22.08.2025

Taiwan Today

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Der Mann aus dem Westen

01.01.1991
Irgendwann zu Anfang September 1989 begann eine Gruppe junger Filmenthusiasten an einem nahezu menschenleeren Teil der taiwanesischen Pazifikküste nahe Hualien mit den Außenaufnahmen für einen neuen Film. Drehort war ein nicht weit vom Meer an einem Fluß gelegenes Dorf der Ureinwohner Taiwans. Und die Geschichte ist die eines dieser Ureinwohner auf seiner Reise zurück in die Heimat.


Auf diesen Mann, der von der Westküste Taiwans kommt, bezieht sich der Filmtitel "Der Mann aus dem Westen"(西部來的人). Wegen des ungewöhnlichen filmischen Stil wurde "Der Mann aus dem Westen" von den hiesigen Produzenten kommerzieller Filme, welches die hier vorherrschende Richtung ist, bald als eine vereinzelte und merkwürdige Erscheinung betrachtet. Für sie ist es ganz einfach ein Film in der Art, wie ein Film eben nicht sein sollte. Mehr als vierzig Jahre lang glaubten Kinogänger und Filmproduzenten, Filme seien so zu machen, daß sie auf realistische Weise eine klare Geschichte erzählen und - ein unbedingtes Muß - am Ende einen eindeutigen Schluß ziehen. Kein Film, der hiervon eine Ausnahme machte, würde Wettbewerbe und das Verdikt der Zuschauer überstehen.

Angesichts dieses Drucks von seiten der taiwanesischen Filmtradition ist "Der Mann aus dem Westen" jedoch ein Schlag ins Gesicht der einheimischen Kinowelt und ihrer gestrengen Regeln - und ragt doch als ein kreatives Werk heraus, das von vielen Angehörigen der jüngeren Generationen lobend anerkannt wird.

Einige kommen zu dem positiven Schluß, daß dies der erste Film Taiwans ist, der den Ureinwohnern der Insel gewidmet ist, der erste Film, der sich in Dialogen und Erzählerparts weitgehend der lokalen Sprachen bedient, der erste Film, der unabhängig und ohne vorherigen Abschluß eines Verleihkontraktes produziert und nicht von der Filmbranche finanziert wurde, der erste Film, in dem nur Laiendarsteller und -darstellerinnen auftreten, und der erste Film schließlich, der eine Harmonie zwischen dem Menschen in seiner physischen Existenz und Mutter Natur zeigt.

Während ein Teil der Filmjournalisten der hiesigen Zeitungen sich in großes Schweigen hüllten, haben andere den Beginn der Aufnahmen beifällig kommentiert. So beschrieb Yen Hong-ya(閻宏亞)im "China Times Express" vom 8.9. 1989 die Intention des Filmes als "zu sehen, wie sich die Leute aus den Bergen von ihrem Standpunkt aus betrachten, und gleichzeitig durch die Augen einiger eher neuzeitlich orientierter Abkömmlinge von Ureinwohnern tiefe Einblicke in das Leben in den Bergen zu vermitteln." Und über das Filmteam schrieb Yen: "Image Concept Studio ist vor drei Jahren gegründet worden. Die Mitglieder des Studios sind für ihre Experimentalfilme bekannt, und auch dafür, den 'Golden Harvest Award' zu gewinnen. Nun plant das Studio eine ganze Serie von Spielfilmen im Geiste der Avantgarde. Es besteht zu erwarten, daß dabei soziale und politische Tabus herausgefordert werden. - In 'Der Mann aus dem Westen' werden in den Dialogen und Erzählerparts vier Sprachen verwendet, hauptsächlich solche der Ureinwohner. Lu Shing-chang(呂欣蒼), der Leiter des Studios, erklärte, daß man nicht daran denke, Verleihkontrakte für Kinoaufführungen zu unterzeichnen, es sei denn, um Beschränkungen von seiten der Verleihfirmen zu vermeiden. - Hier sehen wir also eine Tendenz, abseits zu stehen oder gar gegen den Strom zu schwimmen, auf unsere Kinowelt zukommen."

Diesen letzten Punkt hat Shi Wei-ming(石偉明)von der "Independence Morning Post" vom 9. 9. 1989 noch stärker herausgehoben. Nachdem er einleitend vermerkt, daß dieser Film des Photographen Huang Ming-chuan(黃明川)über die Identitätsprobleme der Ureinwohner in einer sich modernisierenden Welt mit Laiendarstellern gedreht worden ist, um das kreative Konzept zu erweitern und den Wert sozialen Bewußtseins zu betonen, kommt er zu der Frage: "Sollte das unabhängige Filmemachen eine neue und gänzlich anders geartete Tendenz werden? Die Branche beobachtet das jetzt mit Vorsicht. - Einige Filmexperten haben darauf hingewiesen, daß unabhängig produzierte Filme im Vergleich zu den technischen Finessen der kommerziellen relativ primitiv seien", fährt er in seinem Bericht fort. "Aber die ausgeprägt sozialen Standpunkte der Unabhängigen können ein Korrektiv für den zunehmenden Hang zum Seichten bei den Kommerziellen sein. Andere sagen, daß das Schicksal der unabhängigen Filme nicht abzusehen sei, da ihre Machart für die meisten der Zuschauer auf Taiwan völlig neu ist. Angesichts der großen Nachfrage nach neuen Filmen könnten die Kinos zum Füllen der Lücken in ihren Programmen solchen Filmen eine hauchdünne Chance geben. - Werden sich vielleicht irgend wann einige Leute zusammenfinden, um die Newcomer und die Verleihfirmen an einen Tisch zu bringen? So daß die Produzenten sich um nichts anderes kümmern müssen als um die Aufnahmen, und vermieden wird, daß ihre Filme ausschließlich in privaten Kreisen zu sehen sind? - Viele Filmkritiker verweisen auf den Erfolg des nur mit einem kleinen Etat gedrehten 'Sex, Lügen und Videos', der den Verschwenderischen unter den Hollywood-Regisseuren ins Gedächtnis zurückrief, worum es beim Filmemachen eigentlich geht. Wenn 'Der Mann aus dem Westen' gut gemacht ist und unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten publik gemacht wird, dann könnte das die erfreulichste Nachricht für die Filmindustrie werden."

