14.05.2025

Taiwan Today

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Um der Liebe zur Kunst willen

01.07.1990
Einzug der Handpuppen: ein faszinierendes Beispiel chinesischer Volkskunst ist vom Aussterben bedroht.
"Ich bin von hiesigen Universitätsprofessoren auf's heftigste dafür kritisiert worden, daß ich Ausländer anstatt Chinesen im Handpuppen-Spiel unterrichte", sagt Lee Tien-lu (李天祿), der 81 Jahre alte Meister des Puppenspiels. "Angesichts der geringen Zahl an chinesischen Studenten, die daran interessiert sind, diese Fertigkeiten zu erlernen, kam ich zum Schluß, daß die beste Reaktion auf die Kritik war, mich über sie lustig zu machen. Ich sagte ihnen 'Wenn es euch schließlich bewußt wird, wie wichtig diese Volkskunst ist, können meine ausländischen Schüler euch ja lehren, wie man traditionelles Puppenspiel aufführt!'"


Lee sprüht offensichtlich förmlich vor Lebendigkeit, ganz genauso wie seine Puppen auf der Bühne. Sein Alter hat weder seiner Energie noch seinem Wunsch, die Volkskunst an jüngere Generationen weiterzugeben, Abbruch getan. Die Fertigkeiten, die er sowohl Ausländern als auch Einheimischen beibringt, sind in seiner Familie von Generation zu Generation weitergereicht und weiterentwickelt worden. Sein Urgroßvater, Großvater und Vater bestritten alle ihren Lebensunterhalt durch Aufführungen traditioneller chinesischer Puppenspiele -- zuerst in der Provinz Fukien auf dem Festland und danach in Taiwan.

Im Alter von nur neun Jahren begann Lee formal mit seiner Ausbildung als Lehrling seines Vaters. Ein Jahr später hatte er bereits genügend Techniken gemeistert, um in der Lage zu sein, der Assistent seines Vaters zu werden, mit 14 Jahren erhielt er ein festes Engagement von einer anderen Puppenspiel-Truppe in Taipei und bereits mit 17 hatte er mit Freunden sein eigenes Ensemble. Der nächste wichtige Abschnitt seiner Karriere begann, als er 22 Jahre alt und gerade frisch verheiratet war:

"Die Truppe meines Urgroßvaters war berühmt im Süden Fukiens und als mein Großvater die Truppe übernahm, machte er sie in Taiwan ebenso bekannt", sagt Lee. Lees Vater jedoch machte die Truppe noch berühmter, und Lee beschloß mit der Familientradition zu brechen, indem er sich selbständig machte, anstatt darauf zu warten, den Betrieb seines Vaters übernehmen zu können. 1931 gründete er die Yi-Wan-Jan (亦宛然) Truppe. Dieser Name sollte bald zu einem Synonym für überragende Leistung auf dem Gebiet der Puppenspiel-Kunst werden.

Während des Krieges löste Yi-Wan-Jan sich auf. Als Taiwan 1945 der Republik China zurückgegeben wurde, wurde das Theater wieder ins Leben gerufen und abermals erfreuten sich die Menschen an Lees Puppenspiel.

Lee Tien-lu, der international bekannte Puppenspielmeister, und zwei seiner Figuren.

In den frühen 50er Jahren wurden für Lee, während einer Reihe von Aufführungen, die er anläßlich der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag der Republik China gab, die Weichen für seine spätere Lehrtätigkeit gestellt. Einer der Zuschauer war Shen Chang-huan (沈昌煥), Direktor der Abteilung für Kulturelle Angelegenheiten des Zentralkomitees der Kuomintang. Shen war von Lees Fertigkeiten sehr beeindruckt und fragte ihn, ob er gewillt sei, gelegentlich mit seiner Abteilung zusammen zu arbeiten. Zwanzig Jahre später, als Shen sich vor ein ganz spezielles Problem gestellt sah, dachte er sofort an den Puppenspielermeister Lee.

