19.05.2025

Taiwan Today

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Neues aus der Werkstatt der Träume

01.09.1991
"Tumultes" von Bertrand van Effenterre, einem der bekannten Regisseure, die ihre Arbeit persönlich in Taipei vorstellten.

Photots mit freundlicher Genehmigung des Taipei Golden Horse International Film Festival, Executive Committee

Zwei Wochen lang war die sonst eher ruhige Changchun-Straße im Osten Taipeis, dort, wo sie die große Geschäfts- und Verkehrsader Sungchiang-lu kreuzt, das Mekka von Taiwans Cineasten, Kritikern und Angehörigen der Filmbranche: die beiden Säle des dortigen Changchun-Filmtheaters bildeten vom 8. bis zum 21. Dezember letzten Jahres den Schauplatz des nach seinem Hauptpreis, dem "Goldenen Pferd", benannten Filmfestivals. Von weitem schon war das Signet des Festivals, das "Weitblick" symbolisierende Auge, in vielfacher Ausfertigung auf den langen, bunten Fahnen zu erkennen, die von der Kinofassade herabwehten; ein fast unaufhörliches Gedränge von Filmenthusiasten, die die Eingänge umlagerten oder lange Schlangen bildeten, um noch eine Karte für diese oder jene Vorführung zu ergattern, kennzeichnete den Ort des Ereignisses, und zwischen den Arkadenpfeilern verbreiteten fliegende Händler und fahrbare Bratküchen unterdessen die Atmosphäre eines Nachtmarkts oder Tempelfestes.

Seit 27 Jahren werden in Taipei alljährlich die "Goldenen Pferde" für die besten in der Republik China produzierten Filme vergeben, seit zehn Jahren ist die Preisverleihung mit einer internationalen Filmschau verbunden. Während dabei die Bedeutung der Filmpreisvergaben als eine Art Gradmesser für die Situation des hiesigen Kinos seit ihrem Bestehen gewiß außer Zweifel steht, darf die Rolle der später hinzugekommenen internationalen Filmschau jedoch kaum geringer eingeschätzt werden.

Auf Taiwan gibt es, jedenfalls auf dem kommerziellen Sektor der Großkinos, nichts, was mit den deutschen "Programmkinos" zu vergleichen wäre, die regelmäßig Retrospektiven älterer Filme oder anspruchsvollere Kinowerke abseits des allgemeinen Publikumsgeschmacks zeigen. Allenfalls haben diese Rolle einige der in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossenen Videosalons (MTV) übernommen, die zuweilen ein sehr breitgefächertes Angebot internationaler Filme besitzen. Vor zehn Jahren gar war der ausländische Film in Taiwans Kinos fast ausschließlich durch das amerikanische Unterhaltungskino vertreten; eine Rezeption der wichtigen Entwicklungen im zeitgenössischen Film, der "Nouvelle Vague" in Frankreich etwa oder des "Neuen Deutschen Films", fand zu jener Zeit lediglich in kleinen, der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannten Studios oder in studentischen Zirkeln statt, die regelmäßige Filmvorführungen in Eigenregie organisierten. Die Bedeutung, die die Einrichtung der internationalen Filmschau für das Publikum, das sich ein umfassenderes Bild vom internationalen Filmgeschehen machen wollte, und damit für Taiwans Filmkultur schlechthin hatte, kann also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, und in Anbetracht der nach wie vor auch hier ungebrochenen Dominanz der Hollywood-Produktionen hat sie diese Bedeutung bis heute bewahrt.

Welches Interesse nämlich in der Tat (zumindest bei einem zahlenmäßig starken Teil des Publikums) für europäische und internationale Filme besteht, zeigte sich beispielsweise im vergangenen Herbst, als Peter Greenaways "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber", bei uns doch wohl eher ein Geheimtip hartgesottener Cineasten, in die hiesigen Kinos kam: der Film lief vor derart prallgefüllten Riesensälen, als handelte es sich, sagen wir, um "Indiana Jones III" oder "Rocky V". Die außerordentliche Resonanz, auf die das "Goldene-Pferd"-Festival alljährlich stößt, ist daher kaum verwunderlich.

Nun zeigte die jüngste Filmschau jedoch keineswegs allein Produktionen aus "klassischen" Filmländern wie Großbritannien, Frankreich, den USA, Deutschland oder Japan. Bewußt hatte man in diesem Jahr versucht, ein möglichst breitgefächertes Spektrum unterschiedlichster Kinosprachen aus den verschiedensten Ländern, nicht zuletzt aus denen der sogenannten "Dritten Welt", zu Wort kommen zu lassen. So gab es, um nur einige Beispiele zu nennen, Filme aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Finnland, der Sowjetunion, Ägypten, Israel, Ghana, Südafrika und Neuseeland zu sehen; insgesamt wurden 48 ausländische und 6 chinesische Filme gezeigt.

Zusätzlichen Glanz verlieh dem Festival die Anwesenheit einer Reihe international bekannter Regisseure, die nach Taipei gekommen waren, um dem Publikum in Diskussionsveranstaltungen und Seminaren ihre Arbeit vorzustellen. Unter ihnen waren der Franzose Bertrand van Effenterre ("Tumultes"), der japanische Regisseur Masahiro Shinoda, die beiden sowjetischen Filmemacher Alexander Askoldow und Jurij Illjenko, Ryszard Bugajski aus Polen sowie der Ghanaer Kwaw P. Ansah. Außerdem gab es Diskussionsveranstaltungen über Management- und Marketingtechniken im Filmwesen sowie über Urheberrechtsfragen.

Zudem war in diesem Jahr eine bedeutsame organisatorische Neuerung zu verzeichnen: zum ersten Mal wurde das Festival nicht mehr, wie in den 26 Jahren zuvor, vom Informationsamt der Regierung der Republik China veranstaltet, sondern es fand unter der Ägide eines im Juli 1990 gegründeten internationalen Festivalkomitees statt, das von dem bekannten Regisseur Lee Hsing (李行) geleitet wurde. Auch die 14 Preisrichter, die die insgesamt 16 "Goldenen Pferde" zu vergeben hatten, waren diesmal ausschließlich erfahrene Persönlichkeiten der Filmbranche, nicht mehr, wie zuvor, Regierungsbeamte und Wissenschaftler.

