Die Einwohner Taiwans - sowohl die Eingeborenen als auch die Siedler, die aus den fruchtbaren Küstengebieten des Festlands stammen - hatten immer schon Glück mit der Nahrungsversorgung. Einzige Ausnahme hiervon war ein etwa zehn Jahre andauernder Engpaß unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, als die Wirtschaft sich von den Folgen der schweren Bombardierung und dem plötzlichen Zustrom von Chinesen, die vor den Kommunisten vom Festland geflohen waren, erholen mußte.
Heute jedoch, während die Menschen die Früchte des Wirtschaftswunders ernten, kommt doch verstärkt Sorge auf angesichts eines neuen Gebrechens, das mit dem Wohlstand Hand in Hand geht. Es ist ein neues Problem in China: Zu viele Menschen sind schlicht und einfach zu dick.
Im heutigen Taiwan ist Übergewicht kein Zustand, der Menschen mittleren oder fortgeschrittenen Alters vorbehalten ist. Es ist vielmehr ein Problem aller Altersgruppen, das besonders bei Kindern und Jugendlichen stetig anwächst. Eine 1983 von der Biochemie-Abteilung der Nationalen Taiwan Universität durchgeführte Studie ergab, daß etwa 15% der Kinder in Taiwans Grundschulen übergewichtig sind - ihr Gewicht also mindestens 20% über dem medizinisch ermittelten Idealgewicht liegt. Im Jahr 1987 ergab eine ähnliche Studie, daß die Zahl auf 25% für Jungen und 18% für Mädchen angestiegen war. Wirft man auch nur einen Blick auf die Schüler, die man tagtäglich "Fast Food" in sich hineinstopfend an den Bushaltestellen stehen sieht, verwundert es einen nicht, zu hören, daß das Problem immer größer wird.
Dr. Huang Po-chao (黃伯超) , Dekan der medizinischen Fakultät der Nationalen Taiwan Universität, schreibt diese Entwicklung den Veränderungen der Lebensgewohnheiten und der gesamten Gesellschaftsstruktur zu, die größerer Wohlstand mit sich bringt. Der rasante Ausbau der Städte hat den Lebensraum der Jugend eingeschränkt: Sie müssen bei ihrer Freizeitgestaltung auf große, offene Grünflächen verzichten, die der Generation ihrer Eltern noch zur Verfügung standen, als Taiwan noch ländlicher war als heute. Der Glas- und Zementwald, der in den vergangenen Jahrzehten emporgesprossen ist, zwingt die Kinder und Jugendlichen dazu, sich dem für das Leben in der Großstadt charakteristischen, eingeschränkten Bewegungsfreiraum anzupassen und sich Formen von Unterhaltung zuzuwenden, die sie physisch so wenig in Anspruch nehmen wie fernsehen und Computer- oder Videospiele spielen.
So begann es auch für den 12jährigen Hou Tzu-wen. "Es gibt keinen Ort, wo ich hingehen kann und zuhause gibt's auch nicht viel zu tun", sagt er. "Einen großen Teil meiner Freizeit verbringe ich vor dem Fernseher und meine Eltern haben immer einen Vorrat an Getränken, Süßigkeiten und Sachen zum Knabbern zuhause, damit ich nicht hungrig werde, bevor sie von der Arbeit nach Hause kommen."
Hous Gewicht begann anzuschwellen, als er in der ersten Klasse war. Mittlerweile wiegt er 83 Kilo. Weil der Fünftklässler nur etwas mehr als einen Meter fünfzig groß ist, liegt sein Gewicht 70% über dem Normalgewicht. Sein Problem ist charakteristisch für das vieler Kinder, die Opfer der raschen sozialen Veränderungen sind. Während die Kleinfamilie nach und nach die Großfamilie ersetzt, tauschen immer mehr Frauen den Platz am Herd gegen einen Arbeitsplatz ein. Dies wiederum heißt, daß die Kinder über längere Zeiträume allein gelassen werden - Zeiträume, die zu passiver Unterhaltung genutzt werden: fernzusehen und "Fast Food" zu essen. In den letzten zwei Jahren wurde die Situation auch dadurch verschärft, daß die Zahl der Kindesentführungen in den Großstädten dramatisch zunahm, und Eltern seitdem ihren Kindern davon abraten, unbeaufsichtigt draußen zu spielen.
