02.05.2025

Taiwan Today

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Die Schranken fallen

01.11.1990
Der Taiex in glücklicheren Tagen: über eine Million Menschen waren einst hauptberuflich am großen Spiel beteiligt.
Zur Erleichterung der Geschäftswelt unternimmt die Regierung der Republik China gegenwärtig wichtige Schritte, um Taiwans finanzielles Haus in Ordnung zu bringen. Der folgende Artikel aus der Feder von Osman Tseng(曾慶祥)untersucht einen wichtigen Aspekt dieser komplexen Aufgabe, nämlich die Liberalisierung von Taiwans Aktienmarkt, die jüngst bedeutende Fortschritte machte: Mitte September kündigte das Finanzministerium an, daß bestimmte ausländische Firmen noch in diesem Jahr Direktinvestitionen auf Taiwans Aktienmarkt tätigen können, und Ende des Monats wurde es Wertpapiermaklern gestattet, Kredite zum Ankauf von Aktien (margin lending) anzubieten.

Tseng, früher Vizepräsident des China Economic News Service, ist jetzt ein freier Autor, der sich mit wirtschaftlichen und politischen Themen beschäftigt. Er lebt in Taipei und verfaßt regelmäßig Beiträge für Free China Review.

Taiwans Aktienmarkt hat seit dem 10. Februar 1990, als der Taiex seinen Höchststand von 12 490 Punkten erreichte, einen schwindelerregenden Kurssturz um fast 80 Prozent erlebt. Zu den Hauptgründen für diesen beispiellosen Kursverfall gehört der Abfluß von Kapital, der durch eine konsequente Politik knapper Kredite seitens der Zentralbank sowie durch die rasch ansteigende Zahl der Investitionen im Ausland verursacht wurde. Eine Maßnahme, die zur Stabilisierung der unberechenbaren Situation beitragen könnte, ist ein Plan der Regierung, ausländische Investitionen auf dem Aktienmarkt zuzulassen. Die ersten Stufen dieses Plans sollen ausländischen Finanzgesellschaften wie Versicherungsfirmen und Investmentfonds Investitionen an der hiesigen Börse gestatten. Dadurch könnte dem Markt dringend benötigtes Kapital zufließen.

Darüber hinaus erwarten Regierungsbeamte, daß durch die Einladung an ausländische Firmen, auf dem Markt zu investieren, dessen ungesunde Investitionsstruktur verbessert werden könnte. Gegenwärtig machen private Anleger volle 90 Prozent der Aktienkäufer aus. Schon seit langem hat man der abnorm hohen Zahl privater Investoren die Schuld an der Sprunghaftigkeit des Marktes gegeben, da die meisten von ihnen auf schnelle Profite aus sind und aufgrund von Gerüchten, die von "großen Spielern" im Aktiengeschäft und anderen unzuverlässigen Quellen in Umlauf gebracht werden, rasch kaufen oder verkaufen.

Dem Finanzministerium der Republik China fällt die Aufgabe zu, die Veränderungen, die den Aktienmarkt für investierende Firmen aus dem Ausland öffnen werden, zu koordinieren. Nach den gegenwärtigen Bestimmungen dürfen keine ausländischen Firmen oder Privatpersonen NT-Dollarkonten auf dem Aktienmarkt eröffnen. Ferner sind jährliche Überweisungen nach Taiwan, die keine handelsbedingten Transaktionen sind, auf 2 Millionen US$ pro Person bzw. Firma beschränkt. Nunmehr denkt man über eine Lockerung all dieser Restriktionen nach. Auch wird die Regierung möglicherweise beschließen, investierende Firmen aus dem Ausland im Hinblick auf Überweisungen nach Taiwan und bei der Eröffnung von Konten in Landeswährung bevorzugt zu behandeln. Ein solcher Schritt würde eine Änderung der derzeitigen Bestimmungen unnötig machen.

