit Eures Vaters ist heilbar, doch die Heilung wird mir das Leben kosten." Überrascht, da die Heilung einer Krankheit den Ärzten stets fürstlich entlohnt wurde, ersuchte ihn der Prinz um genauere Erklärung.
Wen Chih antwortete: "Um den König zu heilen, muß er bis aufs Blut erzürnt werden, doch wenn ich das tue, so wird er mich mit Sicherheit hinrichten lassen." Der Prinz bat den Arzt inbrünstigst seinen Vater zu heilen und versprach bei seinem eigenen Leben, daß Wen Chih kein Haar gekrümmt würde. Der Arzt hatte keine andere Wahl, als dem zuzustimmen.
Wen Chih begann seine einzigartige Behandlung, indem er zu den nächsten drei Visiten beim König nicht erschien, um so in ihm die ersten Samen des Zornes zu säen. Als er dann endlich zur Visite antrat, stapfte er ehrfurchtslos und großen Schrittes in die königlichen Gemächer und über die Schlafstätte des Königs, ohne dabei seine Schuhe auszuziehen. Dann stellte er sich arrogant auf die seidenen Roben des Königs und schmähte in möglichst vulgärer Sprache und äußerst geringschätzigem Ton den König und dessen Ahnen.
Des Königs Gesicht wurde rot und immer röter, bis er plötzlich von seinem Bett aufsprang und mit einem Mal wieder fähig war, normal und kraftvoll zu sprechen. Unglücklicherweise verging sein Zorn nicht so schnell wie die Krankheit, sondern ganz im Gegenteil, wuchs immerzu. Genau wie es Wen Chih befürchtet hatte, ließ der König ihn aufhängen und bei lebendigem Leibe kochen. Auch der Prinz war nicht mehr in der Lage zu intervenieren.
In diesem Fall verkürzte das Konszept: "einer Krankheit die geeignete Behandlungsform gegenüberzustellen", eine vielversprechende medizinische Karriere. Doch glücklicherweise konnten chinesische Ärzte späterer Generationen auf kunstreichere Behandlungsmethoden zurückgreifen.
Die Wurzeln der chinesischen Medizin sind im klassischen Altertum sowie in prähistorischer Zeit zu finden. Aberglaube und allgemeine Furcht vor dem Unbekannten - verstärkt durch Naturphänomene, die jenseits der menschlichen Kontrolle liegen, wie Erdbeben, Flutkatastrophen und Krankheiten - bekräftigten den Glauben an Geister und beeinflußten den gesamten Lebensablauf.
Von Anbeginn der aufgezeichneten chinesischen Geschichte in der Shang Dynastie (16. bis 11. Jh. v. Chr.), bis hinein in das dritte vorchristliche Jahrhundert, blieb der Glaube an die Kräfte der Geister ein alle Aspekte des chinesischen Lebens durchdringendes Phänomen. So befragten zum Beispiel die Könige der Shang Dynastie vor jeder wichtigen Entscheidung das Orakel und opferten Menschenleben um die Geister günstig zu stimmen oder ihnen Freude zu bereiten.
Zu jener Zeit entwickelten sich die Praktiken der chinesischen Medizin in drei Phasen. Praktizierende Mediziner waren anfangs nichts anderes als Schamanen, die, dank ihrer Kraft, mit der Welt der Geister in Kontakt zu treten und diese auch oft kontrollieren zu können, sehr hohes Ansehen genossen. Langsam hoben sich einige ab, die das Schamanen-Heilen mit medizinischen Praktiken vereinten, die nicht auf Wahrsagerei, Beschwörung oder Gebet basierten. Diese hybride Form führte schließlich auch zur Trennung der Funktionen zwischen Geisterheilern und Medizinern, wenn auch durch die Jahrhunderte so manches abergläubische Element mit der Kunst des Heilens eng verbunden blieb.
In frühesten Zeiten wurde Krankheit als ein eigenständiges Phänomen angesehen, das sich von selbst des Körpers bemächtigt. Quellen aus der Shang Dynastie geben uns eine spezifische Nomenklatur für einige durchaus gewöhnliche Leiden, wie zum Beispiel Augenkrankheiten, von denen die Leute glaubten, daß sie die Folge von Verstößen gegen abergläubische Glaubensgrundsätze, wie etwa Kränkung der Geister der Ahnen wären.
Die Geisterheiler, im Chinesischen wu (巫) genannt, "heilten" eine Krankheit, indem sie die Geister der Ahnen oder ähnliche übernatürliche Kräfte beschworen, den Körper des Kranken zu verlassen". Wie in vielen anderen primitiven Kulturen quer durch die Menschheitsgeschichte, wurde der Geisterheiler auch in China, falls sich der Zustand des Patienten allmählich besserte, eher wegen seiner Fähigkeiten im Verkehr mit dem Überirdischen, als für spezifisch medizinische Fähigkeiten verehrt.
Selbst nachdem die Geisterheiler von Medizinern zuerst unterstützt und dann völlig durch diese ersetzt worden waren, blieb die Rolle der Geister in der Heilung von Krankheiten dennoch im Volksglauben sehr verbreitet. So finden wir zum Beispiel in den Analekten des Konfuzius eine Passage, derzufolge der Meister gesagt haben soll: "Unter den Völkern des Südens heißt es, daß jemand ohne Beharrlichkeit weder Geisterheiler , noch Mediziner sein kann." An anderer Stelle wird berichtet, daß als Konfuzius erkrankt war, sein Schüler Tzu Lu (子路) von den Geistern Fürbitte für ihn erbat.
Diese Beispiele zeigen, daß die Rolle des Geisterheilers und auch die Praktiken des Heilens neben formalem medizinischen Wissen, selbst bis in die Zeiten des Konfuzius (6. Jh. v. Chr.) akzeptiert wurden. Wie lange das Kompositum aus Geisterheiler und praktizierendem Arzt im frühen China in dieser Weise existierte, ist jedoch nach wie vor umstritten.
Der Legende zur Folge soll das früheste chinesische medizinische Wissen unter Shen Nung (神農, der Göttliche Ackerbauer) , einem der legendären weisen Herrscher Chinas, der seine Landsleute die Kunst des Ackerbaues gelehrt haben soll, vor ungefähr 5 000 Jahren ihren Ursprung haben. Als Teil seiner Forschungen kostete er alle Arten von Pflanzen, um so empirisch feststellen zu können, ob sie heilende Wirkung auf den Körper hätten. Im Laufe dieser Arbeit soll er sich an einem einzigen Tag etwa 70 mal vergiftet haben, es gelang ihm jedoch immer, das passende Gegengift zu finden. Frühe Holzdrucke und andere Abbildungen von Shen Nung zeugen sehr oft von dieser Großtat. Die Ergebnisse seiner Versuche wurden der Nachwelt tradiert und bilden, der Legende nach, den Grundstein des chinesischen medizinischen Wissens.