Obwohl die Geschichte des "Mannes aus dem Westen" ziemlich einfach und klar ist, ist sie in eher komplexer Weise erzählt. Die Handlung wird den ganzen Film hindurch in einer Parallelführung von Ereignissen aus der Gegenwart und alten Sagen entwickelt. Mit Hilfe eines alten Mythos, der sich aus mündlich überlieferten Geschichten vierer verschiedener Quellen zusammensetzt, wird die Gegenwart auf verblüffende Weise über große Zeiträume hinweg auf die Erfahrungen der Vorfahren zurückbezogen, was dem zeitgenössischen Geschehen Substanz und Struktur gibt.

Die Ereignisse der Gegenwart handeln von einem Ureinwohner Taiwans namens Ah-ming, der nach einiger Zeit des Lebens in einer großen Stadt seine Identität nicht finden konnte und in der Nähe des Dorfes, wo sein Stamm heimisch ist, Selbstmord zu begehen versucht. Doch der absichtlich herbeigeführte Autounfall führt nicht zu dem gewünschten Erfolg, und so läßt ihn Gott auf einer langen spirituellen Reise gebrochenen Herzens in seine Heimat zurückkehren.

Der alte Mann, der Ah-ming das Leben rettet, arbeitet mit seinem einzigen Sohn (Ah-chiang) in einem Steinbruch. Ah-chiang sucht eine Möglichkeit, in die Stadt zu kommen. Zur selben Zeit entkommt eine Prostituierte ihrem Zuhälter im Flachland und kehrt mit all ihrer Liebe und gestohlenem Geld wegen Ah-chiang, mit dem sie vor ihrem Weggang lange Zeit befreundet war, ins Dorf zurück. Unglücklicherweise hat Ah-chiang nichts anderes im Kopf als seine Träume von einem sicheren Job außerhalb des Dorfes. Hier sind also vier Personen in Szenen des Kommens und Gehens miteinander verbunden. Diese alltägliche und doch selten erzählte Geschichte ist in einer Weise parallel zu dem alten Mythos gesetzt, daß dieser am Ende auf überraschende Weise zu erkennen gibt, welches Schicksal Ah-ming bestimmt ist.

Ähnlich dem, was Ah-ming im Film durchlebt, hat das Produktionsteam während der Aufnahmen Taifunen und Überflutungen entlang der Pazifikküste und an den Ufern des Tuo-sui-Flusses getrotzt. Einmal überlebte das Team in einem Dorf eine Woche lang nur mit Mahlzeiten aus Konservendosen, als die Straße, die dort die einzige Verbindung zur Außenwelt ist, in die See gerissen wurde. Solche Szenen sind in taiwanesischen Filmen nicht oft zu sehen. Auch die Dreharbeiten selbst erforderten mehr als gewöhnlich von jedem einzelnen im Team. Da die Mittel knapp waren, gab es keine Stars und keine Arbeitsteilung wie sonst beim Film üblich; jeder tat nach bestem Vermögen, was gerade zu tun war. Regisseur Huang selbst führte die Kamera und kümmerte sich um die Beleuchtung. Einige Mitglieder reagierten auf das, was Huang ihnen abverlangte, mit anderen Vorstellungen. Heute aber verstehen sie, daß die kostbarste der gemachten Erfahrungen nicht gewesen ist, einen Traum zu haben, sondern ihn mit aller Kraft Wirklichkeit werden zu lassen und das Ziel zu erreichen. Wer nicht das Kreuz trägt, wird keine Krone erlangen. Inzwischen wird der "Der Mann aus dem Westen" als einer der besten Filme Taiwans gewürdigt, trotz seiner geringen finanziellen Ausstattung und obwohl er keinerlei Unterstützung von kommerzieller Seite hatte, und ihm wird auf der ganzen Welt sicherlich immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Oder, wie der britische Filmkritiker Tony Rayns urteilte: "Es gibt keinen Zweifel, daß 'Der Mann aus dem Westen' noch vor dem Ende des Jahres 1991 in vielen Ländern gefeiert werden wird."

(Deutsch von Martin Kaiser)

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