Es sind bereits Pläne ausgearbeitet worden, um sowohl ausländische Investoren zu kontrollieren als auch einheimische Gesellschaften zu schützen. Eine dieser Bestimmungen wird die Kategorien von Aktien spezifizieren, in die ausländische Firmen investieren dürfen. Eine andere wird es ausländischen Investoren verbieten, mehr als fünf Prozent der Anteile einer bestimmten Firma zu halten. Gelder, die für Investitionen auf dem Aktienmarkt nach Taiwan überwiesen wurden, dürfen für keine anderen Zwecke verwendet werden.

Die Regierung hat lange gezögert, den Aktienmarkt für Anleger aus Übersee zu öffnen. Der Hauptgrund dafür ist die Furcht gewesen, daß ausländische Investoren, gestützt auf ihre gewaltige Finanzkraft, in den Markt investieren könnten, um die Preise inländischer Aktien zu manipulieren und das Management bestehender Firmen zu kontrollieren. Bis jetzt ist es Ausländern nur indirekt, nämlich über vier Wertpapier-Investmentfirmen, darunter die International Investment Trust Company, erlaubt, in die hiesige Börse zu investieren. Zu Beginn dieses Jahres genehmigte die Kommission für Wertpapiere und Devisen die Anträge zweier amerikanischer Maklerfirmen, Merrill Lynch & Co. und Shearson Lehman Hutton Inc., Filialen in Taiwan für den Handel mit in- und ausländischen Wertpapieren zu eröffnen.

Trotz dieser Restriktionen haben jedoch viele Investoren, Firmen wie Privatpersonen, schon seit langem Wege gefunden, in hiesige Maklerfirmen und Aktien zu investieren, meist unter dem Namen eines Strohmannes. Nach inoffiziellen Schätzungen werden etwa zehn Prozent der Anteile eingetragener Firmen von ausländischen Anlegern gehalten. Demgegenüber beträgt der Anteil ausländischer Investoren auf dem japanischen Markt nur vier Prozent und in den USA sechs Prozent.

Als eine weitere wichtige Maßnahme, Taiwans Aktienmarkt zu retten, wird die jüngst beschlossene Liberalisierung des Kreditgeschäfts zum Ankauf von Aktien (margin lending) angesehen. Bis jetzt war es nur einer Firma, Fuh-Hwa Securities Finance, gestattet, Wertpapierfinanzierungen anzubieten. Da es ihr nicht möglich war, die Finanzierungsbedürfnisse der Investoren zu befriedigen, hat Fuh-Hwa's Monopol zur Existenz eines blühenden illegalen Gesschäfts mit der Finanzierung von Aktienankäufen beigetragen. Diese illegalen Unternehmen haben zahlreiche Probleme in Taiwans Finanzwelt hervorgerufen.

Indem es die Regierung Maklerfirmen und anderen Finanzunternehmen gestattet, Kredite zum Ankauf von Wertpapieren anzubieten, hofft sie auch, die für den Kauf von Anteilen zur Verfügung stehende Kapitalmenge zu vergrößern. So könnte zudem der Verkaufsdruck gemildert werden, weil Investoren ihre Anteile dann nicht mehr zum Tageskurs verkaufen müßten, um Bargeld in die Hand zu bekommen.

Eine solche Lockerung der Bestimmungen mag hilfreich sein, doch zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht sicher, ob dadurch genügend Geld in den Aktienmarkt gepumpt werden kann, um die Entwicklung umzukehren. Kredite sind aufgrund der von der Zentralbank verfolgten Politik des knappen Geldes noch immer schwer zu bekommen, und die zur Verfügung stehende Geldmenge, sei es in bar oder auf Girokonten, hatte im Mai 1990 zum vierten Mal hintereinander einen monatlichen Rückgang um 3,4 Prozent zu verzeichnen.