Die frühesten überlieferten Aufzeichnungen der Legenden um Shen Nung stammen aus einer Zeit von 1 500 Jahren nach den tatsächlichen Ereignissen. Es ist jedoch als archäologisches Faktum völlig unbestritten, daß sich in China zu der, den Legenden um Shen Nung entsprechenden Zeit, eine Agrargesellschaft entwickelte. Chinas erste Bauern mögen sehr wohl entdeckt haben, daß gewisse Pflanzen außer, daß sie zur Ernährung geeignet sind, auch noch andere Wirkungen auf den menschlichen Körper haben. So gibt etwa eine alte Quelle über eine Pflanze an, daß diese als Abführmittel wirke und auch bei gewissen Unpäßlichkeiten im Magenbereich Verwendung fände. Obwohl dieses medizinisch orientierte, botanische Wissen mehr auf langzeitigem und kollektivem Experimentieren beruht, so wird Shen Nung dennoch als der Ahnherr der chinesischen Medizin verehrt.
Wann auch immer der wahre Beginn der medizinischen Forschung anzusetzen ist, in der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. finden wir in der chinesischen Medizin bereits sehr klare Fortschritte. Die historischen Aufzeichnungen weisen darauf hin, daß zu jener Zeit kräutermedizinische Auszüge bereits verwendet wurden, wenn auch deren Feinabmischung noch nicht ausgefeilt war. Da gelegentlich auch giftige Kräuter benutzt wurden, verhielt sich das Volk der Verwendung dieser Medizinen gegenüber verständlicherweise noch relativ zögernd. Die Analekten des Konfuzius berichten, daß Konfuzius einmal ein medizinischer Trunk zur Heilung einer Krankheit angeboten wurde, er die Einnahme dessen jedoch mit der Begründung, daß er nicht wisse, was der Trunk beinhalte, ablehnte. Das Buch der Riten, eine andere Quelle aus jener Zeit, erwähnt ähnliche Reserviertheit: "Wenn der Prinz Medizin zu nehmen hat, so kostet sie zuvor sein Vasall. Wenn ein Elternteil Medizin zu nehmen hat, so kostet sie zuvor der Sohn." Der Text fährt fort mit der Warnung, daß man keine Medizin von Ärzten einnehmen solle, deren Familie nicht schon seit mindestens drei Generationen praktiziert. Dies deutet darauf hin, daß es aufgrund falscher Anwendung der Medizin nicht selten zu Vergiftungen kam und daß der Umgang mit medizinischen Essenzen unter Umständen eher als zusätzliches Hilfsmittel für Geisterheiler, denn als unabhängige Heilungsmethode Verwendung fand.
Der spätere Teil der Östlichen Chou Dynastie, bekannt als die Zeit der Streitenden Reiche, war die philosophisch reichhaltigste Epoche der frühen chinesischen Geistesgeschichte. Wirtschaftliches Wachstum und die wettstreitenden Philosophenschulen fielen zeitlich mit den beeindruckenden Fortschritten auf dem Gebiet des medizinischen Wissens zusammen. Die althergebrachten Glaubensvorstellungen brachen zusammen, als zur Zeit der Streitenden Reiche die Könige der Chou Dynastie sowohl ihre weltliche als auch religiöse Autorität einbüßten. Das Volk verlor sein Vertrauen in den alten Aberglauben und legte ihn letztlich ab. Dieses Phänomen, gemeinsam mit dem Fortschritt im medizinischen Wissensbereich, führte zu einer saubereren Trennung zwischen Geisterheilern und Medizinern, wobei erstere deutlich an Macht einbüßten.
Nach den Chou Li (周禮, Riten der Chou Dynastie), einem Text aus der Zeit der Streitenden Reiche, wurden vier Kategorien von Ärzten offiziell unter der Kontrolle eines für medizinische Angelegenheiten zuständigen Amts eingesetzt: Doktor der internen Medizin; Wundarzt, der sich mit dem Aufschneiden von Furunkeln, anderen Geschwüren und äußeren Verletzungen beschäftigte; Doktor der Ernährungskunde und Doktor jenes Teilgebietes der Pharmakologie, das sich ausschließlich der aus dem Tierreich gewonnenen Drogen bedient.
Ein Landarzt bei der Arbeit. Moxabustion, wie auf diesem aus der Sung Dynastie von Li T'ang geschaffenen Gemälde gezeigt, war eine schmerzhafte Behandlungsweise.
Zu dieser Zeit waren die Grundlagen sowohl der Diagnose, als auch der Behandlung genau festgelegt. In den Historischen Aufzeichnungen, einem Werk aus der Han Dynastie, berichtet der Autor Ssu-Ma Ch'ien, daß den Ärzten der Zeit der Streitenden Reiche eine stattliche Zahl an Diagnosetechniken zur Verfügung stand. Diese Diagnosetechniken teilen sich in vier Kategorien: visuelle Beobachtung von Gesichtsfarbe und Ausdruck des Patienten; auditive Beobachtung des Hustens und der Stimmqualität; Befragung des Patienten über Krankheitsgeschichte und Pulsdiagnose. Sie bildeten die Grundlehre der chinesischen medizinischen Diagnostik und sind bis heute in Verwendung.
Auch begann man mit einer Standardisierung der Behandlungsmethoden. Neben der Kräuterbehandlung waren auch Akupunktur, Massage, Moxabustion (eine Art von Konterirritation) , Kompressen und etliche chirurgische Techniken weit verbreitet. Der zum Verständnis früher chinesischer Medizin wahrscheinlich wichtigste Fund ist eine, auf einer langen Seidenrolle geschriebene medizinische Abhandlung, die erst kürzlich in der aus der Han Dynastie stammenden Grabstätte Ma Wang Tui (馬王堆) in Ch'ang-sha, in der Provinz Hunan, entdeckt wurde. Von den Archäologen in die Zeit der Streitenden Reiche datiert, stellt dieser Fund bis dato die älteste uns bekannte medizinische Abhandlung dar. Diese Abhandlung listet die Namen von über 100 verschiedenen Krankheiten auf und zeigt für mindestens 52 davon ein oder zwei Behandlungsweisen an. In einzelnen Fällen werden bis zu zwanzig Arzneimittel für ein spezifisches Leiden angegeben. Summa summarum werden fast 300 verschiedene Behandlungstechniken, in denen 240 verschiedene Drogen verwendet werden, vorgestellt.
Die Seidenrolle beinhaltet außerdem mehr als 40 Farbabbildungen von Körperhaltungen, die teils zur Behandlung, teils zur Prävention von Krankheiten dienen. Manche sind nach der Krankheit, die sie heilen, benannt, andere wiederum erhielten ihren Namen dem Erscheinungsbild der Körperhaltung entsprechend. Beides verweist auf die Tatsache, daß China bereits vor Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends über einen standardisierten Korpus an medizinischem Wissen verfügte, und daß Krankheit zu jener Zeit nicht ausschließlich als etwas Übernatürliches angesehen wurde, sondern vielmehr als ein Phänomen mit bestimmten Ursachen und Heilungsmethoden.
Sowohl die Namen, als auch die Behandlungstechniken einiger berühmter Ärzte der Zeit der Streitenden Reiche wurden in verschiedenen Texten tradiert. Der erste und herausragendste all dieser Ärzte war Pien Ch'üeh (扁鵲), dessen Biographie in Ssu-Ma Ch'iens Historischen Aufzeichnungen nachzulesen ist. Pien Ch'üeh wurde als Meister der Diagnose, speziell für seine Entwicklung der Pulsdiagnose, geschätzt. Er trug auch insofern zum Fortschritt der chinesischen Medizin bei, als er der erste war, der in seinen Rezepturen verschiedene Kräuter mischte und ihre Wirkungen kombinierte. Er war zu Lebzeiten so berühmt, daß noch lange nach seinem Tod medizinische Abhandlungen unter seinem Namen geschrieben wurden, um so die Glaubwürdigkeit jener Schriften zu erhöhen.