Der Direktor eines französischen Museums, der in Hongkong Chinesisch studiert hatte, war sehr enttäuscht darüber, daß die Kunst des Puppenspiels auf dem chinesischen Festland so wenig gepflegt wurde. Also besuchte er Taiwan auf der Suche nach erfahrenen Puppenspielern und einer verfeinerteren Puppenspielkunst. Nach vergeblichen Mühen völlig frustriert, wandte sich der Museumsdirektor mit der Bitte um Unterstützung an das Zentralkomitee der Kuomintang. Shen wurde gebeten, ihm zu helfen. Es dauerte nicht lange und Lee wurde dem Museumsdirektor vorgestellt, der ihn fragte, ob er daran interessiert sei, französische Studenten in der Kunst des Puppenspiels zu unterrichten. Lee willigte voller Enthusiasmus ein, da er hierin eine ausgezeichnete Möglichkeit sah, ein breites internationales Publikum mit einer ganz besonderen chinesischen Kunstform vertraut zu machen.

Kurze Zeit später arbeiteten drei französische College-Studenten mit Lee in Taiwan. Von 1972 bis 1975 brachte er ihnen die grundlegenden Fertigkeiten bei und schließlich waren sie in der Lage, ein bestimmtes Stück aufzuführen. Hochzufrieden kehrten sie nach Frankreich zurück und andere baten darum, ihre Plätze einnehmen zu dürfen. Allmählich wurde Lee berühmt, und man bat ihn, Reisen zu unternehmen, um selbst vor einem ausländischen Publikum Stücke aufzuführen.

Ironischerweise war es so, daß just zu dem Zeitpunkt, da Lee die chinesische Puppenspielkunst im Ausland berühmt machte, diese Volkskunst in seinem Heimatland im raschen Schwinden begriffen war. Dies ging damit Hand in Hand, daß allmählich das traditionelle durch ein modernes Puppenspiel ersetzt wurde und so vertraute Züge der Darbietungen verlorengingen. Zum Beispiel wurden die Puppen nicht mehr vor Ort von Musikern begleitet -- in den modernen Shows kam alles vom Band. Das Ergebnis war eindeutig zweitklassig. Musiker können sich in Tempo, Lautstärke und Klangfarbe auf die Puppen und die Zuschauer einstellen; Musikbänder sind im Vergleich hierzu flach und langweilig.

Lee ist verständlicherweise über den Verfall der Puppenspielkunst in Taiwan sehr unglücklich und sagt: "Weder die Regierung noch die Intellektuellen haben irgendwas gesagt oder unternommen, um das traditionelle Puppentheater zu erhalten. Im Gegensatz zum wirtschaftlich weiter entwickelten Ausland, wo die Reaktion sehr positiv war, sind nur sehr wenige Einheimische daran interessiert, Puppenspiel zu lernen, da sie keinen finanziellen Anreiz dafür haben, ihre Zeit mit Volkskunst zu 'verschwenden'. Um die Kunstfertigkeiten vor dem völligen Schwinden zu bewahren, und um die chinesische Kultur im Ausland bekannt zu machen, beschloß ich, diesen Ausländern alles beizubringen, was ich über das Puppenspiel weiß und mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden!"

Weitergabe der Traditionen: Puppenspielmeister Lee mit jungen Schülern.

Das Jahr 1985 markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung, denn zu diesem Zeitpunkt begann man in der Republik China damit, das traditionelle Puppentheater zu fördern. Die Regierung führte den "Preis für die Wahrung des kulturellen Erbes" ein, um mit ihm Einzelne auszuzeichnen, die ihr Leben dem Erhalt und der Weiterentwicklung bestimmter Kunstgattungen gewidmet hatten. Lee, damals 76 Jahre alt, war unter den ersten sieben Meistern, die den Preis entgegennahmen. Daß die Öffentlichkeit begriffen hat, daß Puppentheater auch eine wichtige Art von nationaler Volkskunst ist, hat bereits dazu beigetragen, die Unterstützung für den gesamten Bereich zu verstärken.

Obwohl Volkskünste durch den Kunsterbe-Preis und andere neue Programme der Regierung ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt worden sind, bleibt doch noch viel zu tun, bis man sagen kann, daß das Fortbestehen der Volkskünste und traditionellen kunsthandwerklichen Fertigkeiten gesichert ist. Den größten Teil der Verantwortung hierfür trägt das Erziehungsministerium. Von dieser Seite trat man dann auch an Lee heran mit der Bitte, Vorschläge zu machen, wie man Kenntnisse der Kunst des traditionellen Puppentheaters an andere Menschen weiterreichen könnte. Das Fehlen der nötigen Geldmittel hat jedoch bislang große Erfolge auf diesem Gebiet verhindert.

