Der eine ist tzu-li chiu-chi (自立救濟), was im Allgemeinen als "Selbsthilfe" übersetzt wird. Gemeint ist hiermit, persönliche Sorgen durch eigene Anstrengungen aus der Welt zu schaffen. Die Demonstrationen von Selbsthilfegruppen, fast täglich auf den Straßen Taipeis zu beobachten, sind als Aktionen bestimmter sozialer Gruppen zu sehen, die so nach Abhilfe für ihren Kummer suchen.
Der zweite Begriff ist she-hui yun-tung (社會運動), was wörtlich "Gesellschaftsbewegung" bedeutet. Dieser Ausdruck wird häufig dazu benutzt, um bestimmte Interessenverbände und Bürgerorganisationen, die aus der breiten Öffentlichkeit hervorgegangen sind, zu beschreiben.
Um mehr über die Entstehung dieser gesellschaftlichen Bewegungen und ihre Auswirkungen auf soziale, ökonomische und politische Fragen in Erfahrung zu bringen, hat sich die Free China Review - Mitarbeiterin Irene Yeung ausgiebig mit zwei Experten unterhalten. Diese haben diejüngsten Entwicklungen genauestens beobachtet: Dr. Hsiao Hsin-huang (蕭新煌) ist Soziologe und Forschungsmilglied der Academia Sinica, Dr. Chang Mau-kuei (張茂桂), assistierendes Forschungsmitglied derselben Organisation und geschäftsführender Direktor ihres Asien-Studien-Programms. Der folgende Beitrag ist eine Zusammenfassung der Diskussionen:
"Bürgerinitiativen sind nicht völlig neu in Taiwan, aber in der Vergangenheit operierten sie durch, oder zumindest verdeckt durch, öffentlich anerkannte Organisationen", sagt Hsiao Hsin-huang. "Einfach ausgedrückt: Sie waren nichts weiter als Ableger der Regierungspartei. Vor Beginn der achtziger Jahre wurden soziale Bewegungen ständig von der Regierung überwacht. Insofern verlief ihre Dynamik von oben nach unten."
Hsiao meint, die relative Expansion und Kontraktion der drei miteinander in Wechselwirkung stehenden Kräfte - Politik, Wirtschaft, Gesellschaft - sind der Schlüssel zum Verständnis der gesellschaftlichen Bewegungen in Taiwan. In den frühen Jahren, kurz nachdem der Sitz der Regierung vom Festland nach Taiwan verlegt worden war, dominierten politische Kräfte: Die KMT-Regierung saß fest im Sattel und hatte die wirtschaftlichen wie sozialen Bewegungen gleichermaßen im Griff. Die ersten Anzeichen für eine Veränderung gab es 1968, als die Wirtschaft der Insel schlagartig zu florieren begann.
Der Grundstein für die wirtschaftliche Expansion war in den fünfziger und sechziger Jahren von der KMT selbst gelegt worden, indem sie zuerst eine Landreform durchführte, dann auf Industrialisierung als Ersatz für Importe setzte und schließlich eine exportorientierte Industrialisierung förderte. Eine neuartige Entschlossenheit im Bereich ökonomischer Interessen beschleunigte die Entwicklung eines Umfeldes, das einfallsreichen Unternehmern einen großen Spielraum gewährte. Die Struktur des Rechtswesens und die offizielle Politik waren zu jener Zeit vor allem darauf ausgerichtet, das Bruttosozialprodukt zu vergrößern und eine annehmbar gleichmäßige Verteilung der Einkommen sicherzustellen.
Im Verlauf der siebziger Jahre, schwenkte das Pendel jedoch kräftig zugunsten der ökonomischen Interessen aus, was die Stoßkraft der politischen und sozialen Kräfte verringerte. Unmittelbares Resultat dieser Entwicklung war eine allmähliche Verschiebung in den Bereichen der vormals gleichmäßigeren Einkommensverteilung und bei der Verteilung sozialer Privilegien. Das exportorientierte Wirtschaftswachstum beschleunigte sich, aber es forderte einen immer höheren Preis in Gestalt von Umweltverschmutzung, schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen.
Als die Öffentlichkeit sich zunehmend dieser Probleme bewußt wurde, begannen immer mehr Bürger irgendeine Zusicherung dafür zu verlangen, daß ihre Interessen bei der Auseinandersetzung mit der Regierung angemessen vertreten würden. Für die öffentliche Äußerung dieser Sorgen gab es jedoch nur wenige Ventile.