In den Historischen Aufzeichnungen lesen wir folgende Begebenheit: Als Pien Ch'üeh durch den Staat Ch'i reiste, wurde er als Ehrengast behandelt. Während seiner Audienz beim Herrscher sagte er: "Eure Exzellenz leiden an einer Erkrankung auf dem Niveau des Fleisches. Falls sie nicht geheilt wird, so wird sie tiefer vordringen."
Der König antwortete: "Ich leide an keiner Krankheit", und nachdem Pien Ch 'üeh gegangen war, sagte der König zu seinen Beratern: "Dieser Doktor versteht wirklich sein Handwerk. Er erhofft sich Anerkennung für die Behandlung eines Gesunden."
Nach fünf Tagen hatte Pien Ch'üeh eine weitere Audienz beim König und sagte: "Eure Exzellenz leiden an einer Erkrankung auf dem Niveau der Blutgefäße. Falls sie nicht geheilt wird, fürchte ich, daß sie noch tiefer vordringen wird." Wieder stritt der König jegliche Erkrankung ab und nachdem Pien Ch'üeh gegangen war, brachte er seinen Unmut über des Doktors Bemerkungen zum Ausdruck.
Nach weiteren fünf Tagen hatte Pien Ch'üeh wieder eine Audienz beim König, bei der er sagte: "Eure Exzellenz leiden an einer Erkrankung auf dem Niveau des Verdauungsapparates. Falls sie nicht geheilt wird, so wird sie tiefer vordringen." Diesmal ließ sich der König nicht einmal mehr zu einer Antwort herab.
Als Pien Ch'üeh nach weiteren fünf Tagen wieder eine Audienz beim König hatte, trat er ein, warf einen einzigen Blick auf den Herrscher und ging sofort wieder. Der über diese Reaktion überraschte Herrscher schickte einen Boten aus, um deren Ursache zu ergründen. Pien Ch'üeh sagte zum Boten: "Wenn eine Krankheit auf dem Niveau des Fleisches sitzt, so kann sie mit Kräuterpräparaten behandelt werden. Wenn sie auf dem Niveau der Blutgefäße sitzt, so kann sie mit Akupunktur geheilt werden. Im Verdauungstrakt sind Kräutermischungen auf Basis verschiedener Alkohole wirksam. Sitzt sie jedoch einmal im Knochenmark, so ist sogar der Schicksalsgott, der Gebieter über Leben und Tod, machtlos. Da nun des Königs Krankheit bereits im Knochenmark sitzt, erbittet Seiner Exzellenz bescheidener Diener keine Audienz mehr."
Nach weiteren fünf Tagen erkrankte der Herrscher sehr schwer und Vasallen wurden ausgeschickt, um Pien Ch 'üeh kommen zu lassen. Pien Ch'üeh jedoch, der wußte, daß es für den Herrscher keinerlei Hoffnung mehr gab, hatte das Land bereits verlassen. Kurz darauf verstarb der Herrscher.
Ungeachtet der ihm zugeschriebenen außergewöhnlichen Kräfte, hatte Pien Ch'üeh selbst einen überraschend praktischen Zugang zur Heilung von Krankheiten. Er sagte, daß es eine große Anzahl an Krankheiten gebe, und die Fähigkeit der Ärzte, Krankheiten zu heilen, beschränkt sei. Er zählte auch eine Reihe von Voraussetzungen auf, unter denen die Heilung noch zusätzlich erschwert werde, wie etwa unmäßiger Lebenswandel und mehr Vertrauen in Geisterheiler als in Ärzte. Es ist offensichtlich, daß zu Pien Ch'üehs Lebzeiten der alte Aberglaube einer rationaleren Auffassung des Phänomens Krankheit Platz machte.
Nach mehr als einem Jahrtausend des Krieges und Streites wurde China unter der Ch'in Dynastie (221 bis 207 v. Chr.) vereint. Obwohl von kurzer Lebensdauer, so zwang Ch'in Shih Huang-Ti - der erste Kaiser - die vormals streitenden Staaten durch harte Maßnahmen und drakonische Gesetzgebung zur Einheit. Vereinheitlichung des Währungssystems, der Gewichts- und Maßeinheiten, sowie die Standardisierung der Schriftzeichen waren die sichtbaren Ergebnisse. Die chinesische Medizin erfuhr jedoch erst mit Gründung der Han Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) eine bedeutende Weiterentwicklung.
Die lange Periode des medizinischen Experimentierens vor der Han Dynastie brachte eine breite Basis praktischer Erfahrung, auf der die Gelehrten der Han Dynastie allgemeinere Werke aufbauen konnten. Einer der bedeutendsten frühen medizinischen Texte ist das Huang Ti Nei Ching (黃帝內經) oder Des Gelben Kaisers klassisches Werk über die interne Medizin, allgemeiner bekannt unter seinem Kurztitel als das Nei Ching.
Das Nei Ching wurde so benannt, da ein Teil des Werkes in Form von Fragen des Huang Ti (Gelber Kaiser), einem legendären chinesischen Kaiser, der im fünften vorchristlichen Jahrtausend gelebt haben soll, an einen, der Ausübung medizinischer Tätigkeiten wohlversierten Beamten, gehalten ist. Philologische Forschungen an seinem literarischen Stil ergaben jedoch, daß es sich bei diesem Werk um eine Kompilation verschiedener Autoren aus der Zeit der Streitenden Reiche, sowie der Ch'in und Han Dynastie handelt. Man nimmt an, daß es etwas später als die oben besprochene, aus der Grabstätte Ma Wang Tui stammende Seidenrolle entstanden ist.
Selbst wenn das Nei Ching nicht das älteste Werk über chinesische Medizin darstellt, so ist es doch zweifelsohne das historisch bedeutendste. Das Werk teilt sich in zwei Abschnitte, deren erster sich mit Gebieten wie medizinischer Anatomie, Physiologie, Pathologie und Diagnostik auseinandersetzt, während Akupunktur im Mittelpunkt des zweiten Teiles steht. Das gesamte Werk ist eine gesammelte Darstellung des experimentellen, physiologischen und theoretischen Wissens auf dem Gebiete der chinesischen Medizin zu jener Zeit.
Teile daraus mögen aus taoistischen Ausführungen über die Grundprinzipien Yin und Yang, sowie über die Fünf Wandlungszustände, auch Fünf Elemente genannt, die ihre tiefen Wurzeln im klassischen chinesischen Denken haben, entnommen sein. Das Prinzip der Fünf Elemente, wie es in der chinesischen Medizin gebraucht wird, verwendet den Symbolismus der Elemente Feuer, Erde, Metall, Wasser und Holz zur Erklärung des Wirkens und der Interaktion zwischen dem menschlichen Körper und den Phänomena der Natur. Diese theoretische Verbindung zwischen den makrokosmischen Kräften des Universums und den mikrokosmischen Kräften, die in jedem menschlichen Wesen in Erscheinung treten, zieht sich quer durch die Geschichte der chinesischen Medizin. Viele der späteren Werke über chinesische Medizin, teils bis in die Gegenwart hinein, sind in Wahrheit Kommentare oder klinische Anwendungshinweise zu dem im Nei Ching dargebotenen Material.