"Ich schlug vor, die Regierung solle ein kleines Puppentheater ins Leben rufen", erzählt Lee. "Dieses Theater könnte gleichzeitig Schulungszentrum sein, und die Schüler hätten so die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, indem sie vor einem Publikum sowohl von Einheimischen als auch ausländischen Gästen Puppenspiele aufführen. Gegenwärtig gibt es keine Schule, die einen Theatersaal hat, der groß genug für so etwas wäre und Schüler, die jünger als 18 sind, erhalten keine Lizenz, die ihnen erlaubt, an Aufführungen teilzenehmen. Einem von der Regierung unterstützten Theater aber wäre es wohl möglich, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Leider wurde mein Vorschlag abgelehnt."

Das Ministerium hat jedoch wenigstens einige Studenten ausgewählt, die über gute Kenntnisse der klassischen chinesischen Schriftsprache verfügen, und sie beauftragt, Lee bei der Niederschrift von Manuskripten für Puppenspiele behilflich zu sein. In der Vergangenheit war es so, daß Puppenspieler gewöhnlich Stücke auswendig lernten, indem sie sie immer und immer wieder mit ihrem Lehrmeister wiederholten. Das Ministerium plant auch Videoaufzeichnungen von Puppenspielen anzufertigen, die einmal als Material für das Unterrichten dieser Kunst dienen sollen.

Mehr Ermutigung kam von inoffizieller Seite. 1985 gründete eine Gruppe von Professoren der Nationalen Taiwan Universität die Hsi-Tien-She-Stiftung (西田社基金會), deren Aufgabe es ist, traditionelle Volkskünste, wie das Puppenspiel, zu unterstützen. Einer der Mitglieder dieser Einrichtung, der Grundschullehrer Kuo Tuan-chen (郭端鎮), bat einen von Lees Söhnen, ihm bei seinem Studium des traditionellen Handpuppenspiels behilflich zu sein. Lee war erfreut über Kuos Enthusiasmus und ließ seinen Sohn mit dem Lehrer zusammenarbeiten. Diese Entscheidung zahlte sich aus, denn im Jahr 1986 erhielt Kuo von dem Direktor seiner Schule die Erlaubnis Wei-Wan-Jan (微宛然), die erste Kinder-Puppenspieler-Truppe der Republik China, zu gründen.

Nach vier Jahren Unterricht und Training war das Ergebnis unerwartet gut -- die Truppe wurde besonders wichtig für die Öffentlichkeitsarbeit, sowohl im In- als auch im Ausland. 1989 empfahl Lee die Kindertruppe statt seiner eigenen Yi-Wan-Jan-Truppe zu der alljährlichen "Künstlersaison" nach Japan zu schicken. Der Erfolg der jungen Künstler war auch Ansporn für eine wachsende Anzahl von Menschen in Taiwan, die meisten von ihnen College-Studenten oder Lehrer, Lee um Unterweisung im traditionellen Puppenspiel zu bitten. Es ergingen auch immer öfter Einladungen an ihn, in verschiedenen Orten in ganz Taiwan Vorträge zu halten und Anschauungsunterricht für größere Zuschauerkreise zu geben.

1987, während eines Sommerkurses für Puppenspiel, der von der Hsi-Tien-She-Stiftung finanziert wurde, war die Grundschullehrerin Chi Shu-ling (紀淑玲) eine Schülerin Lees. Nach Abschluß des Kurses fragte sie Lee, ob er daran Interesse hätte, bei der Unterweisung einiger ihrer jüngeren Schüler behilflich zu sein. "Da ich der Ansicht bin, daß es gut ist, wenn die nächste Generation so früh wie möglich damit beginnt, die nötigen Techniken zu erwerben, freute ich mich darüber, so eine Gelegenheit geboten zu bekommen", sagt Lee dazu. Kurz darauf wurde eine zweite Kinder-Puppenspiel-Truppe gegründet. Cheau-Wan-Jan (巧宛然) gibt es seit 1988, ihre ersten öffentlichen Aufführungen fanden im Mai 1989 statt.

Heute hat Lee Tien-lu, Meister der Volkskunst, etwa 400 Schüler, darunter auch 100 Ausländer. Etwa 200 Studenten sind aus Taipei, die restlichen 100 aus anderen Gegenden Taiwans. "Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich jetzt tue", sagt Lee. "Ich freue mich natürlich darüber, das tun zu können, was ein Preisträger tun soll, aber ich werde noch viel zufriedener sein, wenn meine Schüler die Kunst des Puppenspiels weiterführen können."

(Deutsch von Rina Goldenberg)

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