Auch nachdem 1987 das Kriegsrecht aufgehoben worden war, blieb die rechtliche Situation verschwommen. Eine wesentliche Klärung brachten drei wichtige Neuerungen im Bereich der Gesetzgebung: das Gesetz zur Regelung von Versammlungen und Demonstrationen, das im Januar 1988 in Kraft trat, und die im Januar 1989 wirksam gewordenen Gesetze Bürger-Organisationen betreffend sowie das Ergänzungsgesetz zur Wahl und Abberufung von Beamten.
Diese Maßnahmen der Legislative, die Teil des Bestrebens der Regierung waren, die Demokratisierung voranzutreiben, haben zahlreiche Kanäle geschaffen, durch die es Individuen und Organisationen möglich geworden ist, ihre Standpunkte zum Ausdruck zu bringen und für Veränderungen in der Regierungspolitik zu kämpfen. Gesellschaftliche Kräfte haben jetzt einen nie dagewesenen Einfluß auf die wirtschaftliche und politische Entscheidungsfindung.
Anders als die Interessengruppen, die in der Vergangenheit mit Billigung der Regierung bestanden, können nunmehr reformerische Organisationen ihre personelle und materielle Unterstützung direkt aus der Öffentlichkeit beziehen. Dies ist eine Entwicklung, die, so Hsiao, erst seit 1986 zu beobachten ist. Vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes für öffentliche Organisationen, konnte sich jeweils nur eine Organisation pro Problembereich eintragen. Diese Beschränkung erleichterte ganz wesentlich den politischen Umgang mit Bürgerinitiativen. Diese Beschränkungen sind inzwischen aufgehoben worden und jede Organisation kann sich nunmehr all den Aufgaben widmen, die sie für wichtig erachtet.
Hsiaos Ansicht nach, ist für Taiwans Bürgerinitativen charakteristisch, daß gewöhnlich Klassenunterschiede außer Acht gelassen werden und Leute aus allen Teilen der Bevölkerung einen besseren Zugang zur Regierung suchen.
"Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsschicht kann nicht das einzige Kriterium bei der Analyse gesellschaftlicher Bewegungen hierzulande sein", erklärt er. "Taiwans Ureinwohner und die ethnische Gruppe der Hakka, die Frauenbewegung, die Kriegsveteranen, diejenigen ohne Immobilienbesitz, Studenten und Lehrer sind alle engagiert und sie können nicht als "Klassen" definiert werden. Ich glaube, die Bürgerbewegungen auf Taiwan gehen nicht von bestimmten Bevölkerungsschichten aus. Bislang konnten wir beobachten, daß sich Bürger aus vielen verschiedenen Schichten und Bereichen unserer Gesellschaft an den immer häufiger werdenden Protestaktionen beteiligten."
Die Regierung hat es heutzutage beim Umgang mit der Öffentlichkeit mit einem ganz neuen Grad an politischem Bewußtsein zu tun. "Tatsächlich ist die Regierung zur Zeit in einer Phase der Verwirrung und Neuorientierung", meint Hsiao. "Früher war die Bevölkerung frustriert, weil die öffentliche Meinung von den Gesetzgebern nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Heute geht eine wahre Flut von Sozialforderungen ein, und die Regierung fragt sich, wie sie am besten darauf reagieren soll. Aber es hilft nichts: Mag die Aufgabe auch noch so schwierig sein, so kann die Regierung doch nicht umhin, ihrer Verpflichtung, die Probleme in Angriff zu nehmen, nachzukommen."
Persönlich betroffene, die daran zweifeln, daß die Regierung ihre spezifischen Anliegen angemessen handhaben kann, neigen am ehesten dazu, sich Bürgerinitiativen anzuschließen und sich in solcherart organisierter Form Gehör zu verschaffen.
Die Verbraucherorganisation der Republik China wurde 1980 gegründet. Sie war die erste Bewegung, die Bürger aus freien Stücken ins Leben riefen, und die bei einer breiten Öffentlichkeit, an die sie sich auch direkt bei der Suche nach Unterstützung wendet, auf Interesse stieß. Die Mitglieder der Organisation sind zum größten Teil Akademiker, Manager auf mittlerer Ebene und kleine Kaufleute und rekrutieren sich in erster Linie - wenn auch nicht ausschließlich - aus der städtischen Mittelschicht. Hsiao merkt an, daß die Verbraucherorganisation in erster Linie die Funktion hatte, in der Folge zahlreichen anderen Bürgerinitiativen als Modell zu dienen.