Ein ebenfalls sehr bedeutender früher medizinischer Text wurde in der Östlichen Han Dynastie von dem bekannten Arzt Chang Chung-ching (張仲景), auch unter dem Namen Chang Chi (張機) bekannt, verfaßt. Er gilt als der Hippokrates der chinesischen Medizin. Man nimmt an, daß das Originalwerk, das Shang Han Tsa Ping Lun (傷寒雜病論), ursprünglich aus sechzehn Bänden bestanden hat. Das Werk wurde später aufgeteilt in zehn Bände, die den Titel Shan Han Lun tragen und weitere sechs Bände, die Chin Kuei Yao Lüeh, oder Die Synopsis der Goldenen Kammer benannt wurden. Erstere basieren auf den im Huang Ti Nei Ching festgelegten Grundlagen. Das Werk stellt Chinas erstes und verständlichstes Kompendium an Rezepturen auf Kräuterbasis dar und beinhaltet 22 Abhandlungen über Krankheiten, fast 400 Behandlungsregeln und 113 Rezepturen.
Chang achtete bei der Verwendung von Kräuterrezepturen besonders auf die pathologischen Bedingungen und eine differenzierte Diagnose, wobei er davon ausging, daß bereits geringfügige Veränderungen im Befinden des Patienten das Hinzufügen oder Weglassen gewisser Kräuter oder aber auch eine völlig neue Rezeptur nach sich ziehen können. Dies war ein großer Fortschritt gegenüber der Zeit der Streitenden Reiche, wo äußerliche Behandlungsformen internen vorgezogen worden waren und Rezepturen in Bezug auf Pathologie und Diagnose recht unspezifisch erfolgten.
Changs Shang Han Lun benannte jede Rezeptur mit eigenem Namen und gab die Menge jedes zu verwendenden Krautes, sowie Zubereitungsart und Verabreichungsmengen an. Dies legte den Grundstein für Medizinrezepturen in China, von denen viele auch heute noch in Gebrauch sind.
Weitere berühmte Ärzte zur Zeit der Han Dynastie waren Ch'un Yü I (淳于意) und Hua T'o (華陀). Ch'un Yü I, auch bekannt unter seinem Beinamen T'ai Ts'ang Kung, lebte zu Beginn der Han Dynastie und war ursprünglich ein Staatsbeamter, der von früher Jugend an jedoch großes Interesse an medizinischen Studien entwickelt hatte. Nachdem er unter mehreren bekannten Meistern studiert hatte, wurde er Schüler des großen Arztes Yang Ch'ing (陽慶), der ihn viele, anderen Zeitgenossen unbekannte Techniken und Rezepturen lehrte. Seiner Biographie in den Historischen Aufzeichnungen zufolge soll er im vierten Jahr der Regierungszeit des Kaisers Wen der Han Dynastie (176 v. Chr.) nach verleumderischer Anklage, die von neidischen Beamten ausging, wegen Verweigerung der Krankenbehandlung an einigen Mitgliedern des Kaiserhauses arrestiert worden sein. Als Bestrafung war damals für derartige Vergehen physische Verstümmlung, wie Abschneiden der Nase, Gesichtstätowierungen und Kastration vorgesehen. Als er von seiner Heimatstadt in die Hauptstadt gebracht wurde, um dort Gerichtsverfahren und Bestrafung zu erwarten, beklagte er sein Schicksal, nur fünf Töchter, aber keinen Sohn zu haben, der Berufung gegen den schweren Justizirrtum hätte einlegen können.
Als seine jüngste Tochter dies vernahm, entschloß sie sich, ihren Vater in die Hauptstadt zu begleiten, und nachdem er eingekerkert wurde, um seine Strafe zu erwarten, verfaßte sie eine Throneingabe an den Kaiser, in der sie sich mit dem Argument, daß selbst Besserungswillige ihr ganzes restliches Leben durch die Verstümmlung stark gezeichnet seien, gegen die Grausamkeit der Bestrafung aussprach. Des weiteren bot sie an, im Austausch gegen ihren Vater, selbst als Dienerin in den Kaiserlichen Palast einzutreten. Der Kaiser war von ihrem Gesuch so gerührt, daß er ihren Vater begnadigte.
Ch'un kehrte mit seiner Tochter in seine Heimatprovinz Shantung zurück und widmete sich dort der Behandlung der Landbevölkerung und vermied jegliche weitere offizielle Anstellung. Er zeichnete Personennamen, geographische Orte des Auftretens, Bezeichnung der Krankheit, Diagnose, sowie Behandlungsart für all seine Patienten in einem leider verlorengegangenen Buch genau auf. Teilausschnitte seines Werkes jedoch sind in seiner Biographie in den Historischen Aufzeichnungen zu finden, zumal Ch'un nach zehnjährigem selbsterwählten Exil zu einer Audienz an den Hof gerufen wurde. Der Kaiser stellte dem Arzt mehrere medizinische Fragen, zum Beispiel, warum er eine gleichnamige Krankheit bei verschiedenen Patienten verschieden behandle. Ch'un antwortete, daß ein mittelmäßiger Arzt manche Krankheiten, welche im Erscheinungsbild sehr ähnlich sind, unter ein und derselben Bezeichnung klassifiziert, daß sie in Wahrheit jedoch unterschiedlich seien, und nur eine auf die individuellen Umstände des Patienten ausgerichtete Diagnose zu einer richtigen Behandlung führen könne. Nach Ch'un Yü Is Lebzeiten wurde die Aufzeichnung klinischer Krankengeschichten bis in die Sung Dynastie nicht weiter betrieben, seit der Sung Dynastie jedoch bis in die Gegenwart hinein wird diese Methode wieder eifrig praktiziert.
Der Name Hua T'o ist in China jedem Kind ein Begriff. In dem aus der Ming Dynastie stammenden Roman der Drei Königreiche, der die Vorgänge in und um die Zeit der Drei Reiche (220 bis 265) zum Inhalt hat, wurde ihm ein ewiges Andenken beschert. Diesem Roman zur Folge, soll Ts'ao Ts'ao (曹操), ein ehemaliger Kanzler der Han Dynastie, der der königlichen Familie einiges an Macht abgerungen hatte, unter sehr starken Kopfschmerzen gelitten haben. Hua T'o wurde an den Hof gerufen, um seine Diagnose zu stellen und ihn zu behandeln. Hua T'o vermeinte, daß eine Gehirnoperation, je früher desto besser, notwendig sei. Ts'ao Ts'ao sah darin einen neuerlichen Anschlag auf sein Leben von Getreuen der Han Dynastie und ließ Hua T'o hinrichten. In ihrem Kummer und Schmerz verbrannten Hua T'os Hinterbliebene all seine Bücher und Notizen über seine chirurgischen Techniken, um somit den Ärzten späterer Generationen ein gleichartiges Schicksal zu ersparen. Nach dem Verlust dieser Wissensquelle, blieben in der chinesische Medizin über lange Zeit hindurch weitere Entdeckungen und Entwicklungen auf dem Gebiete der Chirurgie aus.