Viele Investoren und ihre Parteigänger haben an die Zentralbank appelliert, ihre Kreditpolitik zu lockern, um Kapital für den Aktienmarkt flüssig zu machen, doch die Bank hat dies abgelehnt. Eine Reihe von Regierungsbeamten und privaten Wirtschaftsfachleuten unterstützt die Haltung der Bank, ja sie sind aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen überhaupt gegen jede Intervention von Seiten der Regierung. Lin Chuan(林全)beispielsweise, außerordentlicher Professor für Finanz- und Steuerwesen an der Nationalen Chengchi-Universität, meint: "Zum jetzigen Zeitpunkt die Kreditpolitik zu lockern, würde sicherlich den Zufluß von Kapital in den Aktienmarkt vergrößern, aber es könnte gegenwärtig, da die Fahrpreise, die Preise für Nahrungsmittel und die Beamtengehälter gestiegen sind, zugleich auch den Inflationsdruck verstärken."

Lin zweifelt daran, daß eine Intervention der Regierung den Markt retten kann. Er ist der Meinung, daß der Markt erst dann wieder Wind in die Segel bekommen kann, wenn sich die Exporte verbessern (die in den ersten sechs Monaten des Jahres 1990 ein Wachstum von weniger als ein Prozent aufwiesen) und der Abfluß von Kapital (der zur gleichen Zeit einen Spitzenwert von 8 Milliarden US$ erreichte) zurückgeht. Der stetig anwachsende Kapitalabfluß hat dazu geführt, daß weniger Geld für den Aktienkauf zur Verfügung steht.

Mit dem Fall des Taiex ging auch der Verkauf von Autos und anderen Luxusgütern dramatisch zurück.

K.C. Lee(李高朝), der Leiter der Abteilung für Wirtschaftsforschung im Rat für Wirtschaftliche Planung und Entwicklung, sieht den gegenwärtigen Sturz des Aktienmarktes als eine natürliche Folge des vorangegangenen steilen Anstiegs: der Taiex-Index war vor dem jüngsten Kursverfall innerhalb von drei Jahren um das Zehnfache angestiegen.

"Die tiefgreifende Kursänderung wird einen negativen Effekt auf die Konjunktur haben, aber sie kann in zweierlei Hinsicht auch gut für uns sein", meint Lee. "Erstens könnte sie dazu beitragen, das Spekulationsfieber abzukühlen und das dadurch verursachte finanzielle und wirtschaftliche Ungleichgewicht abzubauen. Zweitens könnte eine weitgehende Korrektur des Marktes viele der zahlreichen Aktienkäufer dazu zwingen, wieder in produktivere Berufe zurückzukehren."

Wirtschaftsfachleute sind sich uneins darüber, wie stark sich der Fall des Aktienmarkts - von seiner Spitze von 12 500 Punkten am 10. Februar bis zu 2500 Punkten am 1. Oktober - während des restlichen Jahres auf die Konjunktur auswirken wird. Doch die meisten Beobachter stimmen darin überein, daß er die ursprünglich auf sieben Prozent veranschlagte Wachtumsrate um einen oder zwei Prozentpunkte herunterdrücken könnte. Diese Verlangsamung wird hauptsächlich dadurch zustande kommen, daß Investoren ihren persönlichen Konsum einschränken, da sie in Folge des Kurssturzes weniger Geld an der Börse verdienen. Branchen wie der Immobilien- und Autohandel, die Gastronomie und der Tourismus leiden unter Umsatzrückgängen. Geschäftsleute beklagen sich über eine schwächere Nachfrage seitens der privaten Investoren, die etwa 80 Prozent der 3 Millionen Aktienkonten innehaben.

Am härtesten und direktesten traf es jedoch die etwa 380 Maklerbüros, die in den letzten zwei oder drei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, um aus dem Boom der Aktienkäufe Kapital zu schlagen. Diese Firmen berechnen eine pauschale Kommission von 0,15 Prozent für alle Kauf- und Verkaufstransaktionen. Bis vor nicht langer Zeit, als das Handelsvolumen des Marktes mehr als 5 Milliarden US$ pro Tag betrug, erfreuten sie sich astronomisch hoher Profite. Nun ist der Umfang der täglichen Transaktionen auf etwa 1,5 Milliarden US$ gesunken, und fast alle Maklerbüros erleiden Verluste. Selbst die etwa 25 größten der Branche sind von diesem Schicksal nicht verschont geblieben. Zusätzlich zum Maklergeschäft bieten diese Firmen auch Versicherungsdienste an und kaufen und verkaufen Aktien auf eigene Rechnung.