Hsiaos Ansicht nach, lassen sich diese Bürgerinitiativen in Taiwan in vier große Kategorien unterteilen: Die erste ist die derer, die sich mit neuen sozialen Problemen befaßt, wie etwa Verbraucherfragen, Wohnungsnot, Umweltverschmutzung. Solche Mißstände können nur durch eine breite Palette verschiedener Maßnahmen behoben werden; der Handlungsspielraum der gegenwärtigen Regierung ist jedoch durch deren Struktur stark eingeschränkt. Demzufolge konzentrieren sich diese Bürgerorganisationen darauf, politische Veränderungen zu erreichen, wie etwa Aufstockung des Budgets und der Zahl der Angestellten in Ämtern und Ministerien und Entwürfe neuer Programme für diese.
Die zweite Kategorie umfaßt Gruppen, die sich um bestimmte politische Inhalte kümmern, so zum Beispiel die Anti-Kernkraft Bewegung, die Behinderten, die Kriegsveteranen, die Hakka sowie eine fundamentalistische christliche Sekte in Taiwan.
Organisationen der dritten Kategorie sind in erster Linie darauf aus, die Regierung herauszufordern, sie wollen bestehende Machtstrukturen verändern. Dies ist das Ziel der Frauen-, Studenten-, Bauern-und Arbeiterverbände.
Die vierte Kategorie schließlich setzt sich aus Gruppen zusammen, die besonders grundsätzliche und nicht selten auch sehr heikle politische Themen aufgreifen. Sie kümmern sich um "politisch verfolgte" Bürger, die vom Festland stammen und dorthin zu Besuchen zurückkehren möchten und die, die es Taiwanesen, die auf dem Festland leben, ermöglichen wollen, nach Taiwan zurückzukehren.
Nicht selten reagiert die Regierung langsamer auf die Forderungen, als es von den Bürgerinitiativen gewünscht und erwartet wird. So ist es zu erklären, daß Einzelne, wenn die Bewegungen erst einmal in Schwung geraten sind, in der Hitze des Gefechts die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen oder gar des gesetzlich zulässigen überschreiten. Gelegentlich kommt es hierbei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und etliche Demonstranten sind in den letzten Jahren zu weit gegangen, einer gar bis zur völlig sinnlosen Opferung seines Lebens.
Hsiao erklärt, daß das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, Menschen zuweilen zu einer allzu subjektiven, gefühlsbetonten Beurteilung der Umstände treibt und nicht selten zur völligen Irrationalität. Diese Emotionalität wird meist dadurch ausgelöst, daß völlig legitime Klagen kein Gehör finden, oder Amtspersonen eine Reihe ganz offensichtlicher Machtmißbräuche begehen.
Da Straßendemonstrationen, besonders in Taipei, inzwischen fast an der Tagesordnung sind, sind Bürgerinitiativen in manchen Vierteln geradezu in Verruf geraten. Kritiker behaupten etwa, daß es sich bei Umweltschützern und Streitern für ein verbessertes Arbeitsrecht schlichtweg um Querulanten handelt. Eine Anzahl von Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten hatte zur Folge, daß der Nutzen von Demonstrationen ganz allgemein in Frage gestellt wurde und auch die, die ursprünglich in der Sache mit den Demonstranten einig waren, abgeschreckt wurden. Gegner der jüngsten Liberalisierung des rechtlichen Umfeldes führen diese Vorfälle als Beweise dafür auf, daß soziale Bewegungen potentiell die wirtschaftliche Entwicklung sowie Gesetz und Ordnung gefährden.
Hsiao widerspricht dem jedoch: "Es ist einfach unfair, jedes gesellschaftliche Übel dem plötzlichen Aufkommen von immer mehr Bürgerinitiativen zuzuschreiben. Sie hatten nichts mit der Aufwertung des Taiwanesischen Dollar zu tun und sie machen weder Wirtschafts-, Finanz-, noch Investitionspolitik. Leute haben immer den falschen Eindruck von Bürgerinitiativen und nehmen einfach an, sie seien grundsätzlich gegen die Regierung gerichtet und seien eine Bedrohung für den Status quo." Er fügt hinzu, daß die Gründung von Bürgerinitiativen eher ein evolutionärer als ein revolutionärer Schritt in der politschen Entwicklung ist. Er weist darauf hin, daß die Leute mit ihren stereotypen Vorstellungen von angeblich "irrationalen" Arbeiter- oder Bauernbewegungen schlichtweg danebenliegen.