Der nützliche Effekt von körperlichen Übungen wird durch das Erziehungssystem selbst beschnitten. Schon in sehr jungen Jahren beginnen Schüler damit, sich auf den harten Wettbewerb um die Aufnahme in Oberschulen und Universitäten vorzubereiten. "Der allzu volle Stundenplan und die täglichen Hausaufgaben lassen den Kindern wenig Freizeit, in der dann wiederum die Auswahl an Aktivitäten so begrenzt ist, daß kaum etwas anderes bleibt als fernzusehen", beklagt sich eine Großmutter. Ihre Sorge wird geschürt durch den Anblick ihres mehr als pummeligen 10jährigen Enkels, der die Waage bis zur 60-Kilo-Marke ausschlagen läßt, und somit 85% über seinem Idealgewicht liegt.
Sogar das Minimum an körperlicher Betätigung, Radfahren oder auch nur zu Fuß gehen, hat sich durch die Verstädterung Taiwans weiter reduziert. "Schüler waren früher daran gewöhnt, zu Fuß zu gehen. Heute nehmen sie den Bus, auch wenn die Schule nur wenige hundert Meter von ihrem Wohnort entfernt ist", sagt Huang von der Nationalen Taiwan Universität. Wegen der Verkehrsdichte in den Großstädten, insbesondere in Taipei, ist es außerordentlich gefährlich, mit dem Fahrrad zu fahren, und der Schritt zum eigenen Auto, sowie die große Anzahl und Erschwinglichkeit von Taxis hat die Tendenz zum "nicht laufen, sondern fahren" noch gefördert.
Während Schüler immer weniger Zeit für tägliche Leibesübungen aufwenden, hat der wachsende Wohlstand einen raschen Anstieg der täglichen Kalorienzufuhr mit sich gebracht - und das ist nicht auf einen erhöhten Konsum von Gemüse und Obst zurückzuführen. Statistiken, die der Rat für agrikulturelle Planung herausgegeben hat, zeigen, daß die tägliche Kalorienzufuhr pro Kopf in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist und 1988 schon bei 3017 Kalorien lag. Das ist mehr als das, was einem 25jährigen Mann (2750 kcal) oder 10- bis 12jährigen Kindern (2150 kcal) täglich empfohlen wird.
"Die Zufuhr von Kalorien ist angestiegen, während ihr Abbau abgenommen hat", sagt Huang und fügt hinzu, daß auch der Konsum von immer mehr fettigem Essen für eine Zunahme der Übergewichtigen verantwortlich ist. Inzwischen macht Fett 35% der aufgenommenen Kalorien aus, was nicht nur über der idealen Menge von 25%, sondern auch über der empfohlenen Höchstgrenze von 30% liegt.
20% - 50% - 85% über dem Idealgewicht. Das Problem ist bei Jungen größer als bei Mädchen und bereits bei Fünftklässlern besonders akut.
Die wachsende Beliebtheit europäischen und amerikanischen Essens hat das Problem noch vergrößert. Kinder und Erwachsene haben es sich zur Gewohnheit gemacht, auswärts in Lokalen wie denen von "McDonald's" oder "Kentucky Fried Chicken" zu essen. Eltern haben oftmals diesen Trend dadurch bestärkt, daß sie Ausflüge in Filialen solcher "Fast-Food"-Ketten ihren Kindern als Belohnungen anboten. Viele Eltern, die ganztags arbeiten, finden es auch einfach am bequemsten auf dem Weg nach Hause, nach einem langen Tag völlig übermüdet, einfach Hamburger oder Pizza für das Abendessen einzukaufen. Daß die Wahl sehr häufig auf Pizza mit Käsebelag fällt, zeigt eine Wandlung der Eßgewohnheiten auf. Milch und Milchprodukte wie Eiskrem, Käse usw. werden immer beliebter. Nach Tausenden von Jahren, in denen die Chinesen in jedem Teil des großen Reiches Milchprodukte mieden, werden diese plötzlich zum unentbehrlichen Bestandteil der Nahrung ganzer Familien.