Eröffnet wurde das Festival bereits am 4. Dezember in Tainan; erst am 8. Dezember konnte das Taipeier Publikum die Premierenvorstellung im Changchun-Theater erleben. In einer Eröffnungsansprache erläuterte Lee Hsing auch das Motto, unter das die Veranstalter das Ereignis gestellt hatten: "Vermittlung der Kreativität und der Träume des Menschen". Jeder Film, so führte Lee aus, sei ein kollektives Werk; in ihm verwirklichten sich die individuellen Träume einer Vielzahl von Menschen, die an seiner Herstellung beteiligt waren. Es war kein Zufall, daß zum offiziellen Eröffnungsfilm des Festivals gerade ein Werk gewählt wurde, das ganz explizit den subjektiven Träumen seines Autors gewidmet ist - die jüngste Arbeit des Alt- und Großmeisters Akira Kurosawa, die denn auch den schlichten Titel "Träume" trägt.

Kurosawas Werk läßt sich in mancher Hinsicht als die letzte Konsequenz des individuellen Ausdruckswillens eines Filmautors betrachten: es sind tatsächlich geträumte und aufgezeichnete Träume, umgesetzt in das Medium Film, das hier von jedem Handlungs- und Spannungszwang befreit erscheint und damit, wenn man so will, die Möglichkeit hat, ganz zu sich selbst zu kommen: etwas, was vielleicht nur ein sehr alter oder aber ein sehr junger Regisseur wagen kann. Natürlich vermittelt Kurosawas Werk mit seinem Bogen der acht Traumepisoden, der von märchenhaft anmutenden Kindheitsträumen über die Schrecken von Krieg und kollektiver Weltkatastrophe bis zur Vision einer technikfreien Gesellschaft reicht, auch eine deutliche Botschaft, zugleich aber lädt es in besonderem Maße dazu ein, über Wesen und Möglichkeiten filmischen Ausdrucks, filmischer "Träume", wenn man so will, nachzudenken - in einer Zeit, in der die genuinen Filmträume bekanntlich immer mehr von der vorgestanzten Welt der Fernsehproduktionen verdrängt werden.

Als "filmischer Traum" ließe sich gewiß so manches der Kinowerke einstufen, die auf dem Festival gezeigt wurden: "Der Himmel über Berlin" aus dem Jahre 1987 etwa, Wim Wenders' elegisches Filmmärchen über den Traum eines Engels, ein Mensch zu werden, oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, ein in Taipei ein wenig am Rande der allgemeinen Aufmerksamkeit gezeigter Film von höchst verquerem Humor: "Leningrad Cowboys Go America" des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki, in dem eine Gruppe grotesk gezeichneter Musiker aus der sibirischen Tundra durch die Vereinigten Staaten gondelt, von einem erfolglosen Auftritt zum anderen und immer dem "amerikanischen Traum" hinterher - eigentlich eine Reise durch die musikalischen Stile und Landschaften der USA, plus einer Huldigung an den Kollegen Jim Jarmusch, der nicht nur filmisch zitiert wird, sondern in einer Szene auch persönlich auftritt, und zwar als Autohändler.

Von Träumen zu Alpträumen ist es manchmal nur ein Schritt, und oft ist es die Realität selbst, die den Stoff dazu liefert; sei sie nun symbolisch verfremdet wie in dem auch in Deutschland vielbeachteten Film "Schwanensee: die Zone" des Ukrainers Jurij Illjenko, mit allen Mitteln des Spannungskinos aufbereitet wie in Ken Loachs "Hidden Agenda" über Terror, Gegenterror und Menschenrechtsverletzungen in Nordirland, oder aber von einer scheinbar harmlosen Personenstudie (über das Verhältnis eines Jugendlichen zu seiner Mutter und deren Liebhaber) plötzlich in blankes, mörderisches Entsetzen umschlagend: so in "Solange die Fledermaus fliegt" des ungarischen Regisseurs Péter Timar; ein Film, der charakteristischerweise mit einer tatsächlichen Traumsequenz endet, einem Traum jedoch, der, paradox gesagt, zeigt, daß es aus dem Alptraum der Realität kein Erwachen gibt. - Die genannten Werke waren Teil der ersten und mit zwanzig Filmen umfangreichsten Kategorie des Festivals, "Internationaler Film", in der außerdem neben Filmen aus Frankreich, Schweden, Amerika, Japan und Kanada sowie zwei weiteren deutschen Filmen (Joseph Vilsmaiers "Herbstmilch" und Jörg Grasers "Abrahams Gold") als bemerkenswertester Zuschauererfolg der slowakische Streifen "Sedím na konári a je mi dobre" ("Die Schöne auf dem Ast") von Juraj Jakubisko hervorzuheben ist, dem das Publikum in Taipei stehende Ovationen brachte.

Es war jedoch ein Werk aus dem als Filmland noch weitgehend unbekannten Ägypten, das dem Motto des Festivals vielleicht am nächsten kam, und zwar dadurch, daß es die schöpferischen Antriebe und kollektiven Produktionsbedingungen des Filmschaffens selbst in den Mittelpunkt stellte: "Alexandrie encore et toujours" (so der französische Paralleltitel) von Youssef Chahine aus dem Jahre 1990. Im Zentrum des Werkes steht die Person des Regisseurs selbst und sein Traum, seiner Heimatstadt Alexandria ein filmisches Denkmal zu setzen. Dieser Traum wird, zumindest während der Filmhandlung, nie verwirklicht oder in Angriff genommen (obgleich wir annehmen können, daß - ein sehr "literarischer" Kunstgriff - der geplante Film mit dem vorliegenden identisch ist); statt dessen reflektieren in einem weiteren Handlungsstrang, bei dem es um Aktionen der Filmgewerkschaft gegen staatlichen Zwang und des Regisseurs eigene distanzierte Haltung dazu geht, lange Diskussionen die Produktionsbedingungen des Films schlechthin, während Rückblicke auf ältere Filmprojekte, bald musical-artig, bald grotesk, Szenen aus Alexandrias großer Geschichte nachstellen. Der Regisseur ist natürlich niemand anderes als Chahine selbst; in dieser Identifizierung von Schöpfer und Hauptgestalt ist der Film dem Werk von Kurosawa, aber auch Fellinis "8 1/2" vergleichbar, doch anders als in jenen Werken inszeniert Chahine nicht nur die eigene Person, sondern spielt sie auch selbst (und stellt darüber hinaus auch seine Qualitäten als Sänger, Tänzer und Basar-Fechtkünstler zur Schau). Es ist sicher kein Zufall, daß gerade dieser Film die besondere Aufmerksamkeit von Taiwans Filmkritik erregte; so erschien etwa in der Filmzeitschrift "Imagekeeper Monthly" ein zweiseitiger Essay über "Alexandria", in dem der Autor den Film mit einem "verschwenderisch reichen Festmahl" verglich und schrieb: "Die Spannung zwischen Traum und Wirklichkeitserfahrung ist ein unabdingbarer Motor der kreativen Energie. In 'Alexandrie encore et toujours' hat der Regisseur Chahine seine eigenen Träume und Erfahrungen in eine Folge von Bildern verwandelt, die mit überwältigender Kraft vor dem Auge des Betrachters auftauchen und wieder verschwinden" - eine zutreffende Beschreibung der filmischen "Traumarbeit", die dieses Werk leistet.