Eben in dieser Auffassung wurden jedoch viele durch zwei Ereignisse in jüngerer Zeit bestärkt: durch den "Vorfall vom 20. Mai 1988", als es während einer Bauerndemonstration in Taipei zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, und den "Lin Yuan Industriepark-Vorfall", bei dem wegen Protestaktionen von Umweltschützern die Arbeit in allen Fabriken zum Erliegen kam.
"Es ist richtig, daß die Bewegung der Bauern vom 20. Mai einige unerwünschte Folgen hatte und der Lin Yuan-Vorfall die Umweltschutzbewegung in Verruf brachte", räumt Hsiao ein. "Dies sind ungünstige Präzedenzfälle für die Beilegung ähnlicher Meinungsverschiedenheiten in der Zukunft. Und doch sind dies nur Einzelfälle, die keinesfalls als repräsentativ für die ganze Bauern- oder Umweltschutzbewegung gelten können. Von einem ganzheitlichen Standpunkt aus betrachtet, würde ich sagen, daß Bürgerinitativen in Taiwan zur Zeit recht gut dastehen, und sie streben nach Verbesserungen in den Bereichen Disziplin und Organisation."
"Solange die Kosten für die Mobilisierung der Menschen sich in Grenzen halten und man keine exzessiven Repressalien fürchten muß, können überall und in jeder Gesellschaft Bürgerinitiativen entstehen" führt er aus. "In Taiwan haben sich sogar Veteranen, Lehrer und Beamte - die sogenannten 'Konservativen' und 'stabilisierenden Faktoren' also - Bürgerinitiativen angeschlossen, eben weil der Preis, den sie hierfür zu zahlen haben, relativ gering ist."
Die Mobilisierung hängt von vielen Faktoren ab. Die Bauern etwa haben eine breite Machtbasis auf regionaler Ebene und müßten dementsprechend in der Lage sein, breite Unterstützung zu finden. Wie Chang aber anmerkt, ist ihnen dies jedoch allen Erwartungen zum Trotz nicht gelungen und die Aussichten der Bauernbewegung sind zur Zeit eher grimm. Die Bauern sind keine homogene Gruppe, sondern vielmehr in verschiedene landwirtschaftliche Sektoren unterteilt. Demzufolge widmen sich bestimmte Gruppen speziellen Interessen und Bedürfnissen, zum Beispiel derer, die Obst, Blumen oder Reis anbauen oder Geflügel züchten. Nur selten schließen sie sich zusammen, um für eine gemeinsame Sache zu kämpfen.
Der Regierung ist es schon manches Mal schwergefallen, zwischen Reformern und sogenannten "Störenfrieden" zu unterscheiden. Dies wurde bei einigen Zwischenfällen geradezu schmerzlich offenbar. Chang meint, die liberalere Atmosphäre habe es auch "irrationalen Elementen" ermöglicht, Bürgerbewegungen zu beeinflussen, sie seien jedoch nicht zu deren treibenden Kräften geworden.
"Taiwans Bauern sind zum größten Teil kleine Landwirte, nicht Hilfsarbeiter", sagt Chang. "Sie sind konservativer als Arbeiter und wenn ein Problem nicht gerade besonders ernst und weitreichend ist, engagieren sie sich nur selten bei Gemeinschaftsaktionen. Ein solches ernstes Problem war aber das der Nebenwirkungen der Internationalisierungspolitik - die Öffnung des heimischen Marktes für ausländische Produkte. Dies stellte eine grundsätzliche Gefährdung der Beschaffung ihres Lebensunterhaltes dar. Der auf diese Erkenntnis folgende kämpferische Einsatz für ihre Interessen war wegbereitend dafür, daß sie sich anderen Themen, die sie betreffen, mit mehr Nachdruck zuwandten: unzureichender Versicherungsschutz und relativ niedrige Einkommen. All dies gipfelte in gewalttätigen Ausschreitungen bei einer Bauerndemonstration im Mai 1988, ein Vorfall, der das Image der Bauern als friedliebend und vernünftig zerstörte."