Wie in vielen anderen historischen Romanen, sind auch in diesem Fall die Personennamen, Daten und Ortsnamen weitgehend authentisch, nur geringfügige Details der Handlung sind frei erfunden. Den historischen Quellen nach soll Hua T'o ungefähr zu Beginn des dritten Jahrhunderts geboren sein. Als hervorragender Mediziner, spezialisiert auf chirurgische Techniken und Anwendung von Narkotika, lehnte er mehrmals offizielle Beamtenwürden ab und zog es vor, sich seiner Arztpraxis zu widmen. Wie im Roman beschrieben, ersuchte ihn Ts'ao Ts'ao, der von Hua T'os Fähigkeiten sehr angetan war und ihn mehrmals als Hofarzt anstellen wollte, tatsächlich um Behandlung, doch Hua T'o verweigerte dies mehrmals unter dem Vorwand, daß seine Frau erkrankt sei. Ts'ao Ts'ao schickte schließlich seine Männer aus, um der Sache auf den Grund zu gehen. Als sie herausfanden, daß Hua T'os Frau bei bester Gesundheit war, ließ der verärgerte Ts'ao Ts'ao den Arzt Hua T'o einkerkern und am Ende auch hinrichten.
Obwohl Hua T'o in Wahrheit keine Gehirnoperation für Ts'ao Ts'ao vorgeschlagen hat, war er tatsächlich Chirurg. Hua T'os Biographie in der Geschichte der Späten Han Dynastie beschreibt seine Technik der chirurgischen Eingriffe im Abdomenbereich unter Verwendung von Narkotika. Er bediente sich auch spezieller Arzneien zur Behandlung von Operationswunden, die, den Quellen zufolge, eine völlige Abheilung innerhalb eines Monats ermöglichten. Obwohl einige Skeptiker die Glaubwürdigkeit seiner chirurgischen Eingriffe, sowie die Verwendung von Narkotika zu so frühen Zeiten bezweifeln, so verleihen etliche historische Quellen diesen Behauptungen doch Stichhaltigkeit. Unglücklicherweise wurden Hua T'os grundlegende chirurgische Techniken nach seinem Tod nicht weitergeführt und bis noch vor wenigen Jahrzehnten existierten kaum weitere nennenswerte Aufzeichnungen aus dem chirurgischen Fachbereich.
Abgesehen von seiner chirurgischen Kunstfertigkeit ist Hua T'o noch als früher Verfechter der Präventivmedizin bekannt. Er sagte: "Der Körper benötigt physische Anstrengungen, die jedoch nicht exzessiv betrieben werden sollen. Körperliche Bewegung hilft dem Verdauungsapparat, stärkt den Kreislauf, in der Folge ist das Erkrankungsrisiko gemildert. Es verhält sich damit wie mit der Angel einer Tür (im alten China aus Holz), die durch dauernde Bewegung vor Vermorschung bewahrt bleibt." Hua T'o erstellte sogar eine Übungsfolge, die "Fünf Tier-Übungen", die Blut- und Energiekreislauf anregen und vor Erkrankungen schützen können. Die Serie beinhaltet fünf Übungsabläufe, die auf den Bewegungen von Tiger, Hirsch, Bär, Schimpanse und Vogel basieren. Hua T'o sagte: "Wenn man bei Unbehagen die Bewegungsart eines dieser fünf Tiere nachahmt, stellt sich alsbald das Gefühl von Wohlbefinden ein, die Gesichtsfarbe wird rosig und Transpiration setzt ein. Der Körper fühlt sich leicht und der Appetit wird stimuliert."
In den 700 Jahren, die auf das Ende der Han Dynastie (220 n. Chr.) folgten, entwickelte sich die chinesische Medizin in verschiedene Richtungen. Die medizinischen Praktiken der Prä-Han Epochen waren ihrer Natur nach in erster Linie praxisorientiert und auf Experimenten basierend, woraus sich Schritt für Schritt ein Korpus an medizinischem Wissen zusammenstellte. Während der Han Dynastie wurde dieses Wissen ausgebaut und niedergeschrieben, wobei ein fundierter theoretischer Unterbau der chinesischen Medizin erarbeitet wurde. In der Post-Han Periode, bis gegen Ende der T'ang Dynastie (618 bis 907 n. Chr.), wandte die chinesische Medizin wiederum ihr Hauptaugenmerk auf die Praxis, wobei die aus der Han Dynastie stammenden theoretischen Grundlagen ihre klinische Anwendung fanden. Als Ergebnis entstanden mit praktischer klinischer Erfahrung angereicherte Kommentare, Interpretationen und Erklärungen früherer Theorien.
Die chinesische Medizin jener Zeit wurde durch zunehmende Kontakte mit dem Ausland beeinflußt. Dies war speziell in der T'ang Dynastie der Fall, als über die Seidenstraße ein extensiver Austausch an Waren und Kulturwerten mit zentralasiatischen Städten bis hin nach Antiochia (heute: Antakya) und auch indirekt mit Rom stattfand. Die südliche Seidenstraße brachte einen starken Einfluß von Geisteswerten aus Indien, sowohl auf dem Gebiet des Buddhismus, als auch in Fragen der medizinischen Theorie.
Diagnose, Pathologie und Behandlungstechniken veränderten sich in jener Epoche sehr stark. Bedeutendster Vertreter zur Zeit des Wandlungprozesses in der frühen Post-Han Ära ist Wang Shu-ho (王叔和), der ungefähr 280 n. Chr. tätig war. Ursprünglich als kaiserlicher Hofarzt im Range eines Stabsoffiziers tätig, ist sein Hauptbeitrag zur chinesischen Medizin zweifacher Natur. Einerseits arrangierte er Chang Chung-chings Shang Han Lun in einer Form, daß es weiteren Generationen in intakter Form tradiert werden konnte, und andererseits, was bedeutend wichtiger ist, verfaßte er das Werk Das Klassische Buch über den Puls (脈經). Auf dem Material des Nei Ching basierend, bildet dieses Werk, bis in die Gegenwart hinein, die Grundlage aller chinesischer Bücher auf diesem Gebiet.
In seinem Werk beschreibt Wang Arten und Besonderheiten der 24 (später wurden es 28) unterscheidbaren Pulsarten, die er mit teils pittoresken Beschreibungen, wie den schlüpfrigen Puls, den fließenden Puls und den zähen Puls, versah.
Der zähe Puls zum Beispiel zeugt von behinderter Blut- und Energiezirkulation im Körper. Wang spezifizierte drei Positionen des Pulses am Handgelenk, die jeweils die Zustände verschiedener Körperorgane anzeigen. Zäher Puls in mittlerer Position (unter dem Mittelfinger) zum Beispiel zeugt von Problemen im Verdauungsapparat. Obwohl die Effizienz des Anlegens von Zeige-, Mittel- und Ringfinger an jener Stelle der Schlagader, wo sie in das Handgelenk übergeht, zur Diagnose der Körperorgane etwas unglaubwürdig erscheint, so haben doch moderne Forschungsergebnisse den Wert der chinesischen Pulsdiagnose bestätigt. Wie dem auch sei, es handelt sich dabei um die wohl am schwierigsten zu erlernende Methode der chinesischen Diagnosetechniken.