Ernährungswissenschaftler weisen warnend darauf hin, daß wenn diese kulinarischen Lebensgewohnheiten nicht geändert werden, die Gesellschaft noch ganz anderen Problemen als dem des Übergewichts gegenüber stehen wird. Ein schlagartiger Anstieg an mit Übergewicht in Zusammenhang stehenden Krankheiten könnte eintreten. Abgesehen von medizinischen Problemen, leiden übergewichtige Kinder meistens auch unter Störungen im Gefühlsbereich und haben Schwierigkeiten beim Umgang mit anderen.
Die Einstellung der Eltern ist der Schlüssel zur Lösung des Problems. Erschwerend ist hierbei jedoch, so die Sozialarbeiterin Tina Hsieh (謝彩玉), die traditionelle Ansicht, daß "dicke Kinder nicht dick bleiben" (Hsiao shih hou p'ang pu shih p'ang 小時候胖不是胖).
Hsieh leitet seit sieben Jahren Gewichtsreduktionskurse am Taiwan Adventisten Krankenhaus und sie stellt besorgt fest, daß in den letzten Jahren immer mehr junge Menschen teilnehmen. "Ursprünglich waren die Kurse für Erwachsene gedacht, aber inzwischen sind ein Viertel der Teilnehmer Kinder und Jugendliche", sagt sie. "Übergewichtige Kinder haben ganz offenbar kein sehr großes Selbstbewußtsein. Sie sind ungeschickter und reagieren langsamer als Normalgewichtige. Je ungeschickter sie sind, desto weniger wollen sie sich bewegen, je weniger sie sich bewegen, desto mehr nehmen sie zu."
Es ist ein Teufelskreis. Die Sorge um die, die in ihm gefangenen sind, veranlaßte die "John Tung Stiftung" (董氏基金會) Kurse zum Abnehmen einzuführen. Die 1984 ins Leben gerufene uneigennützige Organisation machte die Öffentlichkeit zunächst durch eine Anti-Rauch-Kampagne auf sich aufmerksam. Da die Organisation sich allgemein um Wohlfahrt und Gesundheit kümmert, erweiterte sie bald ihr Tätigkeitsfeld und rief im Juli 1986 die ersten Kurse zur Gewichtsreduktion für Erwachsene ins Leben. Aber die Organisatoren erkannten schnell, daß Übergewicht ein zunehmend großes Problem bei Kindern im Grundschulalter darstellt, was wiederum zu der Besorgnis Anlaß gibt, die Betroffenen könnten gesundheitliche Langzeitschäden davontragen, wenn nicht zu einem frühen Zeitpunkt effektive Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
"Es ist bereits so, daß einige Kinder durch ihr Übergewicht in ihrem Wachstum eingeschränkt sind", sagt die Sozialarbeiterin Beryl Sheu (許惠玉). "Manche Kinder sind sogar gezwungen, breitbeinig zu laufen, um ein allzu starkes Aneinanderreiben ihrer Oberschenkel zu vermeiden."
Sheu hat bereits zwei Sommerkurse für Kinder organisiert. Die meisten Teilnehmer waren Fünftklässler und Jungen waren in der Mehrzahl. Obwohl die Kurse ursprünglich für Kinder mit 30% Übergewicht konzipiert waren, lag das Übergewicht der meisten Teilnehmer allerdings bei mehr als 50%. Medizinische Tests ergaben, daß ihr Blut wesentlich mehr Cholesterol enthielt, als das normalgewichtiger Kinder derselben Altersgruppe. Sheu sagt, daß diese Kinder anfälliger für Diabetes, erhöhten Blutdruck, Herz- und Kreislauferkrankungen und andere Gesundheitsschäden im späteren Leben sind.
