Felix M. Wiesner, der mich am Kilchberger Bahnhof abholt, ist denn auch kein an Profit interessierter Verleger, sondern Idealist. Dies wird im Verlauf des vierstündigen Gesprächs mit ihm klar. Überaus mitteilsam und gastfreundlich serviert er mir zu Kirschsaft, Snacks sowie unzählige Anekdoten. Die mit Büchern gespickte Dreizimmerwohnung bietet dafür einen würdigen Rahmen: Sie beherbergt in ihren Räumlichkeiten die Schätze des WAAGE-Verlages.
Nach und nach kristallisieren sich an diesem hochsommerlichen Samstagnachmittag folgende drei Charakteristika heraus:
* Die "Bibliothek chinesischer Romane" bildet den Eckpfeiler der WAAGE.
* Felix M. Wiesner bestreitet seinen Lebensunterhalt als Verlagsvertreter und betreibt das Herausgeben von Büchern aus Passion.
* Durch zwei mühsame und kostspielige Prozesse hat er eine Bresche für die Lesefreiheit in der Schweiz geschlagen.
Die erste Pionierleistung der "Bibliothek chinesischer Romane" besteht aus den sechs Bänden der DJIN PING MEH - Gesamtausgabe. Das Werk, an dem die deutschen Brüder Artur und Otto Kibat dreißig Jahre Übersetzungsarbeit geleistet haben, setzt sich aus 100 Kapiteln in 5 Textbänden plus einem Band Sacherläuterungen zusammen. Die mit 200 Holzschnitt-Illustrationen versehene, rund 3200 Dünndruckseiten umfassende Ausgabe ist ein Kultur- und Sittengemälde der Ming-Dynastie, deren anonymer Verfasser zu Recht als chinesischer Balzac um 1600 gilt. Das kolossale Werk besticht durch Realismus, Humor, konfuzianische Klarheit sowie durch buddhistische Ehrfurcht vor dem Detail und stellt ein gewaltiges Stück Weltliteratur dar.
Die zweite Pionierleistung der WAAGE ist gerade am Entstehen: Bereits hat Felix M. Wiesner Band 2 der PU SUNG LING - Gesamtausgabe publiziert. Neben "Umgang mit Chrysanthemen" und "Zwei Leben im Traum" wird dieses Werk am Schluß 5 Bände oder 500 Geister- und Liebesgeschichten umfassen. Der Übersetzer Gottfried Rösel hat neun Jahre daran gearbeitet, und sowohl die Buchumschläge als auch die Holzschnitt-Illustrationen sind wie immer in hervorragender Druckqualität wiedergegeben.
Neben diesen zwei verlegerischen Großtaten findet das sinophile Lesepublikum in der "Bibliothek chinesischer Romane" eine Reihe weiterer Perlen vor: Erwähnt seien hier nur noch LI JUTSCHENs mit "Gullivers Reisen" vergleichbare Satire "Im Land der Frauen", das "Mirimiringan" (siehe Besprechung) sowie "Die Juwelenpagode", ein alter Familien- und Liebesroman.
Wie aber kommt ein Europäer, noch dazu ein Schweizer, auf die Idee, chinesische Literatur zu verlegen? Und das alles als Ein-Mann-Unternehmen?
Die Antwort habe ich schon angedeutet, sie heißt Idealismus. Felix M. Wiesner hat sich via russische Philosophie und Indien an China herangetastet. Geistige Enge ist wohl ein Hauptgrund, warum sich der gebürtige Katholik immer weiter von seiner Heimat entfernt hat. Felix M. Wiesners Interesse an spirituellen Fragen wird nicht nur durch seine Vorliebe für Buddhismus und Taoismus belegt, sondern auch durch die Herausgabe der Taschenbuchreihe ESSENZ + EVIDENZ, die sich mit religionsphilosophischen Themen beschäftigt. (Autoren wie Dombrowski, Heitler, Illies, u.a.)
Kulturvermittlung und Horizonterweiterung sind jene zwei Anliegen, die das Verlagsprogramm entscheidend geprägt haben. Man beachte die Symbolik der Waage: Wo geistige Engstirnigkeit herrscht, da soll der kulturelle Grenzübertritt Freiräume schaffen helfen, die wiederum zu einem neuen Gleichgewicht beitragen können. Folglich richtet sich Felix M. Wiesners Hauptinteresse nicht auf den unserem Puritanismus (vgl. protestantische Ethik) ähnelnden Konfuzianismus, sondern auf die weniger dogmatischen Denkrichtungen buddhistischer und taoistischer Spielart.
Hinter dieser Suche nach Konfrontation mit den uns Europäern völlig fremden Denkweisen, vermute ich neben geistiger Toleranz als Grundlage v.a. Entdeckerfreuden - wohl nicht zu Unrecht ist der WAAGE-Verlag auch schon als "Kolumbusschiff zum unbekannten China" (Prof. D. Jost) bezeichnet worden. Genau hier, bei der Suche nach dem Neuen, dem Utopischen, tritt neben den Idealismus als Antriebsfeder aber auch die Gefahr der Idealisierung. Ich werde darauf zurückkommen.