Träume, kein Zweifel, können in Alpträume umschlagen; darüber hinaus aber können filmische Träume, selbst wenn sie realisiert wurden, von einer übermächtigen und brutalen Realität daran gehindert werden, je auf die Leinwand und damit ins Leben zu treten; sie können, wenn nicht ein günstiges Geschick eingreift, verboten, in den Giftschränken der Zensur verschlossen und auch vernichtet werden. Das zeigte die Sparte "Befreites Kino", die vier Regisseure aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen vorstellte, deren zuvor verbotene Werke erst durch die jüngsten Ereignisse in der Sowjetunion und Osteuropa ans Licht der Öffentlichkeit und der Vorführgeräte getreten sind.

Einer von ihnen war Alexander Askoldow, dessen Film "Die Kommissarin" erst mit zwanzigjähriger Verspätung, nach seiner durch die Perestroika ermöglichten Wiederentdeckung, sein Publikum erreichte. Das 1967 entstandene, im russischen Bürgerkrieg spielende Werk, in dem eine Kommissarin der Roten Armee im Haus einer armen, vom Pogrom bedrohten jüdischen Familie ein Kind zur Welt bringt und es dort zurückläßt, um sich wieder ihrer Truppe anzuschließen, war mit Recht die Sensation der Berlinale 1988 gewesen. An einem ruhigen Sonntagnachmittag, in unmittelbarem Anschluß an die mit anhaltendem Beifall quittierte Aufführung der "Kommissarin" im Kleinen Saal des Changchun-Theaters, trat Askoldow selbst, zusammen mit seiner Frau, der Historikerin Swetlana Askoldowa, vor sein Taipeier Publikum.

Noch könne er es kaum glauben, hier zu sein, erklärte er, kaum daß er auf dem Podium Platz genommen hatte. Am Abend zuvor erst seien er und seine Frau aus Moskau abgeflogen; nun, da sie in Taipei seien, komme es ihm vor, als hätten sie auf ihrer Reise eine "Mauer aus Glas" durchstoßen. Jeder im Saal wußte, worauf Askoldow damit anspielte: auf die vier Jahrzehnte der politischen und kulturellen Abschottung zwischen der Sowjetunion und der Republik China, die erst durch die aufsehenerregenden Aktivitäten der letzten Monate aufgebrochen worden war, durch die Reisen sowjetischer Wirtschaftsdelegationen nach Taiwan und, spektakulärstes Ereignis, durch den Besuch des Bürgermeisters von Moskau im November. Erst seit April 1990 war es überhaupt gestattet, Filme aus der Sowjetunion ein- und aufzuführen. Geradezu bildkräftig wurde das Erwachen der Beziehungen zwischen beiden Ländern aus ihrem Dornröschenschlaf durch die Gestalt des chinesischen Dolmetschers verkörpert, der Askoldows Ausführungen übersetzte, eines älteren Herrn mit ehrfurchtgebietendem weißen Solschenizyn-Bart, der sein Handwerk noch während des chinesisch-japanischen Krieges gelernt hatte.

Die "Mauer aus Glas" zwischen Taiwan und der Sowjetunion zeigte ihre Spuren jedoch auch in einem gewissen Mangel an Kenntnissen über den Hintergrund, vor dem "Die Kommissarin" entstanden ist. So positiv das Werk in Taipei aufgenommen wurde (es lief später mit großem Erfolg auch in den regulären Kinoprogrammen), machte die Diskussion mit dem Publikum auch deutlich, daß das Ausmaß an Provokation, das der Film bis in die jüngste Zeit hinein für die Sowjetunion bedeutete, anscheinend nicht ganz erkannt worden zu sein schien. Zuschauerfragen konzentrierten sich zumeist auf das Problem des Antisemitismus und auf Askoldows Ansichten über Liebe und Toleranz, und eine bekannte Filmkritikerin bekundete kaum verhüllten Unglauben über die Tatsache, daß das Werk, dessen Ende doch durchaus ideologisch "korrekt" sei, eine solche Brisanz besessen habe. Hier schaltete sich Swetlana Askoldowa ein; sie wies auf die prominente Rolle der Religion in dem Film hin, ein Element, das den damaligen Machthabern unerträglich erschienen sein muß, und gab eine lebendige Schilderung der Umstände, unter denen der Film gedreht wurde, des Versteckspiels mit den Behörden und des endgültigen Verbots des Films. Askoldows Frau, das wurde dabei deutlich, verdanken wir es auch, daß der Film seine Verdammung überhaupt überlebt hat: sie war es, die heimlich eine Kopie der Filmrollen vor der Vernichtung rettete und sie zwei Jahrzehnte lang, quasi im Wäscheschrank, aufbewahrte.

Eine ähnlich aufregende Überlebensgeschichte wie die "Kommissarin" hatte der Film "Das Verhör" des seit 1985 in Kanada lebenden polnischen Regisseurs Ryszard Bugajski, der ebenfalls anläßlich des Festivals nach Taipei gekommen war. Sein Werk, das auf authentischen Berichten von Gefangenen der polnischen Sicherheitspolizei in den fünfziger Jahren beruht, entstand 1980/81, unbeaufsichtigt von den Behörden, die zu beschäftigt mit den Aktivitäten der damals vorübergehend legalen Gewerkschaft "Solidarität" waren. Doch drei Tage vor Abschluß der Dreharbeiten, so berichtete Bugajski seinem Publikum, wurde ein sofortiges Drehverbot ausgesprochen. Bugajski vollendete den Film dennoch unter großem Risiko und machte heimlich eine technisch mangelhafte Videokopie, die im Untergrund verbreitet wurde. So viele Kopien wurden von Bugajskis Originalvideo gemacht, daß der in Farbe gedrehte Film heute fast wie ein Schwarzweißfilm aussieht. "'Das Verhör' ist ein Film über die Menschenwürde", sagte Bugajski in Taipei. "Er zeigt, daß es wert ist, für sie zu kämpfen, und daß dieser Kampf auch gewonnen werden kann."

