27.04.2025

Taiwan Today

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Machtverlust durch Zwiespältigkeit

01.01.1990
Mobilität ist angesagt. Ob "vertikal" oder "horizontal": die Gesellschaft ist in Bewegung geraten.
Rapider Wandel fördert häufig die Ironie des Schicksals. So hat zum Beispiel Taiwans nahezu explosionsartiges Wirtschaftswachstum, zumal während des letzten Jahrzehnts, wesentlich die Anzahl jener Leute erhöht, die sich selbst zur "Mittelschicht" zählen. Werden dieselben Leute jedoch gefragt, wie sie die sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder ethischen Charakteristika der Mittelschicht definieren, gibt es beträchtliche Meinungsverschiedenheiten.

Zieht man in Betracht, daß das Mittelschicht-Bewußtsein ein gerade erst entstehendes gesellschaftliches Phänomen ist, mag die Verwirrung vielleicht gerechtfertigt erscheinen. Allerdings könnte die soziale und politische Gesundheit der Insel in den kommenden Jahren zum großen Teil von den Ansichten und Aktionen ihrer großen Mittelschicht abhängen, vor allem, wenn deren Mitglieder sich verstärkt organisieren und in stärkerem Maße gemeinsam auf anvisierte Ziele hinarbeiten sollten.

Der folgende Artikel zeigt auf, inwiefern Taiwans Mittelschicht als höchst mobil, uneinheitlich, vielfältig und pragmatisch beschrieben werden kann - und warum das westliche Mittelschicht-Modell modifiziert werden muß, wenn es im chinesischen Kontext benutzt wird.


Taiwans Mittelschicht zeichnet sich durch einen hohen Grad an horizontaler und vertikaler Mobilität aus, was vorwiegend auf das rapide Wirtschaftswachstum auf der Insel sowie den damit in Zusammenhang stehenden Zuwachs an Berufsmöglichkeiten zurückgeführt werden kann. Die horizontale Mobilität zeigt sich besonders deutlich im Arbeitskräftefluß zwischen Regierungsstellen und privaten Firmen. Gegenwärtige Tendenzen erweisen einen kräftigeren Strom vom öffentlichen auf den privaten Sektor, wobei die ernste Ausmaße annehmende Personalabwanderung aus den Finanzabteilungen der Regierung zu privaten Banken und Investmentfirmen das extremste Beispiel ist.

Was die vertikale Mobilität anbelangt, so ist es offenkundig, daß viele der heutigen Unternehmer mit Geschäften von kleiner oder mittlerer Größe Bauern- oder Handwerkerfamilien entstammen. Zumeist verfügen diese Geschäftsleute nicht über Collegeabschlüsse, und normalerweise haben sie mit minimalem Kapital angefangen. Dennoch haben sie den Puls der schnellwachsenden Insel-Wirtschaft richtig eingeschätzt, hart gearbeitet und sich so auf dem Markt etabliert. Und auch wenn ihre Firmen in der Regel nicht an die der Großen auf der Insel heranreichen, haben viele dieser kleineren Firmen Aktiva von bis zu 10 Millionen US-Dollar vorzuweisen.

Die Eigentümer und Manager großer Firmen wie etwa der Tatung- oder Shin Kong-Gruppen könnten nach hiesigen Maßstäben als "Oberschicht" bezeichnet werden, aber es hat auch zwei Generationen gedauert, bis diese Firmen ihre jetzige Position erreicht hatten. Die meisten der mittleren und kleinen Firmen in Taiwan, die ungefähr 90 Prozent aller Firmen auf der Insel ausmachen, sind jedoch noch immer in ihrer ersten Eigentümer- und Managementgeneration. Deshalb ist die Gesellschaft der Insel durch eine relativ junge vertikale Mobilität gekennzeichnet.

Zwei weitere Phänomene tragen stark zur sozialen Beweglichkeit auf dem Markt bei: (1) das sogenannte Laopan-Syndrom, wonach sehr viele der Arbeiter, Manager und Fachleute davon träumen, ihr eigener "Boss", also Firmenpräsident oder Beiratsvorsitzender, zu werden; und (2) die damit in Verbindung stehende Tendenz der Angestellten, irgendeine Firma zur Gründung eines Konkurrenzbetriebs zu verlassen, sobald sie die nötigen Fähigkeiten, Kenntnisse der Operationsweisen und Marktbeziehungen erlangt haben. In der Tat sind viele Unternehmer, die jetzt ihre eigene Firma haben, ehemalige leitende Angestellte anderer Firmen mit derselben Produkt- oder Servicepalette. Diese Phänomene haben ein Klima hoher Mobilität innerhalb der Mittelschicht geschaffen - sie erklären aber auch, warum es in Taiwan so viele Leute gibt, die sich Firmenpräsident oder Beiratsvorsitzender nennen.