Vorerst jedoch erstaunt mich die Tatsache, daß Felix M. Wiesner nie Chinesisch gelernt hat. Das heißt, er ist einerseits auf die Übersetzer bzw. Sinologen als Gutachter oder Experten angewiesen, und muß andererseits literarisches "Fingerspitzengefühl" besitzen, das ihn an die richtigen Texte heranführt. Vertrauen und Intuition, ja gar Vertrauen in die Intuition - hier offenbart der helvetische Verleger wahrhaftig chinesische Wesenszüge. Diese Qualität der Einfühlung kommt auch in der graphischen Gestaltung der Einbände und in der Auswahl von Illustrationen zur Geltung: Die lockende Nähe zur Chinoiserie wird durch Konzeption und Substanz sowie durch die Ausführung immer deutlich vermieden.
Unter den publizierten Werken in der "Bibliothek chinesischer Romane" finden die Leser auch Erotika wie das JOU PU TUAN oder das DSCHU-LIN YA-SCHI. Womit wir bei den Prozessen wären, die den WAAGE-Verlag praktisch von der Gründung an "treu" begleiteten und die ihn im deutschen Sprachraum berühmt gemacht haben.
Von 1959 bis 1961 versuchte Felix M. Wiesner, die schweizerischen Instanzen von der literarischen Qualität des JOU PU TUAN (zu deutsch etwa: "Andachtsmatte aus Fleisch") zu überzeugen - vergeblich: Fast die gesamte Auflage im Werte von ca. 80 000 Franken wurde konfisziert und nach dem negativen Bundesgerichtsurteil 1961 verbrannt. Weder die eindeutig moralisierende Tendenz noch der spirituelle Hintergrund des Buches vermochten die Richter von ihrem Verdikt abzuhalten: Statt Weltliteratur sahen sie im JOU PU TUAN einzig und allein Pornographie.
Nicht genug damit: Zehn Jahre später ließ die Bundesanwaltschaft 500 Exemplare des DSCHU-LI YA-SCHI an der schweizer Grenze beschlagnahmen, der zweite Prozeß konnte beginnen! Doch die Zeichen der Zeit hatten sich gewandelt, denn 1974 gewann Felix M. Wiesner vor dem Bundesgericht, der letzten und höchsten Instanz helvetischer Rechtsprechung.
Daß die jahrelangen Prozesse viel Geld und Energie verschlungen haben, müßte gar nicht speziell erwähnt werden. Felix M. Wiesner gerät denn auch in Fahrt, als er von seinen letztlich erfolgreichen Kämpfen gegen die Zensur erzählt. Gleichzeitig geht aus seinen Aussagen hervor, daß die chinesischen Sittenromane seine besondere Sympathie genießen: Immer wieder betont der WAAG E-Verleger den scharfen Kontrast, den er zwischen chinesischer und abendländischer Auffassung von Moral und Erotik ausgemacht hat. In den oben erwähnten Werken scheint den urmenschlichen Bedürfnissen - sprich: Trieben - viel größerer Freiraum gewährt zu werden als in unseren Breitengraden. Die Erotika führen mich nun zum Thema "Idealisierung" zurück.
Vergleiche ich nämlich das Ausmaß an sittlicher Toleranz in Ost und West, so komme ich nicht darum herum, in China eine weitgehend vom Konfuzianismus geprägte Moral konstatieren zu müssen - und diese ist wohl von unserem "Puritanismus" katholischer oder protestantischer Prägung kaum zu unterscheiden. (Die Auswirkungen der "sexuellen Revolution" im Westen seien hier einmal beiseite gelassen!)
Hinter der Wahrnehmung Chinas als Hort sinnlicher Liberalität steckt wohl dasselbe wie hinter jeder Idealisierung: Mehr Wunschdenken denn reale Erfahrung. Und die Hoffnung auf das Andere, Andersartige einer fremden Kultur ist in Europa spätestens seit Voltaire zur intellektuellen Tradition geworden; Stichwort: China als Utopie. Erst die Überwindung dieser "positiven Vorurteile" (Idealisierung) jedoch bringt uns näher an die Realitäten fremder Kulturen heran.
Aber im Hinblick auf die Gültigkeit des WAAGE-Symbols traue ich Verleger Wiesner selbstverständlich zu, einen tatsächlichen Ausgleich zwischen Ost und West anstreben zu wollen, d.h.: die Kritik an der eigenen Kultur und die Hinwendung zum fremden Kulturgut in einem wechselseitigen Prozeß sowie im Bestreben nach Harmonie immer wieder zu hinterfragen und von neuem miteinander in Balance zu bringen.
Meine interkulturellen Überlegungen hier sind leider ohne Rückfragen an Felix M. Wiesner entstanden. Die Monate seit unserer Begegnung in Kilchberg haben eben so daran gewirkt wie Themen, die mich schon länger beschäftigen. Natürlich besteht die Gefahr einer Mißinterpretation der An- bzw. Absichten des Gegenübers immer, ja sie steigt mit der Aufgabe, das Lebenswerk eines anderen Menschen beurteilen zu wollen.
Doch wahrscheinlich sind meine Befürchtungen, eine allzu kritische Wertung der WAAGE-Philosophie vorgenommen und damit den idealiatischen Verleger verletzt zu haben, unbegründet. Denn folgender Ausspruch Felix M. Wiesners ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben, und noch immer höre ich ihn in echt taoistischem Geiste sagen: "Wissen Sie, Herr Bächi, meine Arbeit ist zeitlos!"