"Filme aus Afrika und Asien" (hier "Heritage Africa" von Kwaw P. Ansah) zeigen die Identitätssuche dieser Länder und spiegeln Lösungen wider, die denen Taiwans vergleichbar sind.

Ein besonders wichtiger Teil des Festivalprogramms war die Abteilung "Filme aus Asien und Afrika", wichtig nicht zuletzt deshalb, weil, wie die hiesige Filmkritik hervorhob, die in diesen Werken angesprochenen Probleme oft genug auch für Taiwan von bedeutender Aktualität waren. So schrieb etwa der Kritiker Lin Chün (林均): "In einer Zeit gewaltiger Umwälzungen auf Taiwan, in der zugleich das Bewußtsein für die eigene Kultur und die Probleme der Gesellschaft immer mehr gewachsen ist, spiegeln die Filme aus Asien und Afrika, die während des diesjährigen Festivals des "Goldenen Pferdes" gezeigt wurden, genau diese gleiche unaufhaltsame Tendenz wider. In den Filmen jener von Not und Krisen heimgesuchten Länder vermag der Betrachter Probleme und Lösungsversuche zu finden, die denen auf Taiwan vergleichbar sind."

Es war denn auch ein gemeinsames Leitmotiv, das fast alle der zwölf Kinowerke aus Ägypten (der bereits erwähnte "Alexandrie"-Film), Israel, Indien, Südkorea, Japan, Ghana, Südafrika, Australien und Neuseeland (plus einem in Belgien und Frankreich produzierten Film des Palästinensers Michel Khleifi) durchzog - vielleicht exemplarisch dargestellt in dem Film "Heritage Africa" des ebenfalls nach Taipei gekommenen Ghanaers Kwaw P. Ansah; er handelt von einem schwarzen Regierungsangestellten während der Kolonialzeit, der verzweifelt versucht, sich den weißen Herren soweit wie irgend möglich anzupassen, um am Ende doch zur einheimischen afrikanischen Kultur zurückzufinden.

Zumindest zwei Filme dieser Kategorie entzogen sich freilich einer so einfachen Charakterisierung; sie bewegten sich im Gegenteil weitgehend in einer kulturell geschlossenen (wenn auch keineswegs bruch- und konfliktfrei gezeichneten) Welt und Denkweise. In dem indischen Film "Die Geburt" von Shaji (Shaji N. Karun) erträgt ein Vater im Gedanken an den ewigen Kreislauf der Existenzen mit fatalistischem Gleichmut den Tod seines Sohnes in einem Polizeigefängnis. In "Aje aje bara aje" des Südkoreaners Im Kwon-taek (der Titel ist die koreaniche Fassung einer Sanskritformel aus dem buddhistischen Herz-Sutra, die etwa mit "Geh, geh, geh hinüber" zu übersetzen ist), einem bemerkenswerten Beispiel für das im jüngsten koreanichen Kino so auffällig häufige Aufgreifen buddhistischer Themen, wird der Weg eines jungen Mädchens dargestellt, das ins Kloster geht, von dort wieder verwiesen wird, die Leiden und Abgründe der "Welt" erfährt und wieder zum Kloster zurückkehrt, all das in einer ruhigen, sachlichen, vollkommen unpathetischen Erzählweise geschildert, die überdies keineswegs eine eindeutige Botschaft vermittelt: auch das Kloster ist für das Mädchen keine Zuflucht; der Anweisung der sterbenden Äbtissin zum Trotz wird sie nicht von den Nonnen aufgenommen, und wir sehen sie lediglich in die Nacht hinausgehen, entschlossen, der verehrten Meisterin "tausend Gedenkpagoden" zu errichten.

Das "Aufeinanderstoßen verschiedener Kulturen" darzustellen, beschreibt auch der japanische Regisseur Masahiro Shinoda als sein Hauptanliegen. In jedem der von ihm in Taipei gezeigten Filme, so erläuterte er dem Publikum während einer Diskussionsveranstaltung über sein Werk, sei dieses Thema gegenwärtig: in dem 1986 in Berlin mit dem "Silbernen Bären" ausgezeichneten "Gonza der Speermann" das Hereinbrechen der modernen Welt in das feudale Japan, das die Künste des Speermeisters Gonza nutzlos werden läßt, in dem Film "Takeshi: Die Zeit der Kindheit" die Konfrontation eines Jungen aus Tokyo, der gegen Ende des Krieges aufs Land geschickt wird, mit der völlig anderen Lebens- und Denkweise der Dorfkinder (beide Filme standen übrigens an der Spitze der Beliebtheitsskala bei den Besuchern des Festivals).

Shinoda war einer der beiden Regisseure, die im Zentrum der fünften und letzten Sparte des Festivals, "Regisseure im Brennpunkt", standen. Der 1931 geborene Filmemacher, einst zusammen mit Oshima als Vertreter einer "neuen Welle" Anfang der sechziger Jahre angesehen, erläuterte auf dem genannten Seminar im Changchun-Filmtheater auch die Entstehungsbedingungen seiner Filme wie etwa die zwei Jahre dauernde Arbeit an "Takeshi": die mühselige Auswahl der Kinderdarsteller aus über tausend Kandidaten, das detailgenaue Nachstellen des Kriegszeit-Ambientes oder die Probleme, die sich daraus ergaben, daß seine Schauspieler innerhalb von zwei Jahren beträchtlich gewachsen waren. Von großem Interesse waren auch seine Erinnerungen an Yasushiro Ozu, dessen Regieassistent er gewesen war und den er immer wieder als seinen Lehrmeister bezeichnete.

Ein Teil der Aufmerksamkeit des Publikums wurde dem ruhigen und fast unauffällig wirkenden Shinoda allerdings durch die beiden weiteren Gäste entzogen, die mit ihm auf das Podium getreten waren: seine Frau, die Schauspielerin Shima Iwashita, die die weiblichen Hauptrollen in den Filmen "Gonza der Speermann" und "Takeshi" gespielt hatte, und den Produzenten von "Takeshi", den unter dem Namen Fujio Fumiko "A" (im Unterschied zu einem Mitarbeiter Fujio "F" Fumiko) bekannten Schöpfer bzw. Koautor einer Reihe von Comic-Serien, die sich in Japan wie auch in Taiwan ungeheurer Popularität erfreuen; er war es auch, der den ursprünglich auf einer Romanvorlage beruhenden "Takeshi" zunächst als Folge von Comicstrips gestaltet hatte, die in einer Jugendzeitschrift erschienen war.