Der Grad sozialer Mobilität in Taiwan ist sehr verschieden von dem in Japan oder Südkorea, wo fest verwurzelte "Anstellung auf Lebenszeit"-Systeme vorherrschen. Darüber hinaus wird es in Japan in der Regel als ungehörig empfunden, in Konkurrenz zu einem früheren Arbeitgeber zu treten, während die Firmenwelt in Südkorea weitestgehend von einigen wenigen großen Unternehmen dominiert und kontrolliert wird. In beiden Ländern ist die soziale Mobilität darum weniger dynamisch.

Das schnelle Wachstum von Taiwans Finanz- und Dienstleistungsindustrien in den letzten Jahren hat die soziale Beweglichkeit innerhalb der Mittelschicht noch weiter stimuliert. Viele Leute haben von der Produktion auf das Dienstleistungsgewerbe umgesattelt, was eine andere Form horizontaler Mobilität darstellt. Weil es sowohl auf dem Finanz- wie auch auf dem Dienstleistungssektor noch immer viele Möglichkeiten zur Expansion gibt, kann ein großes Maß an horizontaler Bewegung auch in Richtung dieser Marktfelder erwartet werden. So wird es zum Beispiel mit der Aufhebung des Verbotes zur Gründung privater Banken Ende dieses Jahres zu gewaltigen Arbeitskräfteverschiebungen vom öffentlichen auf den privaten Sektor kommen.

Anders als in England oder anderen westlichen Nationen, ist das Konzept einer Mittelschicht in Taiwan recht wenig eindeutig, was einen Einfluß auf die Auffassungen von sozialer Mobilität hat. Die Rate sowohl der vertikalen als auch der horizontalen Mobilität ist hoch, doch verfügt die Mittelschicht über keine entsprechend stark ausgeprägte Struktur. Beispielsweise sind sich viele, die erst in erster Generation Unternehmer sind, nicht sicher, ob sie zur Mittelschicht gehören oder nicht. Da viele von ihnen praktisch bei Null angefangen haben, wissen sie in der Regel weder während des Aufsteigens, noch wenn sie oben angekommen sind, mit welcher Schicht sie sich identifizieren sollen. Der Begriff "Mittelschicht" muß also mit Vorsicht benutzt werden.

Dieser Mangel an eindeutigen Definitionen hat historische Wurzeln. In der traditionellen chinesischen Gesellschaft wurden die Menschen im großen und ganzen entsprechend ihrer Berufe eingeordnet: gelehrter Adel, Bauern, Handwerker und Kaufleute. Obwohl diese wiederum vage in verschiedene Schichten unterteilt waren, gab es keine Entsprechung des westlichen Konzepts der "Klasse" oder "Schicht". Erst vor relativ kurzer Zeit in China eingeführt und nach wie vor wenig gebraucht, sind die von Einheimischen gegebenen Definitionen einer "Mittelschicht" zumeist recht ungenau und widersprüchlich.

Vielfalt - oder Komplexität - ist ein anderes Merkmal der Mittelschicht in Taiwan. Dies läßt sich anhand zweier Punkte aufzeigen:

(1) In Anbetracht ihres Bildungshintergrundes, Einkommens und sozialen Status sollten die meisten der im Staatsdienst Angestellten zur Mittelschicht gezählt werden. Andererseits aber ist das Leben, das sie führen, von dem der Geschäftsleute auf der Insel sehr verschieden, so daß die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen trotz der Gründe, beide als zur Mittelschicht gehörend zu bezeichnen, sehr viel offensichtlicher sind als ihre Gemeinsamkeiten. Angesichts dieser Heterogenität fragen sich einige Soziologen bereits, ob die beiden Gruppen denn tatsächlich in derselben Schicht zusammengefaßt werden sollen.

(2) Auch innerhalb der Berufssparte "Unternehmer" gibt es beträchtliche soziale Unterschiede. Hersteller, zum Beispiel, unterscheiden sich sehr von Unternehmern auf dem Finanzsektor. In der Vergangenheit konnten erstere nach einem Jahr harter Arbeit 10 bis 20 Prozent Gewinn machen, in den letzten zwei Jahren aber konnten all jene, die ihre Energien auf Taiwans "Kasino", die Börse, konzentrierten, innerhalb weniger Tage spekulativen Investierens genauso viel Profit einheimsen. Unter solchen Voraussetzungen ist es für Leute auf dem Produktionssektor natürlich schwer, sich mit den Börsenspekulanten zu identifizieren, eher beneiden sie diese um ihre schnellen Gewinne.