Manche Ärzte zögern, übergewichtigen Kindern strikte Diäten zu verordnen, aus Angst diese könnten eine Beeinträchtigung ihres Wachstums zur Folge haben. Dr. Huang von der Nationalen Taiwan Universität ist jedoch anderer Ansicht: "Es ist schwierig genug, Kinder dazu zu kriegen, überhaupt ihre Eßgewohnheiten zu ändern und ihre Kalorienzufuhr zu reduzieren. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Maßnahmen ergriffen werden können, die tatsächlich so radikal sind, daß gesundheitliche Schäden zu befürchten sind."
Aber es sind nicht nur die Kinder selbst, die über Ernährung aufgeklärt werden müssen. Sheu hat oft erlebt, daß Eltern die Situation noch verschlimmern, indem sie ihre Kinder zu sehr verhätscheln. Obwohl es ihnen sehr am Herzen liegt, daß ihre Kinder abnehmen, müßten sie sich doch mehr dafür einsetzen, daß sie weniger essen und mehr Sport treiben. Als sie ihren ersten Sommerkurs unterrichtete, sah sie mit Entsetzen, daß Mütter ihren Kindern für die Mittagspause Hamburger und süße Limonaden mitgebracht hatten. Inzwischen verlangt sie von den Müttern bei jeder Sitzung anwesend zu sein, und unterrichtet sie auch darin, wie man Kalorien zählt und kalorienarme Gerichte zubereitet.
Die Sommerkurse der Tung-Stiftung finden inzwischen regelmäßig statt und zielen sowohl unmittelbar auf Gewichtsreduktion, als auch auf andere Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit ab. Unterrichtsgegenstände sind Ernährung, Eßgewohnheiten, soziale Interaktion, Leibesübungen und Familienkoordination. "Der Erfolg hängt von der Kooperation und der Ermutigung durch alle Familienmitglieder ab", sagt Sheu. "Aber das allerwichtigste ist und bleibt eben die Veränderung der Eßgewohnheiten."
Tina Hsieh vom Adventisten Krankenhaus hebt hervor, daß eine Verhaltensänderung auf breiter Basis notwendig ist und nicht nur die Übergewichtigen das richtige Konzept von Gesundheit und Fitness akzeptieren müssen. Obwohl die Öffentlichkeit sich ganz vage der Gefahren, die Übergewicht mit sich bringt, bewußt ist, haben manche Eltern das Problem zu langsam wahrgenommen. Und auch wenn sie medizinische Hilfe und Beratung suchen, gelingt es ihnen oft nicht, ihren Kindern wirklich zu helfen, wenn sie aufgeben wollen und mit ihrer Diät oder den Übungen aufhören, bevor ein wirklicher Erfolg zu verzeichnen ist.
Wenigstens werden die Sozialarbeiter von den Medien unterstützt. In "Familienglück", einer beliebten Fernsehserie, die das Alltagsleben in Taipei zum Thema hat, spielt ein übergewichtiges Kind eine wichtige Rolle. Die Darstellung der Schwierigkeiten, mit denen der Junge wegen seines Übergewichts zu kämpfen hat, vergrößert nicht nur das Problembewußtsein der Öffentlichkeit auf diesem Gebiet, sondern zeigt auch, daß Übergewicht zu einem echten Thema in der hiesigen Gesellschaft geworden ist. "Die Öffentlichkeit muß besser informiert werden", sagt Huang. Es steht schließlich auch nichts Geringeres als die Gesundheit der Allgemeinheit auf dem Spiel.
(Deutsch von Rina Goldenberg)