Das Aufeinanderstoßen verschiedener Kulturen - es hätte kaum augenfälliger inszeniert werden können als zu Beginn des dritten Shinoda-Films, der in Taipei gezeigt wurde, der "Tänzerin". Eine Stimme aus dem Off hält Rückschau. Sie spricht Deutsch, ein Deutsch jedoch mit deutlichem japanischem Akzent, während die Filmbilder dazu ein Stück Wüste zeigen, durch das weißgewandete Beduinen ihre Kamele führen. Es ist der Rückblick eines aus Deutschland zurückkehrenden (und eben den Suez-Kanal passierenden) Japaners auf eine schuldhaft und tragisch endende Liebesbeziehung zu einer jungen Deutschen (man schreibt etwa das Jahr 1890). Die Irritation, die dieser die Kulturen förmlich über Kreuz spannende Filmanfang unweigerlich bei den Zuschauern erweckt, war zumindest im Taipeier Vorführraum einen Augenblick lang fast mit Händen zu spüren. Einen Augenblick lang, denn dann wird diese (die schmale Vorlage stark erweiternde) Verfilmung einer stark autobiographischen Erzählung des japanischen Klassikers Mori Ogai, die viele als den Beginn der modernen japanischen Literatur ansehen, doch recht konventionell, ja melodramatisch weitererzählt. Zumindest für den deutschen Betrachter ist sie jedoch noch aus einem weiteren Grund interessant: nicht nur berichtet das Werk von einer Begegnung der Kulturen, sondern es ist auch selbst das Resultat einer interkulturellen Kooperation; 1988 fast ausschließlich in Ost-Berlin gedreht und mehrheitlich mit ostdeutschen Schauspielern besetzt, ist es in Zusammenarbeit mit der alten DEFA entstanden, und es ist denn auch der redliche und ein wenig schulfunkhafte Realismus aus Babelsberg, der das Filmopus, wenn auch vom Regisseur kaum so gewollt, prägt.

Der zweite im "Brennpunkt" vorgestellte Regisseur war der durch die beiden (unter anderem vom Deutschen Fernsehen mitfinanzierten) Filme "Ein kurzer Film über die Liebe" und "Ein kurzer Film über das Töten" international bekannt gewordene polnische Regisseur Kryzstof Kieslowski. Beide genannten Filme sind eigentlich erweiterte Episoden aus einer monumentalen Serie aus zehn einstündigen Filmen über das Thema der "Zehn Gebote", das Kieslowski für das polnische Fernsehen verwirklicht hat. Diese Serie, der "Dekalog", war jetzt vollständig auf dem Taipeier Filmfestival zu sehen, mit bemerkenswertem Erfolg bei Publikum und Kritik: die bereits erwähnte Zeitschrift "Imagekeeper Monthly" etwa nutzte die Gelegenheit, um den Regisseur, obgleich auch auf Taiwan kein Unbekannter mehr, in einem dreißigseitigen Sonderbeitrag vorzustellen.

Es sind keine wörtlichen Illustrationen der "Zehn Gebote" und auch, wie der Regisseur betont, "keine Filme über Religion". Vielmehr werden auf nicht immer leicht durchschaubare Weise, und vor allem ohne eindeutige Antworten zu liefern, anhand verschiedener Bewohner eines sozialistisch-eintönigen Vorstadt- Hochhauskomplexes moralische Konflikte und Probleme des Lebens angesprochen. Es sind keine Filme über Religion, gewiß, und doch wird hier mit großem Ernst eine Auseinandersetzung mit der Religion geführt, die oft in widersprüchliche und verstörende Bilder gerinnt. Im "Ersten Gebot" etwa stößt der Vater, der in blindem Glauben an die Berechenbarkeit der Welt den Tod seines Sohnes mitverschuldet hat, in seiner Verzweiflung den Altar vor einem riesigen Marienbild um: das Wachs der Altarkerzen spritzt auf das Bild und läuft die Wangen der Madonna herab wie Tränen.

Ein Showereignis: die Preisverleihung während des "Goldenen Pferd"-Filmfestivals. Im Hintergrund die Plakate von sechs für den "besten Spielfilm" nominierten Filmen.

Glanzvoller Höhepunkt des Festivals war die Verleihung der "Goldenen Pferde", dieser chinesischen Verwandten all der goldenen Löwen, Palmen und Bären, der Oscars und Césars, am Abend des 15. Dezember. Die dreistündige Veranstaltung im Nationaltheater Taipei, in der wie üblich alles anwesend war, was Rang und Namen in Filmwesen, Showbusiness und Politik hat (prominentester Gast war Premierminister Hau Pei-tsun), wurde von der bekannten Schauspielerin und Showmasterin Chang Hsiao-yen (張小燕) und ihrem Hongkonger Kollegen James Wong (黃霑) geleitet. Unmittelbar zuvor, am 14. und 15. 12., waren die Preisrichter in einem Taipeier Hotel zusammengekommen, um über die Empfänger der sechzehn Preise zu entscheiden, die für herausragende Leistungen auf so verschiedenen Gebieten wie Filmmusik, Kostüme und Make-up, Kameraführung, Drehbuch und so fort zu vergeben waren. 50 Spielfilme, sieben Dokumentarfilme und ein Zeichentrickfilm aus Taiwan bzw. aus Hongkong waren nominiert, sechs davon für den wichtigsten Preis, den für den "besten Spielfilm". Zum ersten Mal wurden die ausgewählten Filme auch im Rahmen des Festivalprogramms parallel zur internationalen Filmschau vorgestellt.

Die Auswahl dieser sechs Filme zeigt deutlich das Bestreben, möglichst unterschiedliche Gattungen und Tendenzen im heutigen chinesischen Film zu repräsentieren. So findet sich das aufwendig gestaltete Melodram vor dem Hintergrund der Wirren von Chinas jüngster Geschichte; zwei Filme, die sich auf so etwas wie die Suche nach einer "chinesischen Identität" machen, dargestellt in der Konfrontation ihrer Helden mit dem Leben im Ausland; sodann zwei Werke sehr junger Filmemacher, in denen demgegenüber die Frage nach der kulturellen Identität Taiwans im Mittelpunkt steht; schließlich, wie könnte es fehlen, das im Ausland wahrscheinlich immer noch bekannteste "chinesische" Genre, der nicht immer ganz korrekt so genannte "Kung-fu"- oder "Kampfkunst"-Film.

Letztgenannte Gattung wird vertreten durch den Film "Der Schwertkämpfer" (笑傲江湖) nach einem Roman des "Kampfkunst"-Klassikers Chin Yung (金庸), gedreht von einem Team aus vier Hongkonger Regisseuren: Altmeister King Hu (胡金銓), der im Westen vor allem durch "Ein Hauch von Zen" (1972) bekannt geworden ist, Wai-man Lee (李惠民), Kampfszenenspezialist Siu-tung Ching (程小東) sowie Hark Tsui (徐克), dessen "Peking Opera Blues" (刀馬旦) von 1986 auch in manchen deutschen Kinos zu sehen war.

