Dieser Artikel der bekannten Filmkritikerin Chiao Hsiung-ping (焦雄屏) erschien erstmals im Januar 1988, noch bevor das "Neue Kino" Taiwans in Gestalt von international preisgekrönten Filmen wie Edward Yang's (楊德昌) "Terroristen" (恐怖份子) und Hou Hsiao-hsien's (侯孝賢) "Stadt der Trauer" (悲情城市) weltweit Anerkennung gewann. Heute dagegen ist die Situation des Kinos auf Taiwan von Pessimismus und Resignation gekennzeichnet; die großen Regisseure der achtziger Jahre scheinen, vorläufig zumindest, verstummt zu sein. Ist das "Neue Kino" auf Taiwan am Ende? Für eine solche Prognose ist es sicherlich zu früh; Chiao's Artikel jedoch liest sich heute bereits wie ein Rückblick, ja fast wie ein Abgesang auf eine beeindruckende Aufbruchsphase in Taiwans Filmgeschichte.
Das Konzept des "Neuen Kinos" in Taiwan wurde in den achtziger Jahren zu einem brandaktuellen Diskussionsgegenstand, besonders bei jungen Leuten und in den Medien. Die Aufregung wurde durch eine Gruppe von Regisseuren, alle im Alter zwischen dreißig und vierzig, verursacht, deren Werke sich in Stil und Inhalt von denen ihrer Kollegen grundsätzlich unterschieden. Ihre neuen Ideen erweckten den Eindruck, es seien radikale Reformen in der Filmindustrie im Gange, und sowohl Filmkritiker als auch das Publikum verfolgten die Entwicklungen mit größtem Interesse.
Die Neuerungen, in diesem Punkt sind sich alle einig, setzten 1982 ein, als die Central Motion Picture Corporation den Film "In unserer Zeit" herausbrachte, dessen vier Episoden von vier verschiedenen Regisseuren gedreht wurden. Genaugenommen liegt der Ursprung des "Neuen Kinos" in Taiwan weiter zurück, bei den frühzeitigen Versuchen von Wang Chu-chin in seinen Filmen "Die Legenden der Sechs Dynastien" und "Jene Tage im Himmel" und denen von Lin Ching-chieh in seinem Film "Studienzeit". "In unserer Zeit" unterschied sich insofern von diesen frühen Filmen, als daß er von Kritikern und den Medien besonders viel diskutiert wurde. Denn es lagen Veränderungen in der Luft, und das hatte einige ganz elementaren Gründe.
Erstens überfluteten Produktionen aus Hongkong den Filmmarkt Taiwans. Die gesamte Palette von Kung-Fu-Filmen bis hin zu Komödien wurde von Hongkong aus abgedeckt. Als Reaktion auf die Popularität der ausländischen Produktionen begannen einige Regisseure damit, die Ansätze ihrer Kollegen aus Hongkong zu übernehmen, eine Tendenz, die durch die Besuche der kreativeren unter den Regisseuren Hongkongs in Taiwan noch weiter gefördert wurde.
Zweitens war das Publikum die auf Taiwan produzierten Kung-Fu-Filme oder schmalztriefenden Romanzen - viele von ihnen Verfilmungen der Romane von Chiung Yiao (瓊瑤), die genau den Geschmack pubertierender Mädchen treffen - gründlich leid, "Geh dir bloß keine einheimischen Filme ansehen!", war ein gängiger Kommentar, der von gutem Geschmack und Intellektualität zeugte. In dem Bemühen, die Gunst des hiesigen Publikums zurückzugewinnen, entwickelten die Regisseure auf Taiwan ihre Version des "Sozialen Realismus", was dann im Endeffekt nichts anderes als eine Mischung aus Gewalt und Soft-Porno war. Das Publikum hatte also die Wahl zwischen triefendem Blut oder triefendem Schmalz - nicht gerade übermäßig stimulierende Alternativen.
Drittens traten die Printmedien auf den Plan. Einige Redakteure und Kritiker waren über das Ausmaß des Verfalls der Filmproduktion in der Republik China besorgt, und in den achtziger Jahren begannen sie damit, in Zeitungen und Zeitschriften über mögliche neue Richtungen und Wege zu schreiben und somit zur Meinungsbildung der Öffentlichkeit auf diesem Gebiet beizutragen.