In der Post-Han Epoche nahmen aber sowohl die Anzahl, als auch die Verwendungsweisen der Herbaldrogen beträchtlich zu. Ein Kräuter-Kompendium aus der Han Zeit listet insgesamt 365 verschiedene Kräuter auf, in der T'ang Dynastie sind es bereits 850. Abgesehen davon wurde der therapeutische Wert jedes Heilkrautes spezifischer aufgefaßt, was eine bedeutende Weiterentwicklung darstellt, zumal chinesische Heilkräuter nicht krankheitsspezifisch klassifiziert werden, sondern nach ihren charakteristischen Wirkungen im Heilungsprozeß. Dem zu Folge kann ein einzelnes Heilkraut in Rezepturen gegen viele verschiedene Krankheiten eingesetzt werden. Durch das differenziertere Verstehen des Verhältnisses zwischen der einzelnen Droge und einer spezifischen Erkrankung, wurden auch die therapeutischen Ergebnisse zweifelsohne stark verbessert.
Die Ärzte der Post-Han Periode erhöhten auch die Anzahl der Rezepturen und der darin verwendeten Heilkräuter. Dies stellte sich jedoch nicht nur als Vorteil heraus, da es die Auswahl der richtigen Therapie beträchtlich erschwerte. In der T'ang Dynastie gab es zur Heilung einer Krankheit mehrere Rezepturen - manchmal ein Dutzend oder mehr - wobei sich jede Rezeptur wiederum aus vielerlei Heilkräutern zusammensetzte. Dies stand in deutlichem Gegensatz zu den Methoden Chang Chung-chings, der in seinem Werk Shang Han Lun zur Verwendung weniger Heilkräuter in jeder Rezeptur aufrief und dafür auch relativ spezifizierte Aussagen über deren therapeutische Anwendung machte.
Ein Arzt aus der T'ang Zeit, Hsü Yin-tsung (許引宗) kommentierte diese Tendenz des Verfassens von Rezepturen folgendermaßen: "Die Ärzte heutzutage differenzieren weder den Puls, noch erkennen sie die Ursache einer Erkrankung. Sie verordnen vielmehr nach Lust und Laune und kombinieren einfach mehrere verschiedene Heilkräuter zu einer Rezeptur. Das erscheint mir wie eine Hasenjagd, bei der niemand weiß, wo der Hase steckt und viele Jäger und Pferde losgeschickt werden, die das offene Feld umstellen, in der Hoffnung, daß doch einer durch Zufall über den Hasen stolpert."
Der Gelehrte Sun Ssu-miao aus der T'ang Dynastie war bekannt als der König der Medizin.
Nicht alle zur damaligen Zeit benutzten Heilkräuter stammten aus China. Historische Aufzeichnungen belegen, daß ein beträchtlicher Teil davon über die Südroute der Seidenstraße aus Indien kam. Während der T'ang Dynastie begannen Teile des indischen medizinischen Systems von Auruveda in chinesischen Werken über Medizin zu erscheinen. Ein Gelehrter der T'ang Dynastie, der 682 n. Chr. verstorbene Sun Ssu-miao (孫思邈), beschrieb das "Auruvedische Konzept" der vier Energien und die damit verbundene Pathologie folgendermaßen: "Der Mensch besteht aus den Energien Erde, Wasser, Feuer und Wind. Wenn die Feuer-Energie aus dem Gleichgewicht gerät, so fühlt sich der Körper bei Bewegungen fiebrig und heiß; ist die Wind-Energie aus dem Gleichgewicht, so wird der gesamte Körper starr und steif und die Poren der Haut verschließen sich; ist die Wasser-Energie aus dem Gleichgewicht, so schwillt der Körper an, die Atmung wird asthmatisch und schwer; ist die Erd-Energie aus dem Gleichgewicht, so werden die Glieder schwer und die Stimme ist ohne Kraft .... " Obwohl dies oberflächlich betrachtet dem chinesischen Konzept der Fünf Wandlungszustände sehr nahe kommt, unterscheidet sich diese theoretische indische Grundanschauung davon dennoch sehr. Daher wurde die indische Theorie der Medizin auch nicht ohne weiteres in die chinesische aufgenommen. Der Einfluß des Buddhismus auf das chinesische, religiöse und philosophische Denken in der T'ang Dynastie wären hier bedeutend besser zu belegen.
In der nächsten großen Dynastie, der Sung Dynastie (960 bis 1279), entwickelte sich die chinesische Medizin wieder auf allen Gebieten weiter. Nach mehr als fünfzig Jahren der Zersplitterung des chinesischen Reiches zur Zeit der Fünf Dynastien, schaffte das Kaiserhaus der Sung Dynastie die Konsolidierung seiner Macht. Das Ergebnis war in jeder Hinsicht, auch im Bereich der chinesischen Medizin, deutlich spürbar. Der erste Schritt war, alle bedeutenden medizinischen Werke von der Han Dynastie bis hinauf zur T'ang Dynastie zu sammeln, zu annotieren und neu aufzulegen. Von 981 bis 986 n. Chr. kompilierten Gelehrte unter kaiserlichem Befehl ein 1 000 bändiges Werk über Medizin. Das Heilkräuter-Kompendium wurde von 973 bis 1116 fünfmal überarbeitet. Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, gründete der kaiserliche Hof im Jahre 1057 ein eigens für die Herausgabe medizinischer Texte zuständiges Amt.
Auch die medizinische Praxis wurde standardisiert. Im Jahre 1026 wurde eine Bronzestatue, die die genaue Lokalisierung der Akupunkturpunkte angab, geschaffen, um so allen diesbezüglichen Kontroversen zumindest offiziell ein Ende zu setzen. Im Jahre 1064 wurde ein Standardwerk über Rezepturen im ganzen Land verteilt, wodurch sich die Verwirrung, die durch die bis zu zehn verschiedenen angewandten Zubereitungsarten für ein und dieselbe Rezeptur, je nach medizinischem Nachschlagewerk, reduziert werden konnte. Zu jener Zeit war die Konfusion bereits derartig schlimm, daß selbst Ärzte oft nicht mehr wußten, aus welchen Heilkräutern sich eine bestimmte Rezeptur zusammensetzte.
Im Jahre 1040 n. Chr. richtete der kaiserliche Hof eine seiner Kontrolle unterstehende Armenapotheke ein, die die Verteilung registrierter, weit verbreiteter Rezepturen zur Aufgabe hatte. Diese Rezepturen wurden in Form von Pillen, Puder und Salben an das gemeine Volk verkauft. Dieses Apothekensystem wurde bis 1102 auf sieben Verkaufsstellen erweitert und wuchs ständig weiter. Durch strenge Gesetze wurde deren Geschäftstätigkeit überwacht und Medikamente, die eine gewisse Zeit über im Regal gelegen hatten, mußten aussortiert und durch neue ersetzt werden; die Verteilung der Medikamente an Mittellose war für diese gratis. Wenn eine Apotheke in einem Notfall nicht imstande war, die benötigte Medizin zu offerieren, so wurde der zuständige Beamte mit 100 Hieben mit dem Bambusstab bestraft. Neben weiterer Standardisierung der Komponenten wichtiger Rezepturen, sowie der Qualität registrierter Rezepturen, erhöhte das Verteilungssystem via Apotheken auch die Staatseinnahmen und machte weiteren Kreisen des einfachen Volkes eine medizinische Behandlung zugänglich.