Er weist darauf hin, daß die Eigendynamik der Situation ein Grund für das unverantwortliche Handeln gewesen sei: Eine emotional aufgestachelte Menschenmenge, durch die Gewalt der Masse angetrieben, konnte psychologisch nicht mehr im Griff gehalten werden, Außenstehende mischten sich ein, die Situation eskalierte und geriet außer Kontrolle. Es stellte sich heraus, daß die meisten, die verhaftet wurden, gar keine Bauern waren und zum Teil mit der Bauernbewegung auch gar nichts zu tun hatten. Die Organisatoren der Demonstration hatten die Interessen der Bauern im Sinn und sahen sich nun plötzlich einer durch die Unruhen aufgebrachten Öffentlichkeit gegenüber.
"Trotz sporadischer Unmutsbekundungen der Bauern bleibt der agrikulturelle Sektor doch ein relativ stabiles Element der Gesellschaft", so Chang: "Arbeiterverbände scheinen dynamischer und aktiver zu sein, wenn man aber die Situation in Taiwan mit der z.B. in Ländern wie Südkorea vergleicht, in denen die Wirtschaft auf gigantischen Konglomeraten privater Unternehmen fußt, sieht man, daß das Verhältnis zwischen Arbeitern und Management nicht von krasser Gegnerschaft geprägt ist."
"Während die Gesellschaft in Taiwan immer komplexer wird, wird auch die Rolle, die die Regierung spielt, immer wichtiger", meint Chang. "Manchmal muß die Regierung als Regulator zugunsten der sozialen Gerechtigkeit fungieren. Zu anderen Zeiten muß sie zugunsten des Wirtschaftswachstums oder unternehmerischen Profits sich mit der Kontrolle zurückhalten", erklärt Chang.
Das Nachlassen der Kontrolle hat nicht immer rein positive Auswirkungen: So hat zum Beispiel die Regierungspolitik der Internationalisierung und Liberalisierung der Wirtschaft Spekulanten auf dem Immobilien- und anderen Märkten mehr Freiräume eröffnet, was ein Aufblühen des Marktes und einen inflationären Anstieg der Mieten und Immobilienpreise zur Folge hatte.
Während die Regierung nun dabei ist sich zu verändern und einige Revisionen vornimmt, um gesellschaftlichen Bedürfnissen besser entsprechen zu können, entwickeln sich die Bürgerinitiativen weiter. Die Verbraucherbewegung, zum Beispiel, ist zur Zeit recht wichtig in Taiwan, auch wenn etliche ihrer ursprünglichen Schwerpunkte, wie Natur- und Umweltschutz oder Anti-Atomkraft, inzwischen von speziellen Interessengruppen übernommen worden sind. Laut Chang sind Verbesserungen im Bereich der Organisation und inhaltliche Differenzierung Teile einer ganz natürlichen Entwicklung. Die Verbraucherorganisation hat sich etwa zu einem Sprachrohr und gleichzeitig zu einem "Thinktank" zur Lösung grundsätzlicher Probleme entwickelt.
Nach Changs Meinung sind konventionelle Bürgerinitiativen in Taiwan nach wie vor recht schwach. Ausnahmen bilden hier nur die Umweltschutzgruppen. Die anderen können derzeit ihre Effektivität einzig dadurch vergrößern, daß sie Allianzen eingehen.
Als die Dezember-Wahlen näherrückten, wurden etliche Organisationen aktiver. Die im September gegründete "Neue- Gesellschaft-Union" ist eine einflußreiche Allianz. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die Wahlergebnisse zu verändern, indem sie Behinderte, Frauen, junge Leute, Umweltschützer, Bildungsreformer und Bürger ohne eigenen Wohnraum vereint. Eine Anzahl politischer Kandidaten erkannten das Machtpotential der Neue-Gesellschaft-Union" und baten um deren Unterstützung bei der Erstellung politischer Reformprogramme. Wir sehen hier also wieder einen Beweis für "die Macht der Wahlurne".
"Der Wirbelwind der Bewegungen in der Gesellschaft fordert unsere Regierung heraus, das kann aber eher ein Plus als ein Minus sein, wenn er sich zu einer Kraft entwickelt, die soziale Reformen vorantreibt", sagt Hsiao Hsin-huang.
Obwohl die Entwicklung der Bürgerinitiativen häufig von einem hitzigen und zuweilen auch allzustarken Wettbewerb geprägt ist, hat die Welle sozialer Veränderungen, die über Taiwan hereingebrochen ist, bereits begonnen, Bahnen für eine besser funktionierende Kommunikation zwischen Regierung und Gesellschaft zu brechen.
(Deutsch von Rina Goldenberg)