Hou Hsiao-hsien's "Eine Zeit zu leben, eine Zeit zu sterben" (1985) stand am Beginn einer ganzen Serie autobiographischer Filme, in denen sich Regisseure mit dem Thema "Erwachsen werden" auseinandersetzten.
Anstelle die Spalten mit Klatsch und Tratsch über das Privatleben von Filmstars zu füllen, wandten sie sich also ernsteren Themen zu.
Die Feuilleton-Redaktion der "Commercial Times" unter ihrem Herausgeber Chan Hung-chih und den Chefredakteuren Chen Yu-hang und Lee Yung-chuan rief die Kritiker dazu auf, Konzepte des neuen Films zu verbreiten. Gleichzeitig begann die "United Daily News" damit, regelmäßig die Kolumnen "Chiao Hsiung-ping im Kino" und "Kino-Forum", deren Autor der Filmkritiker Edwin Huang (黃建業) war, zu veröffentlichen. Hier gab es nun mehr Tiefgang als dort, wo man sich auf das Sexualleben der Prominenten beschränkte.
Da beide Zeitungen hohe Auflagen haben, erreichten die Kolumnen eine breite Leserschaft, und die in ihnen vorgebrachte Bewertung der Filmindustrie auf Taiwan trugen so weitgehend zur öffentlichen Meinungsbildung bei, daß Filmemacher, Filmstudios und sogar die Regierung auf die schlechte Qualität von Filmproduktionen aus Taiwan aufmerksam wurden. Die Neubewertung der Situation und die erhöhten Erwartungen von Publikum und Filmindustrie gleichermaßen führten allmählich zu positiven Entwicklungen.
In den späten siebziger Jahren wurde die "Filmbibliothek" gegründet. Auch dies trug dazu bei, Verbesserungen in der hiesigen Filmszene herbeizuführen. In dieser Bibliothek wurde eine umfassende Sammlung internationaler Publikationen über Filme zusammengetragen, und man begann damit, internationale Filmfestspiele abzuhalten. Hier wurden qualitativ hochwertige Alternativen zu dem allgemeinen Kinoprogramm geboten, die das Kinopublikum auf Taiwan erstmals mit künstlerischen Filmen, und auch mit solchen, die nicht auf ein breites Publikum abzielen, in Berührung brachten.
Das geradezu explosionsartige Anwachsen des Videofilm-Marktes trug dazu bei, die Auswirkungen der für die Bibliothek importierten Filme noch zu vergrößern. Innerhalb nur weniger Jahre wurde der Markt vollständig internationalisiert, und die ortsansässige Filmindustrie sah sich aufgrund dieser Konkurrenz vor ernste finanzielle Schwierigkeiten gestellt.
Ein weiterer entscheidender Faktor für das Einsetzen der Neuerungen war die verbesserte Wirtschaftslage, die radikale Veränderungen der Lebensumstände und Lebensgewohnheiten mit sich brachte. Plötzlich schossen im eher ländlichen Taiwan moderne Städte wie Pilze nach einem Sommerregen aus dem Boden. Diese bildeten den Nährboden für neue, vor allem für Metropolen typische Kulturformen und die sie begleitenden Veränderungen der Vorlieben und Formen der Unterhaltung. Die Herausforderungen einer sich rasch verändernden Umgebung und die Notwendigkeit zu lernen, damit fertig zu werden, wurden alsbald zum Thema, im Alltag wie in Drehbüchern. Die altbekannte Wirklichkeitsflucht in den oberflächlichen Romanzen und Kung-Fu-Filmen war einfach nicht mehr aktuell.
Daß sich das Informationsamt der Regierung der Republik China mit der "Neuen Kino-Kultur" zu befassen begann, führte ebenfalls zu Veränderungen auf dem Filmsektor. Nachdem es eine Untersuchung der cineastischen Vorlieben der Studenten durchgeführt hatte, begann das Informationsamt damit, auf den Campussen Filmfestspiele abzuhalten. Darüber hinaus wurde der Filmpreis "Das Goldene Pferd" geschaffen, mit dem die ortsansässige Filmindustrie zu hoher Qualität ermutigt werden sollte. Das Amt proklamierte drei Richtlinien für die Filmindustrie: Internationalismus, Professionalität und Kunst. Die Industrie begann, auf die neue Atmosphäre und die damit verbundenen Herausforderungen zu reagieren, und es dauerte nicht lange, bis verschiedene Regisseure des "Neuen Kinos" sich auf internationalen Filmfestspielen einen Namen machten.