Der Film, der zwei "Goldene Pferde" erringen konnte, nämlich je eines für den "besten Nebendarsteller" (Jacky Cheung 張學友) und den "besten Filmsong" (mehr geröhrt als gesungen von dem obengenannten James Wong), ist sicherlich ein klassischer Vertreter seines Genres; freilich werden seine Mittel (einschließlich einer alle Verfremdungseffekte nutzenden Kameraführung und Schnittechnik) derart manieristisch auf die Spitze getrieben, daß sie für den unvoreingenommenen Betrachter hart ans Surreale grenzen. Wie bei den meisten Streifen dieser Art bildet die Handlung (die hier um ein aus der kaiserlichen Bibliothek entwendetes Manuskript mit geheimen Kampfmethoden sowie einen verräterischen Führer der Hua-shan-Schwertkampfsekte kreist) kaum mehr als den Anlaß für eine mit atemberaubender Geschwindigkeit abschnurrende Folge von (Schwert-) Kampfszenen zu Lande, zu Wasser und vor allem in der Luft, während unterdessen die schöne Häuptlingin eines Miao-Bergstamms und ihre Helferin mit Schlangen, giftigen Bienenschwärmen und allerhand Zaubermitteln arbeiten und sich am Schluß erneut filmentscheidend in den Kampf einschalten - wobei auch mal zu exotischen Feuerwaffen gegriffen werden darf, um einem bösartigen Eunuchen den Garaus zu machen. Und so kommt es denn, daß der junge Held, der in all das verwickelt wurde, am Schluß gleich mit drei Frauen auf einmal davonreiten darf (die Tochter des gerade eigenhändig besiegten Meisters eingeschlossen) - während der Film seinen Hauptgegenstand unterdessen ganz vergessen zu haben scheint: die bewußte Schriftrolle, die der angstvolle Zuschauer, wenn er sich recht erinnert, zuletzt in den Händen des noch immer unbestraften Oberbösewicht gesehen hat. Oder ist da wieder einer dieser subtilen Kunstgriffe, eine bewußte Durchbrechung der Genreregeln? - fragt sich der Zuschauer, während er taumelnd und betäubt das Kino verläßt.

Ein immer wiederkehrendes Charakteristikum neuerer chinesischer Filme (zumal solcher von Regisseuren aus Hongkong) ist etwas, was man die Suche nach der "chinesischen Identität" nennen könnte. Diese Suche spielt sich ebenso vor dem weiten geographischen Spannungsfeld des modernen "Chinesentums" (Taiwan, das chinesische Festland, Hongkong, Amerika usw.) ab wie vor dem Hintergrund der jüngeren chinesischen Geschichte mit ihren Wirren und Umbrüchen. Der Film "Lied aus dem Exil" (客途秋恨) der 1947 geborenen Regisseurin Ann Hui  (許鞍華), der in den siebziger Jahren spielt, kann als Musterbeispiel für diese filmische Suche gelten.

Ein Telegramm ruft die junge Heldin Huei-yin (dargestellt von Margaret Cheung 張曼玉) von ihrem Studienort London nach Hongkong zurück, zur Hochzeit ihrer Schwester. Bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft brechen Konflikte zwischen ihr und ihrer Mutter (Lu Hsiao-fen 陸小芬 aus Taiwan) aus. Die Mutter, so erfahren wir aus Rückblicken, ist Japanerin; ihr Vater hatte sie bei Kriegsende in der Mandschurei kennengelernt und geheiratet. Nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung mit der Tochter beschließt die Mutter, wieder ihre Heimat zu besuchen, und Huei-yin erklärt sich bereit, sie dorthin zu begleiten. Während die Mutter nach Jahrzehnten im Ausland wieder mit ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Jugend konfrontiert ist, wird das Erlebnis für Huei-yin zu einem Katalysator, der sie ihre eigene chinesische Identität neu fühlen läßt: nach Hongkong zurückgekehrt, erlebt sie angesichts von Fernsehbildern aus dem China der Kulturrevolution erstmals ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Volk und Land. Die letzte Station dieser filmischen Reise ist das chinesische Festland. Die Großeltern, bei denen Huei-yin aufgewachsen ist, waren Jahre zuvor in patriotischem Pflichtbewußtsein nach China zurückgekehrt und leben nun unter drückendsten Umständen in Kanton, wo Huei-yin sie besucht, und dort, wie in einer unaufgelösten Dissonanz verklingend, endet auch der Film.

"Lied aus dem Exil" ist bereits mehrfach preisgekrönt worden: 1990 erhielt der Film in Rimini den Preis für "beste Regie", und im gleichen Jahr teilte er sich zusammen mit einem südkoreanischen Kinowerk den Preis für den "besten Film" auf dem 35. Asiatisch-Pazifischen Filmfestival in Kuala Lumpur. In Taipei wurde ihm der Preis für das "beste Originaldrehbuch" zuerkannt; sein Autor ist der Schauspieler und Schriftsteller Wu Nien-jen (吳念真), der auch Hou Hsiao-hsien's berühmte "Stadt der Trauer" mitverfaßt hatte.

Ein weiterer Film aus Hongkong, der den Zwiespalt von Heimat und Fremde zum Thema der Gestaltung macht, ist der so gänzlich andersgeartete "Lebewohl, China" (愛在他鄉的季節) von Clara Law (羅卓瑤), der je ein "Goldenes Pferd" für den "besten Hauptdarsteller" (Tony Leung 梁家輝) und für den "besten Schnitt" erhielt. Das Werk erzählt von der Suche eines jungen Mannes aus der chinesischen Provinz Kuangtung nach seiner Frau (wiederum gespielt von Margaret Cheung), die 1988 mit einem Studentenvisum und dem Plan, Ehemann und Kind nachzuholen, nach Amerika gegangen war. Statt dessen kommt, als einziges Lebenszeichen, ein Jahr später ein Brief, der um die Scheidung bittet. Der junge Mann reist selbst in die USA, um seine Frau zu finden, geht durch alle Niederungen der amerikanischen Gesellschaft, arbeitet vorübergehend als Zuhälter und sieht sich mit den Problemen der Auswanderer, der Auslandschinesen, der Amerika-Chinesen konfrontiert. Am Ende trifft er seine Frau tatsächlich wieder, nur um festzustellen, daß sie - symbolischer Ausdruck des Zwiespalts zwischen zwei Kulturen - an Schizophrenie erkrankt ist. Dem ursprünglichen Konzept zufolge sollte der junge Mann daraufhin nach China zurückkehren. Unter dem Eindruck des T'ien-an-men-Massakers vom Juni 1989 gab die Regisseurin dem Film jedoch einen neuen, dramatischen und gewalttätigen Schluß: in einem New Yorker Park, zu Füßen einer Nachbildung der "Göttin der Demokratie" vom T'ien-an-men-Platz, wird der junge Mann von seiner geisteskranken Frau erstochen.