Trotz schwerer Verluste sind bis Mitte 1990 nur wenige Schließungen von Maklerbüros bekannt geworden. Doch der Enthusiasmus, in das Maklergeschäft einzusteigen, hat sich sicherlich abgekühlt, zumindest für eine gewisse Zeit. Daten der Taipeier Börse zufolge haben 16 Maklerfirmen, die dieses Jahr ihre Geschäfte aufnehmen sollten, ihre Registrierung rückgängig gemacht.

Viele Beobachter des Marktes sagen eine unvermeidliche Schrumpfung der Branche voraus, wenn sich der Aktienhandel weiterhin auf seinem jetzigen niedrigen Stand bewegt. Der gegenwärtige Tagesumsatz von 1-1,5 Milliarden US$ reicht einfach nicht aus, um so viele Büros überleben zu lassen. Daniel Chiang(蔣國樑), stellvertretender Geschäftsführer der großen Maklerfirma International Investment Trust Company, gibt an, daß die Firma ein Handelsvolumen von mindestens 18,4 Millionen US$ pro Tag benötigt, um ohne Verluste zu arbeiten.

Chiang sagt, daß bis zu einem Drittel der 380 Maklerfirmen über kurz oder lang zur Schließung gezwungen sein könnten, während andere fusionieren würden, um ihre Geschäfte zu konsolidieren. "Im allgemeinen werden diejenigen Maklerfirmen die Schrumpfung überleben, die ihre Organisation modernisieren und den Investoren einen differenzierteren Service anbieten."

Während der Boomjahre des Marktes war, so wird angenommen, mindestens eine Million Menschen direkt am Aktiengeschäft beteiligt. Die meisten von ihnen hatten ihren Beruf aufgegeben oder ihr Geschäft geschlossen, um persönlich und hauptberuflich im Aktiengeschäft mitzuspielen. Der Boom des Aktienmarkts führte sowohl zu einem Niedergang der Produktivität als auch zu einem Wandel der Arbeitsethik. Die Menschen fanden, daß sie auf dem Aktienmarkt schnelles Geld machen konnten, und neigten dazu, die traditionelle chinesische Wertschätzung harter Arbeit zu vergessen.

Für Taiwans Aktienmarkt selbst waren die jüngsten Kursveränderungen, so scheint es, im Prinzip gar nicht so ungesund. Der steile Sturz des Marktkapitals von 257 Milliarden US$ im Februar auf 135 Milliarden US$ um die Mitte des Jahres war eine wichtige Korrektur der starken Überbewertung der Aktien. Die durchschnittliche Relation von Aktienpreis und Dividende, die in der jüngsten Vergangenheit mehr als das Hundertfache zugunsten der Dividende betrug, ist nun auf das 28fache gesunken, ein Zeichen dafür, daß der Markt gereift ist und sich den internationalen Standards angenähert hat. Danny Chan(陳少杰), geschäftsführender Direktor der Taipeier Fidelity Securities Investment Consulting Corporation, ist optimistisch über die Zukunft des Marktes. "Die Aktien, die eine gute Grundlage haben, werden auch gut gehen, während diejenigen ohne eine solche Grundlage schlecht gehen werden", meint er. Diese Haltung deutet auf einen wichtigen Wandel in den Anschauungen hin. Vielleicht wird das zuvor immer wieder zu beobachtende Phänomen, daß Aktienkurse weit über das Niveau hinausschießen, das durch die tatsächliche Geschäftsleistung der entsprechenden Firma gerechtfertigt wäre, bald der Vergangenheit angehören.

(Deutsch von Klaus Gottheiner)

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