Der größte Unterschied zwischen den Regisseuren des "Neuen Kinos" und ihren Kollegen der älteren Generation ist, daß erstere die alten kommerziellen Formen von Wirklichkeitsflucht ablehnen. Sie beschränkten sich nicht mehr auf die Verfilmung seichter Liebesgeschichten oder die Schaffung von Kung-Fu-Helden. Mit noch nie dagewesener Ernsthaftigkeit suchten sie im Alltagsleben und der traditionellen Literatur nach Material, um aus ihm neue Geschichten zu spinnen. Ihr Ziel war es, hier und heute ein Bild von den Chinesen und für die Chinesen zu schaffen.
Diese Regisseure und Drehbuchautoren verarbeiteten oft eigene Erlebnisse und Erinnerungen, und da sie noch verhältnismäßig jung waren, wurde "Erwachsen werden" ihr Hauptthema. Dies hatte aber wiederum mehrere Gründe.
Der Episodenfilm "Sandwich-Mann", ein 1983 entstandenes Gemeinschaftswerk dreier Regisseure, gehört zu den frühesten Werken des "Neuen Kinos" auf Taiwan.
Für die Identitätssuche von Regisseuren wie Autoren war es von großer Bedeutung, sich über den persönlichen Reifungsprozeß in einer Welt, die in raschem Wandel begriffen ist, Gedanken zu machen. Die meisten von ihnen waren um das Jahr 1949 geboren, so daß die Kriege, Weltkriege und Bürgerkriege des zwanzigsten Jahrhunderts von ihnen nicht unmittelbar erlebt worden, sondern für sie nur Teil der Geschichte waren.
Sie richteten also das Augenmerk nicht auf das Kriegsgeschehen, sondern auf den geballten, geradezu überwältigenden Wandlungsprozeß, den Taiwan danach in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft erlebte. Da sie selbst in einer solchen Umgebung aufgewachsen waren, hatten sie am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn, oft mit verwirrenden und nachteiligen Folgen, Altes über Bord geworfen wird. Die Veränderungen im Denken waren nicht weniger gravierend als die des Landschaftsbildes, im Zuge derer plötzlich Städte aus Reisfeldern wuchsen und Schnellstraßen Schotterwege ersetzten.
Es überrascht nicht, daß die Aufgabe des Films darin gesehen wurde, Sinn in das ganze Geschehen zu bringen, indem die Geschichte aus der persönlichen Perspektive eines Regisseurs oder eines Drehbuchautoren erzählt wurde. So blühte das Genre des autobiographischen Films auf. Es war ein Glück für das Publikum auf Taiwan, daß der erste Film dieser Art Hou Hsiao-hsien's "Eine Zeit zu leben, eine Zeit zu sterben" (童年往事) war, denn so wurde das Publikum schon zu Beginn an ein besonders hohes Niveau der Technik und auch an ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen gewöhnt.
Zu Hou's Film gesellten sich schon bald andere autobiographische Werke wie Wu Nien-jens (吳念真) "Staub im Wind" (戀戀風塵) und der teilweise autobiographische Film "Sommer bei Großpapa" (冬冬的假期) von Chu Tien-wen (朱天文) und Hou Hsiao-hsien.
Abgesehen davon war auch die gleichzeitige und oft ineinandergreifende Zunahme autobiographischer und realistischer Filme der Grund dafür, daß die Regisseure aus Taiwan plötzlich den Geschmack des internationalen Kino-Publikums trafen. Es wurden die Geschichten von Menschen erzählt, vor dem Hintergrund einer sich im Modernisierungsprozeß befindlichen Gesellschaft, wo soziale Veränderungen nicht immer mit ökonomischen Schritt halten konnten. Taiwan erwies sich als eine reichhaltige Quelle solcher Geschichten - und die Filmemacher begannen, diese Quelle nutzbar zu machen.