Durch den in der T'ang Dynastie erstmals verwandten Buchdruck wurde die Verbreitung medizinischen Fachwissens zusätzlich begünstigt und der Zugang zu offiziell und privat publizierten einschlägigen Werken bedeutend erleichtert. Eine Quelle aus jener Zeit listet fast sechshundert publizierte Werke auf. Ungeachtet dieser Verbreitung von gedruckten medizinischen Texten, ging die Tendenz in der Praxis in Richtung Vereinfachung und weg von jener Komplexität und Konfusion, die so charakteristisch für die ärztliche Kunst vor der Sung Zeit war.
Auf dem Gebiet der Diagnose wurde das von Wang Shu-ho in seinem Klassischen Buch vom Puls angelegte Konzept neu überarbeitet und als Text namens Die Grundlagen der Pulsdiagnose (脈訣) publiziert. Diese Überarbeitung diente einer großangelegten Vereinfachung des äußerst komplizierten Fachgebietes der Pulsdiagnose und war teilweise für dessen weitverbreitete Wiederentdeckung verantwortlich. Auch Diagnose und Behandlung von Frauen- und Kinderkrankheiten erlebten in der Sung Dynastie einen Aufschwung. Die medizinischen Werke jener Zeit geben klare Diagnosen und Behandlungsanweisungen gegen Pocken, Windpocken und Masern, wenn auch die Pockenbehandlung noch immer ineffektiv blieb.
Auch die Gerichtsmedizin hat ihre Wurzeln in der Sung Dynastie. Unter all den zu diesem Fachgebiet publizierten Werken, ist das 1247 von Sung T'zu (宋慈) geschriebene, das bedeutendste. Es gibt praktische Anweisungen zur Feststellung der Todesursache bei unnatürlichem Tod und beinhaltet sogar Angaben über Gegengifte bei Vergiftungen. Diese Arbeit war nicht nur das chinesische Standardwerk bis ans Ende des 19. Jahrhunderts, sondern wurde auch ins Russische, Koreanische, Englische, Japanische und in etliche andere Sprachen übersetzt.
Zur Zeit der Yüan Dynastie (1271 bis 1368) wurden beachtliche Fortschritte in der Entwicklung neuer Diagnosetechniken, sowie in der Aufteilung der Theorie der Medizin in verschiedene Schulen gemacht. Es ergaben sich zu jener Zeit dreizehn verschiedene medizinische Fachgebiete, verglichen mit neun in der Sung Dynastie. Zu den neuen Bereichen zählt als bedeutende Erweiterung das Fachgebiet des Knocheneinrenkens. Anstelle von Fixierung des verletzten Knochens oder des Gelenkes, verwendet die chinesische Technik zwar stützende, aber bewegliche Schienen, die den Heilungsprozeß durch geförderte Durchblutung des entsprechenden Bereichs beschleunigen. Des weiteren erlauben verschiedene äußere Applikationen, sowie eingenommene Medikamentationen schnelle und gründliche Heilung. Bis zum heutigen Tage wird diese Methode mit großem Erfolg praktiziert.
Zusätzlich zu den Kaiserlichen Medizinakademien, gründete die Yüan Dynastie in verschiedenen Präfekturen auch örtliche Medizinschulen und entwickelte dafür ein eigenes Prüfungssystem. Es wurde festgelegt, daß in den Schulen der Präfekturen alle drei Jahre einmal geprüft wurde und daß erfolgreiche Kandidaten, die auch das Provinzexamen bestanden hatten, in den verschiedenen Stellen des medizinischen Verwaltungsapparates eine Anstellung als Staatsbeamte finden sollten.
Bei der ärztlichen Kunst der Yüan Zeit wurde der Trend, weg von der Verwendung komplexer Rezepturen, fortgesetzt, und man verwandte einfachere und präzisere Methoden der Diagnose und der Behandlung. Besonders hervorgehoben wurde Chang Chung-chings aus der Han Zeit stammender Text über Zungendiagnose, wobei den verschiedenen Erscheinungen der Farbe, des Gewebes, der Form und des Belags Beachtung geschenkt wird. Ao Shih-tseng (敖氏曾), ein Arzt aus der Yüan Zeit, verfaßte einen medizinischen Text, der auch Abbildungen der zwölf wichtigsten in der klinischen Praxis auftretenden Zungentypen beinhaltet. Der in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts tätige Arzt Tu Pen (杜本) erweiterte Aos Werk durch Hinzufügung weiterer 24 Zungendiagnosen und deren farbiger Abbildungen. Diese Werke wurden die Standardtexte für Generationen von chinesischen Ärzten.
Auch die Technik der Akupunktur erfuhr während der Yüan Dynastie große Veränderung. Die Anzahl der für eine bestimmte Behandlung vorgeschriebenen Akupunkturpunkte variierte, insbesondere vor der Sung Dynastie, beträchtlich. Dieser Zustand war durchaus vergleichbar mit der Anzahl der für die Herstellung von Rezepturen benutzten Heilkräutern. Dies beeinträchtigte nicht bloß den Erfolg der medizinischen Behandlung, sondern stellte auch für die Patienten, die während der Therapie eine Unzahl an Nadeln erdulden mußten, ein traumatisches Erlebnis dar. Die Ärzte der Yüan Dynastie setzten das genaue Studium der Akupunktur, mit dem bereits in der Sung Dynastie begonnen worden war, fort und faßten die gewöhnlichsten Positionen der Akupunkturpunkte in lyrische Verse, um sie so leichter im Gedächtnis behalten zu können. Durch diese Methode konnte die Kombination von spezifischen Behandlungsformen leichter memorisiert werden und half den Ärzten Schwierigkeiten bei der Behandlung, wie sie ihre Vorgänger vor 500 Jahren noch hatten, als sie "darauf hofften, daß einer zufällig über einen Hasen stolpert", zu vermeiden.
Eine Fachrichtung der ärztlichen Kunst gelangte in der Yüan Dynastie zu voller Entwicklung und verlangt besondere Aufmerksamkeit - die Pathologie. Die "Vier Meister der Ch'in und Yüan", Liu Wan-su (劉完素), Li Kao (李杲), Chang Ts'ung-cheng (張從政) und Chu Chen-heng (朱震亨) leisteten jeder einen bedeutenden Beitrag zum Studium der Natur der Krankheiten, d.h. ihrer Ursachen, Verläufe und Folgen.
Diese vier Ärzte bereicherten auch die Komplexität der medizinischen Studien, da jeder von ihnen, unabhängig voneinander, eigene Theorien und Behandlungsweisen verfocht. Obwohl verschieden, so basierten sie doch alle auf anerkannten Theorien der Medizin und waren insgesammt in der Behandlung wirksam. Li Kao zum Beispiel war der Meinung, daß Gesundheit von dem richtigen Funktionieren des Verdauungsapparates abhängt und daß Erkrankung ein Ergebnis von Schwäche in der Verdauungsfunktion und der damit verbundenen Funktionen sei. Chang Ts'ung-cheng wiederum argumentierte, daß die äußeren Umwelteinflüsse (im heutigen Sinn des Wortes) die Hauptursache von Erkrankungen darstellten.