Um den sogenannten "Neuen Film" in Taiwan, der in den achtziger Jahren durch Regisseure wie Yang Te-chang (楊德昌) und Hou Hsiao-hsien (侯孝賢) auch international große Anerkennung gewonnen hat, ist es auffallend still geworden. Kein Angehöriger dieser einst so hoffnungsvoll angebrochenen Bewegung ist in jüngster Zeit mit einer neuen Arbeit hervorgetreten. Das chinesischsprachige Kino auf Taiwan wird weitgehend von Slapstick- oder Action-Filmen aus Hongkong dominiert, während die aufsehenerregenste - und aufwendigste - einheimische Produktion des letzten Jahres ein heroisches Epos über den Kampf der letzten nationalchinesischen Regimenter in Birma Anfang der fünfziger Jahre war. Kenner der Szene sprechen von einem weitverbreiteten Pessimismus in den Reihen der Filmkünstler, die sich durch die immer stärkere Kommerzialisierung der Branche, ihre Konzentration auf die Vermarktung von Videokassetten und eine mangelnde Förderung von Kinofilmen ihrer künstlerischen Möglichkeiten beraubt sehen.

Angesichts dieser Situation sind zwei der für das "Goldene Pferd" nominierten Filme von besonderem Interesse. Sie stammen beide von sehr jungen Regisseuren aus Taiwan, sind Low-Budget-Produktionen und setzen sich kritisch und auf neuartige Weise mit der sozialen und kulturellen Identität Taiwans auseinander. Ob sie - was zu wünschen wäre - Anzeichen für den Beginn einer neuen "Neuen Welle" in Taiwans Kino sind oder nicht, muß die Zukunft zeigen; ein interessantes und hoffnungsvolles Zeichen setzen sie allemal.

Der erste dieser beiden Filme, "Die Geschichte eines Gangsters" (刀瘟) aus dem Jahre 1989, stammt von dem 1963 geborenen Regisseur Yeh Hung-wei (葉鴻偉), der 1988 mit "Ewige Erinnerung" (舊情綿綿) debütierte. Der chinesische Originaltitel des vermutlich in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren spielenden Werkes bedeutet soviel wie "Der Fluch des Messers". Es ist das Messer, das der Vater des jungen Helden noch aus seiner Gangstervergangenheit besitzt - und zu dem nun sein Sohn Ah-hui greift, als man ihm die Freundin wegnehmen und mit dem Sohn des mächtigen Lokalpolitikers Yang verheiraten will. Ah-hui verwundet den Politiker und flieht mit dem Mädchen nach Taipei, verfolgt von einer Gangsterbande, die ihnen Yang nachgeschickt hat. Auch sein Vater begibt sich nach Taipei, um Ah-hui zu helfen, und wird dort statt seines Sohnes von Yang's Leuten umgebracht. In der nächsten Szene, der Hochzeit des Mädchens mit dem Sohn des Politikers, sieht man Ah-hui wieder auftauchen, das Messer in der Hand, um eine Rache zu nehmen, deren Ausgang wir nicht erfahren.

Und doch ist der "Fluch" in dem Film, den Worten seines Regisseurs zu folge, nicht der des Messers, sondern der eines "ambivalenten Gefühls" der einheimischen Taiwanesen gegenüber den als Bedrücker empfundenen Festlandchinesen und des Kreislaufs von Gewalt und Gegengewalt, den dieser Zwiespalt erzeugt hat. Yeh Hung-wei's Film, der ein "Goldenes Pferd" für das "beste Drehbuch nach einer Romanvorlage" erhielt (verfaßt von dem Schriftsteller Hsiao Yeh 小野), beschreibt damit, der dramatischen Handlung zum Trotz, genau und realistisch die Menschen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe und sozialen Schicht und zugleich eine bestimmte Epoche der jüngeren Geschichte Taiwans.

Auf vergleichbare, wenn auch stilistisch sehr unterschiedliche Weise setzt sich ein weiterer Film aus Taiwan mit der Problematik eines weiteren Teils der Bevölkerung auseinander, der der Ureinwohner: Huang Ming-chuan's (黃明川) "Der Mann aus dem Westen" (西部來的人) aus dem Jahre 1989, über den wir bereits in der diesjährigen Januar-Februar-Ausgabe berichtet haben. Huang, der zuvor mit photographischen Arbeiten hervorgetreten ist, fasziniert die Mischung der Kulturen, die auf Taiwan zu beobachten ist; Taiwan, so sagt er, war der nördlichste Punkt, bis zu dem die malaiisch-polynesische Kultur (die der Ureinwohner Taiwans) vorgedrungen ist, der östlichste Punkt des Vorrückens der chinesischen Kultur und schließlich der südlichste des japanischen Kolonialreiches und seines Kultureinflusses. In diesem Zusammenhang ist auch sein Film über die Identitätssuche eines Ureinwohners zu verstehen, der nach langen Jahren in der Stadt (dem "Westen" der Insel) in sein Heimatdorf zurückkehrt, nur um festzustellen, daß er weder dort noch hier wirklich heimisch ist; eine Suche, die in Parallele gesetzt ist mit einem alten Stammesmythos. Das Werk ist die Arbeit einer kleinen Gruppe von Filmenthusiasten, entstanden unter großen Schwierigkeiten und ohne die Beteiligung einer der großen Filmgesellschaften. Damit steht es neben den Goliath-Produktionen des kommerziellen Kinos wie ein David mit der Schleuder da, dem zwar kein Preissegen zuteil wurde wie der Großkonkurrenz aus Hongkong, der aber sehr wohl ein Zeichen setzen könnte für eine neue Richtung des künstlerischen Kinos auf Taiwan.