In "Eine Zeit zu leben, eine Zeit zu sterben" beispielsweise wurde auf besonders einfühlsame Weise der Wandel in der Einstellung gegenüber Festlandchina dargestellt. Die "Geschichte aus Taipei" hat die wirtschaftlichen Veränderungen und deren Auswirkungen auf das Leben der städtischen Bevölkerung zum Thema und der "Sandwich-Mann" (兒子的大玩偶) die Leiden, die Imperialismus und damit zusammenhängende Handlungsweisen den Menschen bringt. Andere Themen, wie etwa die Verschiebungen der Autoritätsverhältnisse in Familien oder Ehekrisen, die Schwierigkeiten der Ureinwohner und Kriegsveteranen sowie Umweltprobleme wurden zum Gegenstand von Filmen des "Neuen Kinos", in denen subjektive Sichtweisen und sachliche Kommentare zur Gesellschaft in oft aussagestarken Filmen vereint wurden.
Bald ergab sich jedoch eine Schwierigkeit: Nachdem die Filme zunächst ein großes, neugieriges Publikum anzogen, gingen die Zuschauerzahlen aber bald zurück, und es blieb nur das sogenannte intellektuelle Publikum übrig. Die meisten Menschen haben in ihrem eigenen Leben schon genug Probleme, sie erwarten von Filmen, daß sie sie für kurze Zeit die Alltagssorgen vergessen lassen, und nicht, daß sie verfilmter Soziologieunterricht sind. Binnen kurzer Zeit fiel es den Regisseuren des "Neuen Kinos" schwer, ihre Filme zu finanzieren.
Trotz dieser Probleme hielt man an dem eingeschlagenen Kurs fest, und der neue Ansatz hatte eindrucksvolle Auswirkungen auf den hiesigen Markt: eine bislang ungeahnte Themenvielfalt und erheblich mehr Tiefgang, die die Filmindustrie weiterhin beeinflussen.
Vermächtnis des "Neuen Kinos" - und das kann man trotz seiner bislang eher kurzen Lebenszeit bereits sagen - ist ein neuer Erzählstil und eine neuartige filmische Ausdrucksweise. Aufbau und Struktur der neuen Filme unterscheiden sich wesentlich von denen des traditionellen Kinos, und es zeigen sich hier Veränderungen des Bewußtseins sowohl der Regisseure als auch des Kinopublikums.
Oft sind die Filme voll von Identitätssuche der Filmemacher. Dieser neue Ansatz bewirkt, daß die Welt aus einem sehr persönlichen Blickwinkel dargestellt wird. Um das zu erreichen, wird auf traditionelle Handlungstrukturen verzichtet und die Betonung auf die Ästhetik von Einsamkeit und Stille gesetzt. So kommt vieles zum Ausdruck, was früher auf der Leinwand sehr rar war. Verschiedene Techniken werden eingesetzt, um diese Effekte zu erzeugen.
Bei der Ellipse, zum Beispiel, werden absichtlich einige logische Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung ausgelassen, die für das Verständnis der Handlung unerläßlich sind. Hierdurch wird an die Einfühlsamkeit des Publikums dem Medium Film gegenüber und an seine Fähigkeit zum Assoziieren und Strukturieren appelliert. Durch lange Einstellungen wird kein visueller oder dramatischer Aspekt hervorgehoben, vielmehr setzt man einfach Zeit als solche dazu ein, um Realität zum Ausdruck zu bringen, und erreicht hier einen Effekt, der dem der Tiefenschärfe in der Photographie entspricht.
Eine veränderte Technik gestattet eine bislang nie dagewesene Komplexität von Raum und Tiefe. Sie entspringt der selbstbewußteren Anerkennung und Anwendung der Elemente und Eigenschaften des Mediums Film. Mit anderen Worten: das eher simple Gerüst aus Dialog und Handlung wird durch eine kompliziertere Struktur ersetzt.