Jede dieser vier Schulen behandelte ihre Patienten gemäß ihren eigenen Prinzipien und jede erwies sich bei einer großen Anzahl von Krankheiten als wirkungsvoll. Spätere Ärzte wählten aus diesen vier verschiedenen Richtungen jeweils eine der sie folgten und oft stimulierten die wetteifernden Schulen sowohl das medizinische Denken als auch die Behandlungspraxis.
Die Herrschaft der Mongolen der Yüan Dynastie war nicht auf China beschränkt. Ihr Herrschaftsgebiet umfaßte weite Teile des europäischen und asiatischen Kontinents, islamitische Staaten in der südwestasiatischen arabischen Halbinsel mit eingeschlossen. Als Ergebnis dieser Kontakte gründete das Kaiserhaus der Yüan im Jahre 1270 ein Büro für moslemische Medizin, in dem in erster Linie moslemische Ärzte dem Kaiser und den höchsten Beamten zu Diensten standen. Im Jahre 1292 wurde in Peking eine moslemische Apotheke eingerichtet und eine weitere im Jahre 1322 in Shangtu, die die Herstellung traditioneller islamischer Pharmazeutika zur Aufgabe hatten. Dadurch wurden wiederum neue Heilkräuter in das chinesische Kräuter-Kompendium aufgenommen. Des weiteren wurden ausgewählte islamitische medizinische Werke ins Chinesische, sowie chinesische medizinische Werke in arabische Sprachen übersetzt. Dies stellte den ersten extensiven Austausch medizinischen Wissens zwischen China und dem Westen weit vor unserer Zeit dar.
Während der Ming Dynastie (1368-1644) und zu Beginn der Ch'ing Dynastie (1644-1911) machten die medizinischen Künste Chinas weitere beeindruckende Fortschritte. In der Ming Dynastie wurden vor allem die Studien der Infektionskrankheiten, der Epidemien, sowie die anatomischen Wissenschaften entscheidend vorangetrieben. Das Zusammentreffen von politischer Korruption mit dem Niedergang Chinas, Ende des 18. Jahrhunderts, sowie das beständige Eindringen westlicher Kultur und Wissenschaft, wirkten sich leider unheilvoll auf die traditionelle chinesische Medizin aus.
Die aus der Yüan Zeit stammenden verschiedenen Richtungen der chinesischen Medizin konnten bis in die Zeit der Ch'ing Dynastie weiter tradiert werden, verwickelten sich jedoch in immer stärker werdende Auseinandersetzungen, welche der Schulen "richtiger" sei. Eine dieser Schulen, die einen sehr starken Einfluß auf die Heilkunst ausübte, verlangte nach "Wiederbelebung des alten Wissens".
Diese Schule publizierte eine große Anzahl an Kommentaren, Annotationen und Interpretationen der klassischen Werke, wie des Nei Ching, und sie betrachteten alle, auch nur die geringste, in der Praxis oder in einem medizinischen Werk auftretende Abweichung von ihren Anschauungen der Heilkunst, als ketzerisch. Obwohl aus ihren Überarbeitungen alter Texte einige gute neue Kommentare entstanden sind, so hatte diese Schule mit ihren Ansichten dennoch einen Kreativität und Innovation erstickenden Effekt.
Während der Ming und Ch'ing Dynastien gab es etliche berühmte Ärzte. Der wahrscheinlich bedeutendste war der im 16. Jahrhundert wirkende Li Shih-chen (李時珍). Sowohl Lis Vater, als auch sein Großvater waren als Ärzte tätig und nachdem er in den zur Beamtenlaufbahn nötigen Examen dreimal nicht reüssiert hatte, nahm er zur Kenntnis, daß er vielleicht dazu berufen sei, in die Fußstapfen seiner Väter zu treten.
Li war nicht nur ein sehr kompetenter und beliebter Arzt, sondern auch ein innovativer Denker. Er kritisierte die abergläubischen alchemistischen Praktiken der Taoisten, die durch ihre unreflektierte Verwendung giftiger Quecksilberpräparate und anderer Arzneien zur "Erlangung der Unsterblichkeit", schon so manchem das Leben gekostet hatten. Er war auch einer der vehementesten Sprecher gegen die Ming-Ch'ing Schule, die sich auf die Klassiker eingeschworen hatte. Li argumentierte dagegen und sagte, daß viele der klassischen Werke schlecht gegliedert seien und es außerdem an Objektivität ermangeln ließen.
Lis größter Beitrag zur Weiterentwicklung der chinesischen Medizin war seine beeindruckende Überarbeitung des Heilkräuter-Kompendiums. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens mit Reisen durch ganz China, auf denen er Patienten behandelte und mehr als 800 Texte über Heilkräuter konsultierte sowie berühmte Ärzte aufsuchte, um mit ihnen ihre Erfahrungen in der medizinischen Behandlung zu diskutieren. Abgesehen davon, daß er die Verwendung jedes Heilkrauts aus erster Hand erforschte, legte er große Distanzen zurück, um die Wuchsorte der Pflanzen zu besuchen.
Das Ergebnis von Lis lebenslangen Bemühungen war ein umfassendes, 52 Bände starkes Werk (Herbarium Magnum), das 1 892 verschiedene Arzneien, die sich teils aus pflanzlichen, teils aus tierischen Ingredienzien zusammensetzen, auflistet. Drei Bände zeigen Lis eigene Farbabbildungen der Pflanzen. Auch gibt er zahlreiche Medikamentationen für jede einzelne Droge an. Das Werk übertrifft, sowohl vom Inhalt, Aufbau, als auch von der Genauigkeit her gesehen, alle vorhergehenden Herbal-Kompendia. Noch heute, fast 400 Jahre nach Lis Tod, ist es das Standardwerk im Bereich der chinesischen Pharmazie.
Chinas Kontakt mit dem Westen wuchs während der Ming und setzte sich in der Ch'ing Zeit weiter fort. Christliche Missionare, wie Matteo Ricci, der während der Ming Dynastie in China lebte und studierte, vermittelten den Ärzten am kaiserlichen Hof bedeutendes medizinisches Wissen. Da die Anwendung westlichen medizinischen Wissens, sowie seiner Techniken, den Kaisern und hohen Würdenträgern vorbehalten war, blieb die traditionelle chinesische Heilkunst bis ans Ende des 18. Jahrhunderts davon unbeeinflußt.
Eine Apotheke für chinesische Medizin in Taipei.
Das 19. Jahrhundert schwächte mehr und mehr die Strukturen der traditionellen chinesischen Gesellschaft und führte zum Niedergang vieler seiner althergebrachten Einrichtungen. Die chinesische Medizin, wie so viele andere Aspekte der traditionellen chinesischen Kultur, konnte dem Verfall des eigenen Systems und der Herausforderung durch den Westen nicht standhalten. In der Folge gab es Ende des 19. Jahrhunderts Bewegungen, die die traditionelle chinesische Medizin durch "fortschrittlichere" westliche Praktiken ersetzen wollten.
Erst in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts kam es zu einer Neubewertung der chinesischen Medizin. Ärzte aus Ost und West entdecken von Neuem die tiefe Einsicht und die potentiellen therapeutischen Werte der chinesischen Medizin. Dies, verbunden mit neuen Anwendungsbereichen, vermag die chinesische Medizin wohl von Neuem in die weltweiten Entwicklungen der Heilkunst zu integrieren.
(Deutsch von Stephan Schindl)