Darüber hinaus ist es noch viel zu früh, die ethische oder intellektuelle Ausrichtung der Mittelklasse in Taiwan zu generalisieren, so daß stereotype Bezeichnungen wie etwa "konservativ", "progressiv" oder "Reformer", die in anderen Teilen der Welt dazu dienen, Mitglieder der Mittelschicht zu beschreiben, in Taiwan wenig nützlich sind.

Verallgemeinerungen bei der Diskussion eines anderen Merkmals der hiesigen Mittelschicht sind dagegen angebracht - der realistischen, praktischen Lebenseinstellung ihrer Mitglieder. Dies zeigt sich am deutlichsten bei kleinen und mittleren Geschäftsleuten, die dazu neigen, ihren Status an reellen Errungenschaften zu messen und auch ihr Verhalten danach auszurichten, statt sich um allgemeine ideologische, soziale und politische Dinge zu kümmern. Obwohl die makro-ökonomischen und sozialen Veränderungen in den letzten Jahren ihnen viel Raum zu sowohl vertikaler als auch horizontaler Mobilität bezüglich ihres sozialen Status geschaffen haben, war der Bewußtseinswandel weniger ausgeprägt.

Personalplanung und soziale Anliegen berühren in erster Linie direkt mit dem Geschäft verbundene Themen. Die größte Aufmerksamkeit wird dabei der Ausweitung der Wachstumskapazität gewidmet sowie der Manipulation des wirtschaftlichen Umfeldes in Hinsicht auf eng definierte Geschäftsinteressen. Unverhohlene Rücksichtslosigkeit in bezug auf soziale Wohlfahrt, wie etwa bei der von kleinen Fabriken verursachten Luft- und Wasserverschmutzung oder dem Lärm, ist eher die Regel denn die Ausnahme.

Ein kurzfristiger Wandel auf diesen Gebieten kann nur von allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Faktoren erwartet werden, nicht von den mittelständischen Unternehmern selbst. Für die kleinen und mittleren Unternehmer sind Tauschrate, Börse, Exportmarkt und Bankkredite die wichtigeren Themen, denn diese Dinge stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Angelegenheiten ihres Profits, während soziale Probleme beim Betreiben eines Unternehmens in der Regel für unwesentlich gehalten werden. Und solange das politische System stabil ist und der Rentabilität der Unternehmen positiv gegenübersteht, schenken die Unternehmer der Politik relativ wenig Aufmerksamkeit.

Auch Taiwans soziales Gewebe kompliziert den Versuch, seine Mittelschicht zu definieren. Für Chinesen geht es bei der Aufnahme persönlicher Beziehungen mehr um das soziale Netz als um die Identifikation mit einer bestimmten Schicht. Eine Person wird sich ein Problem also unter Rücksicht auf die Ansichten der Menschen, mit denen sie verwandt, verheiratet oder geschäftlich verbunden ist, ansehen, sie dementsprechend einschätzen und ihr Verhalten dahingehend ausrichten. Die Person wird sich jedoch nicht aufgrund eines angenommenen Klassenbewußtseins entscheiden.

Dies liefert auch eine Erklärung dafür, daß es, verglichen mit westlichen Ländern, in Taiwan so wenig Klubs für Geschäftsleute gibt. Republik China Jaycees (Internationale Jugendkammer), Lion's Club und Rotary sind Ausnahmen von der Regel, die meisten sozialen Kontakte zwischen Geschäftsleuten bestehen mit Verwandten, Freunden, Kollegen oder ehemaligen Klassenkameraden und haben kaum etwas mit "Schicht" zu tun.

Solche traditionellen Arten von Beziehungen behindern die Bildung und Entwicklung eines Klassenbewußtseins. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß sich ein Chinese mit einer kleineren Gruppe von Leuten identifiziert als mit einer größeren (und weniger durchschaubaren) Idee wie "Schicht". So würden zum Beispiel sehr wenige Leute sagen, daß sie zur Oberschicht gehören, sie wären hingegen sehr daran interessiert zu erfahren, ob jemand dieselben geographischen Wurzeln hat, also etwa zur "Chiayi-Fraktion" gehört oder zur "Sanchung-Fraktion". Diese Art von Fraktionenbewußtsein ist in Geschäftskreisen sehr stark vertreten und hilft den Leuten herauszufinden, wo in die Gesellschaft sie "hineinpassen".

Zur Zeit sind allgemeine Konzepte wie das einer "Mittelschicht" bei der Erklärung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Strukturen auf der Insel wenig sinnvoll, da die traditionellen Beziehungsnetze nach wie vor das tägliche persönliche und soziale Leben dominieren. Trotzdem scheint in gewissem Maße eine Art Mittelschichtbewußtsein zu entstehen, und dies ist eine Entwicklung, die es wert ist, in den kommenden Jahren genau beobachtet zu werden.

(Deutsch von Arne Weidemann)

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