Im "Neuen Kino" kommt auch eine andere, eher zurückhaltende Art der Schauspielkunst zum Tragen. Gekonnt werden Amateure zusammen mit Profis eingesetzt. Die Darstellungsweise wirkt nun natürlicher, und es wird nicht mehr so übertrieben. In dem Bemühen, nahe an der Realität zu bleiben - zumindest was Einzelheiten des Alltagslebens und Aussehen sowie Verhalten von Personen betrifft -, werden Nahaufnahmen von Personen eingefügt, die an der Filmhandlung gar nicht unmittelbar beteiligt sind und nicht wissen, daß sie gefilmt werden. Diese Technik wird erfolgreich von Chen Kun-hou (陳坤厚) und Hou Hsiao-hsien angewandt. Solche Einstellungen verleihen Filmen einen neuen realitätsbezogeneren Charakter, einen, der ihnen auch den letzten Rest der Steifheit und Gestelltheit von Studioaufnahmen nimmt. Nicht selten wird dieser Effekt noch dadurch verstärkt, daß eine dialektische Spannung, ein bewußter Kontrast zwischen Bild und Ton wie auch im Schnitt erzeugt werden.
In der Entwicklung des "Neuen Kinos" zeichnet sich bislang keinerlei Tendenz zur Vereinheitlichung ab, es ist vielmehr eine große Vielfalt und Lebendigkeit zu beobachten. Hou Hsiao-hsien, zum Beispiel, legt so viel Wert auf Realität und vereint Charaktere, Situationen und Umfeld auf eine Weise, daß sein Werk eindeutig der Kategorie "Realismus" zuzuordnen ist.
Edward Yang's Ansatz hingegen zeichnet sich durch Intellektualität und Einfühlungsvermögen aus. Durch die von Introspektion gekennzeichnete westliche Ästhetik hebt er mit seinen einfühlsamen und subtilen Beiträgen den Film in Taiwan auf eine höhere künstlerische Ebene. Weitere Beispiele sind der avantgardistische Surrealismus in "Playboys der T'ang-Dynastie" (唐朝綺麗男) von Chiu Kang-chien (邱剛健), der wegen der überraschenden und kühnen Kameraeinstellungen und -führung an Fellinis groteske Ästhetik erinnert, Roy Tsang's (曾壯祥) Bild-Ton-Experimente in "Frau des Zorns" und die Versuche von Chang Yi (張毅), der Erzählkunst neue Ausdruckskraft zu verleihen.
Drittens spricht die neue filmische Sprache die jungere Generation an, da diese dem Kino gegenüber eine sensiblere Einstellung hat. Die anti-traditionellen Darstellungstechniken haben den Filmgenuß für das Publikum in Taiwan ganz entscheidend verändert. Plötzlich wird von dem Publikum etwas anderes verlangt, als in Stücke zerhackte Leichen in Kung-Fu-Filmen zu zählen oder sich von seichten Romanzen einlullen zu lassen: der Zuschauer muß jetzt vielmehr auswählen, aufnehmen und nachdenken.
Es ist auch ein negativer Aspekt zu erwähnen: Die rudimentäre und primitive Ausrüstung, die oft von den Regisseuren des "Neuen Kinos" verwendet wird, hat eine Entwicklung der klanglichen Seite der Filmsprache verhindert. Dialog und Musik sind und bleiben die Schwachstellen der Filme. Was es eigentlich für Möglichkeiten für den Ton eines Filmes gibt, ist unbeachtet geblieben, und der Einsatz von Musik läßt zu wünschen übrig. Es wird im Film verstärkt Dialekt gesprochen, was die Dialoge lebensnaher wirken läßt, im allgemeinen kann man aber sagen, daß die Sprechleistung der schwächste Teil der neuen Filme ist.
Nachdem das "Neue Kino" sich eine solide Basis geschaffen hatte, leiteten viele Regisseure 1983 eine zweite Welle der Neuerungen ein. Diese Neuentwicklungen wurden von Kritikern bisweilen als "die Ära der Ausbeutung und der Kommerzialisierung" bezeichnet. Die Regisseure, die in diese Kategorie gehören, kommen aus verschiedenen Lagern. Einige von ihnen sind altgediente Regisseure, die schon lange in Taiwans Filmkreisen aktiv gewesen sind, wie etwa Chiu Kang-chien und Lo Wei-ming (羅維明), zwei herausragende Filmkritiker, Drehbuchautoren und Herausgeber von Publikationen über Filme. Sie beide studierten Drama und Theaterwissenschaften in den USA und waren Schlüsselfiguren bei der Begründung der namhaften Filmpublikationen "Theater" und "Influence".