Nun aber zum unbestrittenen Hauptsieger des Festivals, dem Film "Roter Staub" (滾滾紅塵)* des Hongkonger Regisseurs Yim Ho (嚴浩), der neben dem "Goldenen Pferd" für den "besten Film" sieben weitere Preise davontrug, darunter denjenigen für die "beste Regie," für die "beste weibliche Haupt-" und die "beste weibliche Nebendarstellerin" sowie für die "beste Kameraführung" (sehr bemerkenswert: Poon Hangsang 潘恆生). Während Presse und Publikum den Film feierten, ahnte niemand, daß sein Erfolg nur wenig später von einem tragischen Ereignis überschattet werden würde: Chen Ping, die Verfasserin der Romanvorlage und des Drehbuchs, die unter ihrem Autorennamen San Mao (三毛) eine der bekanntesten und populärsten Schriftstellerinnen Taiwans gewesen war, nahm sich weniger als drei Wochen nach der Preisverleihung das Leben.

Lin Ch'ing-hsia, nach 18 erfolgreichen Jahren, für ihre Hauptrolle in "Roter Staub" als "beste Hauptdarstellerin" erstmals mit einem "Goldenen Pferd" ausgezeichnet.

Zum Erfolg von "Roter Staub" hat zweifellos, wie auch die Preisvergaben zeigten, das Aufgebot bekannter Schauspieler beigetragen, die in dem Film mitwirken. Hauptdarstellerin Lin Ch'ing-hsia (林青霞), eine der bekanntesten Schauspielerinnen Taiwans und seit achtzehn Jahren im Filmgeschäft, war bereits dreimal für ein "Goldenes Pferd" nominiert worden, ehe sie für ihre Rolle in "Roter Staub" preisgekrönt wurde. Sie spielt eine junge Schriftstellerin in der japanisch besetzten Mandschurei, die eine heftige Liebesbeziehung zu einem älteren Mann beginnt. Im Gegensatz zu ihrer Freundin, einer antijapanischen Aktivistin (wiederum gespielt von Margaret Cheung, die für ihre Rolle den Preis für die "beste weibliche Nebendarstellerin" zugesprochen bekam), fühlt sie sich in ihren Gefühlen dabei kaum durch die Tatsache irritiert, daß sich ihr Liebhaber als ein für die Japaner arbeitender Kollaborateur herausstellt. Alles wird anders nach der Kapitulation der Japaner: ihr Liebhaber muß sich auf dem Land verbergen, sie selbst läßt sich von einem älteren Geschäftsmann aushalten, ihre Freundin wird in den Wirren des Bürgerkriegs während einer Studentendemonstration erschossen. Schließlich kommt es zu einer Wiederbegegnung zwischen den Liebenden; man schreibt das Jahr 1949, und beide versuchen, das letzte Schiff zu erreichen, das nach dem Fall der Nationalregierung nach Taiwan abgeht. In einer langausgezogenen Schlußszene, in der ungeheure Flüchtlingsmassen, verzweifelt einander abdrängend, auf das Schiff zu gelangen suchen, gelingt ihm schließlich die Einschiffung, während sie zurückbleibt. Der Epilog führt den ehemaligen Kollaborateur Jahrzehnte später noch einmal in die Heimat zurück, wo er erfährt, daß die Geliebte bereits lange zuvor gestorben ist. Das Schlußbild zeigt ihn, wie er in einer endlosen Schneewüste verschwindet.

Der Hauptsieger "Roter Staub" mit bekannten Schauspielern, nach dem Roman einer populären Schriftstellerin und ebenfalls auf die jüngere Geschichte Chinas Bezug nehmend.

Der Film spielt, wie gesagt, in der Mandschurei der vierziger Jahre. Es ist ein merkwürdiges und wohl kaum zufälliges Phänomen, daß nicht nur mehrere Kinofilme der letzten Zeit, sondern buchstäblich eine mehr oder minder triviale Fernsehserie nach der anderen in diesem umkämpften Teil Chinas angesiedelt waren, der bereits in Bertoluccis "Letztem Kaiser" eine so prominente Rolle spielte: jedenfalls treten die Konflikte, Widersprüche und widerstreitenden Kräfte in Chinas jüngster Geschichte wohl an keinem anderen Schauplatz so kraß und deutlich hervor. Und selbstverständlich hat gerade der Schluß von "Roter Staub", die Thematik von Flucht und Trennung, zudem unmittelbar mit der Geschichte Taiwans zu tun. Auch dieser Film ist also, so sehr die melodramatischen Elemente betont sind, Teil einer Suche nach der "chinesischen Identität", die einem manchmal als das geheime Grundthema so vieler chinesischer Regisseure der Gegenwart erscheinen möchte.

Das "Goldene Pferd", um im gern gebrauchten Bilde zu bleiben, galoppiert weiter dahin, einen Kometenschweif von glitzernden und strahlenden Film- und Publicity-Ereignissen hinter sich herziehend. Doch publizitätsträchtige Preise, ein Festival mit einer beeindruckenden Vielfalt in- und ausländischer Produktionen und Publikums- und Kritikererfolge wie "Roter Staub" vermögen nur vorübergehend die bange Frage nach der Zukunft des Kinos, nach der Zukunft "filmischer Träume" in der ganzen Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu unterdrücken. Eine Reihe der anläßlich des Festivals in Taipei anwesenden Regisseure äußerte sich in dieser Hinsicht ausgesprochen pessimistisch. Ryszard Bugajski beklagte das drohende Verschwinden lokaler Filmproduktion, für die angesichts des Ausstoßes der weltweit marktbeherrschenden Produktionsgesellschaften gar kein Bedarf mehr bestehe. Masahiro Shinoda sagte dem traditionellen Kino angesichts einer expandierenden Videoindustrie und des hochauflösenden Fernsehens HDTV, das dem Konsumenten in naher Zukunft Bilder von Leinwandqualität direkt ins Haus liefern wird, eine trübe Zukunft voraus. Eine ähnlich pessimistische Prognose habe ihm auch Hou Hsiao-hsien, mit dem er in Taipei zusammengetroffen war, für das Kino auf Taiwan gegeben. So geht das Medium Film überall auf der Welt mit widersprüchlichen Aussichten in die neunziger Jahre - und in das zweite Jahrhundert seines Bestehens: in seiner Existenz bedroht, doch auch, das hat das Taipeier Festival aufs neue gezeigt, mit einem gewaltigen Potential an filmischen Ausdrucksmöglichkeiten und Talenten ausgestattet. So bleibt nur zu hoffen, daß die Kraft zu träumen und der Wille und die Fähigkeit des Publikums, diese Träume mitzuträumen, das Kino auch über die nächsten Gefahrenklippen hinwegheben wird.

* Der Film lief auf dem Festival unter "Till the End of the World", während im Vorspann, dem chinesischen Originaltitel entsprechend, der Name "Red Dust" erschien.

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