Andere Regisseure haben ausgeprägt akademische Hintergründe. Zu diesen zählen Lee Yu-ning (李祐寧), Li Chi-hua (李啟華) und Fred Tan (但漢章). Wieder andere kommen aus der Filmindustrie. Yu Kan-ping (虞戡平) und Yang Li-kuo (楊立國) beispielsweise sind ehemalige Regieassistenten, Liao Ching-sung (廖慶松) war früher Cutter, Mai Ta-chieh (麥大傑) machte experimentelle Filme und Yeh Chin-sheng (葉金盛) war Filmproduzent und Geldgeber.
Diese Regisseure der "späteren neuen Schule" unterscheiden sich von ihren früheren Kollegen. Sie sind wesentlich anspruchsvoller, eher geneigt, sich gängigen Praktiken anzupassen, und sie sind beim Umgang mit Ausrüstung und Mitarbeitern wesentlich flexibler. Auch sind sie sowohl den Funktionären der Filmindustrie als auch der Abteilung für Film im Informationsamt der Regierung gegenüber weniger kompromißlos. Dennoch haben sie, verallgemeinert gesagt, im Vergleich mit den Vorreitern des "Neuen Kinos", die dem Film eine neue Dimension an Würde und Kreativität verliehen, weniger erreicht.
Ganz eindeutig bestehen die Neulinge nicht mehr unbedingt auf reinem Realismus. Lo Wei-ming und Chiu Kang-chien machen hochstilisierte und sehr persönliche Filme. Chiu's "Playboys der T'ang-Dynastie" war ein Durchbruch in bezug auf Aufbau, Thema und gedankliches Konzept. Der Film steckt voller surrealistischer Phantasie, mit einem Hauch von Avantgarde. Im zweiten Teil von "Ah Fu's Geschenk" stellt Lo auf europäisch-introspektive Weise eine alptraumartige Erfahrung aus der Zeit der Kulturrevolution dar. Beide Filme haben Schwächen, sie stehen aber wegen der kühnen Experimente und der Originalität der Regisseure in scharfem Kontrast zu früheren Filmen.
Nicht selten wird die Bezeichnung "Realismus" auch als Deckmäntelchen für eine Form von Ausbeutung benutzt. Das spätere "Neue Kino" schlachtet oft die wohlwollenden Gefühle, die den einfachen Leuten in den früheren Filmen entgegengebracht wurden, werbewirksam aus. Beispiele hierfür sind "Auf und hinter der Bühne", "Die Beziehung zwischen Vater und Sohn" und "Papa, hörst Du mich singen?".
Zuweilen greifen die Regisseure auch auf die illusorischen Träume und haltlosen Mythen zurück und schöpfen somit wieder aus der Quelle an Filmthemen, die ein Publikum befriedigt, das für sein Eintrittsgeld wenig anspruchsvolle Unterhaltung erwartet. Der Kritiker Edwin Huang nennt solche Produktionen "sentimentale Bomben". In "Papa, hörst du mich singen?" wird aus einem armen Mädchen eine Gesangs-Diva. In "Auf und hinter der Bühne" verwandelt sich eine heruntergekommene Strip-Show in einen farbenfrohen Karneval. Oder wie in "Taipeier Mythologie" (台北神話), wo plötzlich ein buntes Häuschen vom Himmel herab auf der Spitze eines menschenleeren Berges erscheint. All diese Beispiele belegen die Abweichung von der früheren Phase des "Neuen Kinos" und dessen humanistischen Idealen nämlich davon zu erzählen, was ganz einfache und bescheidene Leute wirklich angeht.
Was diese Entwicklung noch schlimmer macht, ist, daß diese Filme sich geradezu über die armen Leute, denen großes Unglück widerfuhr, lustig machen. Es sind Filme entstanden, die wirkliche Tragödien ins Lächerliche ziehen. "Rose, Rose, ich liebe dich", "Vermißt", "Der Geschmack von Barmherzigkeit" sind Beispiele für diesen fragwürdigen Ansatz. Die neue Richtung hat auch die Betonung auf Sex gelegt, wie etwa in "Das Porträt aller Schönheiten" und "Frühling hinter dem Bambuszaun".
Der einst aufrichtige Humanismus fiel völlig dem Kommerz zum Opfer. Beispiele hierfür sind Fred Tan's "Die Dunkle Nacht" und Lo Wei-ming's "Ah Fu's Geschenk". Obwohl sie eine ausgefeiltere Kameratechnik einsetzen als frühere Filme, so bauen sie doch stark auf Sensationen und Effekthascherei, um der Vermarktung nachzuhelfen.
Von Anfang an stand der Film in Taiwan in engem Zusammenhang mit der Schriftstellerei. Lee Han-hsiang (李翰祥) nahm in seiner Zeit als Leiter der Kuo Lien Film Company hauptsächlich Romane als Vorlagen für Drehbücher. Einer der ersten Filme, in die er investierte, war "Sonnenaufgang", ein Meisterwerk von Sung Chun-shou (宋存壽) nach dem gleichnamigen Roman von Chu Hsi-ning (朱西寧). Chiung Yao's Romane begannen zu dieser Zeit, als Grundlage für Drehbücher sich zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, und auch der berühmte Film "Lebe wohl, Ah Lang!" von dem Regisseur Pai Ching-jui (白景瑞) basiert auf der Geschichte in Chen Ying-chen's (陳映真) Roman "Der Stamm der Generäle".
Da der "Sandwich-Mann" zu Beginn des "Neuen Kinos" so ein Kassenschlager gewesen war, wurde Huang Chun-ming (黃春明), der Autor der drei Erzählungen, auf denen der Film basiert, zu einem der gefragtesten Autoren. Viele Filmgesellschaften versuchten, seine Romane "Eine Blume in regnerischer Nacht" und "Sayonara, lebe wohl" filmisch umzusetzen. Allgemein gesagt, erregten die Romane der regionalen Literatur oder "Heimat-Literatur" [Hsian-t'u Wen-hsüeh 鄉土文學] Taiwans erst durch ihre Verfilmung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Auch die Werke von Wang Chen-ho (王禎和), Yang Ching-tsu (楊青矗) und Chi Teng-sheng (七等生) standen daher in der Gunst der Filmindustrie.
Abgesehen von den Autoren der regionalen Literatur sind auch bedeutende Autoren der sechziger Jahre, wie Pai Hsien-yung (白先勇) und die anspruchsvollen Schriftstellerinnen Taiwans, zum Beispiel Li Ang (李昂), Liao Hui-ying (廖輝英) und Chu Tien-wen, beliebt. Daß man Geschichten verfilmte, die in Taiwan spielen, hatte auch Veränderungen bei der Besetzung zufolge: Die Wahl fiel eher auf Schauspielerinnen, deren Aussehen für die Frauen in Taiwan typisch ist, wie Lu Hsiao-fen (陸小芬), Chang Chun-fang (張純芳) und Su Ming-ming (蘇明明), die ihre eher ausländisch wirkenden Kolleginnen wie Terry Hu (胡茵夢) und Sylvia Chang (張艾嘉) ersetzten. Von diesen war Lu Hsiao-fen die gefragteste und hat in vielen Filmen eine Hauptrolle gespielt, beispielsweise in "Ein Karren als Mitgift" (嫁粧一牛車), "Eine Blume in regnerischer Nacht", "Ein unerfahrener Bursche" (在室男), "Liebe ist mit den Blumen gewachsen" und "Die Osmanthusgasse (桂花巷)".
Die Tendenz, Romane zu verfilmen, hat mehrere Ursachen: Erstens gibt es einen Mangel an guten Drehbüchern. Die meisten Regisseure der "neuen Schule" und einige Drehbuchautoren sind noch zu jung und unerfahren, um den Anforderungen aller Produzenten gerecht zu werden. Romane boten sich also als praktische Lösung für dieses Problem an - und schließlich hatten sie ja auch im Verkauf bereits bewiesen, daß sie beim Publikum ankommen.
Die meisten Regisseure der "neuen Schule" fühlten sich auch persönlich von den Romanen der regionalen Literatur stark angezogen. Daneben sahen sie auch die Lektüre der Werke von Eileen Chang und Pai Hsien-yung als für ihr geistiges Wachstum entscheidend an. Die Romane waren genau auf der Wellenlänge der jungen Intellektuellen Taiwans. Die Filmemacher fühlen sich zum Beispiel durch Pai's bezaubernde Sprache und wohlstrukturierte Bilderwelt angezogen, und im allgemeinen auch zu den mitmenschlichen Gefühlen, die für die regionalen Romane typisch sind.
Etliche Romanciers schreiben oder bearbeiten aber auch selbst Drehbücher. Die Schwestern Chu schrieben im Auftrag der Regisseure Hou Hsiao-hsien und Chen Kun-hou "Erwachsen werden", "Ein Sommer bei Großpapa" und "Die Jungen von Fengkuei" (風櫃來的人). Hsiao Hsa schrieb für ihren Ehemann Chang Yi, und Huang Chun-ming schrieb ein Drehbuch, dessen Grundlage ein eigener Roman war. Alle diese Autoren haben dazu beigetragen, Romane auf die Leinwand zu bringen.
Natürlich ist nicht jedes Drehbuch, das auf einem Roman basiert, erfolgreich. Hsiao Yeh weist ausdrücklich darauf hin, daß die literarischen Qualitäten der heutigen Filme auf die Drehbücher und die Regie zurückzuführen sind, und nicht allein auf die Romane. Da kann man ihm nicht widersprechen, denn es gibt ja nur allzuviele derbe und geradezu groteske Drehbücher, die auf Romanen basieren. Einige sogenannte "realistische Werke" fußen auf den Geschichten verschiedener Romane der regionalen Literatur, aber die Darstellung des Lebens der einfachen Leute, wie es wirklich ist, ist verloren gegangen - und doch ist gerade sie nötig, um dem Publikum zu helfen, die chinesische Gesellschaft und Geschichte besser zu verstehen. In zu vielen dieser Filme wird um den heißen Brei herumgeredet, es wird zu ausgiebig auf den oberflächlichen Aussagen der oft Mitleid erregenden Geschichten herumgeritten und dabei das Wesentliche des Milieus außer Acht gelassen.
Zu diesen weniger gelungenen Versuchen gehören jene Filme, die in die Kategorie "Publikumsfilm" fallen, zum Beispiel "Ein unerfahrener Bursche", "Ein Karren als Mitgift", "Eine Blume in regnerischer Nacht", "Die letzte Nacht der Madame Chin" und "Die Ehe". Andere nutzen einfach Ärmlichkeit und Trostlosigkeit der Lebensumstände der Charaktere aus und machen Gebrauch von Verkaufsmaschen wie Pornographie, um beim Publikum zu landen. Beispiele für letzteres sind der nackte Gigolo in "Das Porträt aller Schönheiten", die Nahaufnahmen einer Bettszene in "Dunkle Nacht", die Darstellung einer außerehelichen Liebesbeziehung in "Straße ohne Wiederkehr" sowie die lockenden Prostituierten in "Rose, Rose, ich liebe dich".
Es ist heute nicht einfach zu sagen, welchen Weg das "Neue Kino" gehen wird. Zweifelsohne werden jene Vertreter des "späteren Neuen Kinos" die Popularität von Romanen und Autoren in bare Münze umzuwandeln versuchen, sie werden auch weiterhin Filme produzieren, die, anstatt einfühlsam Einblicke zu vermitteln, die ursprünglich lebensnahen Porträts einfacher Menschen grotesk verzerren - und so dem Publikum "ein Fischauge als Perle andrehen". So verwirren sie Kritiker und Zuschauer gleichermaßen und schaden auch den Romanen, auf denen die Drehbücher basieren.
Es ist zu hoffen, daß mehr Regisseure es den besten unter denen der "alten Schule" nachtun und ein gesünderes Gleichgewicht zwischen finanziellem Erfolg und hoher Qualität erreichen werden.
(Aus dem Chinesischen von Eugenia Yun; Deutsch von Rina Goldenberg)