FCR: Der Regierung wird oft vorgeworfen, daß ihre Gesundheitspolitik keine klare Linie habe. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?
Shih: Unsere gegenwärtige Gesundheitspolitik hat zwei Schwerpunkte, und an denen werden wir auch in der Zukunft festhalten. Der erste ist, wir wollen ein gleichmäßig hohes Niveau der medizinischen Versorgung in ganz Taiwan erreichen. Deshalb bauen wir medizinische Einrichtungen und stellen mehr medizinisches Personal ein, damit auch das entlegenste Gebiet Taiwans und jede Taiwan vorgelagerte Insel mit einer Bevölkerung von über 3000 Menschen eigene medizinische Einrichtungen und Ärzte erhält. Unser zweites wichtiges Ziel ist, die Qualität der medizinischen Dienstleistungen ganz allgemein anzuheben. Dies soll alle Ebenen der medizinischen Versorgung umfassen: primäre, sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung (siehe Diagramm).
Primäre Versorgung wird auf der Ebene der Nachbarschaften und Kommunen gegeben; sie umfaßt private Praxen, Gruppenpraxen und privat praktizierende Ärzte. Für eine optimale sekundäre Versorgung sollte mindestens ein Bezirkskrankenhaus mit ungefähr 100 Betten für eine Bevölkerung von 100 000 Menschen zur Verfügung stehen. Das tertiäre Krankenhaus ist ein sogenanntes regionales Krankenhaus, das für ein Gebiet von 400 000 bis einer Million Einwohnern zuständig ist.
Taiwan ist in 17 medizinische Versorgungsregionen aufgeteilt. Jede Region besitzt mindestens ein Krankenhaus mit 500 Betten für eine Bevölkerung von etwa einer halben Million, in dem die schwersten Krankheiten und Leiden behandelt werden. Dann gibt es noch eine vierte und höchste Stufe der medizinischen Versorgung, die medizinischen Zentren, die medizinische Forschung durchführen, als "Lehrkrankenhäuser" zur Ausbildung von Ärzten dienen und sich der schwierigeren Behandlungsprobleme annehmen.
Um den Erfolg aller vier Ebenen der medizinischen Versorgung zu gewährleisten, muß die Regierung die Ausbildungsstandards des gesamten medizinischen Personals, von Arzt und Pflegepersonal bis hin zu Apothekern und Therapeuten, verbessern.
Vor vier oder fünf Jahren, als wir damit begannen, Gruppenpraxen in den ländlichen Gebieten einzurichten, stießen wir auf einigen Widerstand von seiten der bereits ansässigen privat praktizierenden Ärzte, die ihr Einkommen dadurch gefährdet sahen. Um dieses Problem zu lösen, schlug ich vor, qualifizierte privat praktizierende Ärzte in unser öffentliches Gesundheitssystem mit einzubeziehen.
Um eine gleichmäßige medizinische Versorgung zu erreichen, sind wir gerade dabei, ein regionales Netz medizinischer Dienstleistungen einzurichten. Ende der ersten Phase des Projektes, die im Februar 1986 begonnen hat und im Juni 1990 endet, werden wir 112 Gruppenpraxen und 224 Einrichtungen, die medizinische Grundversorgung anbieten, eingerichtet haben. Wir haben 336 öffentliche Praxen in Taiwan (ohne die Stadtgebiete Taipeis und Kaohsiungs), aber nur ein Drittel von ihnen sind am Ende dieser ersten Phase zu Gruppenpraxen umgewandelt worden. Es wurden auch einige Gruppenpraxen in weniger dicht besiedelten Gebieten eingerichtet. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir die restlichen öffentlichen Praxen in Gruppenpraxen umwandeln wollen oder nicht. Wenn es uns gelingt, die medizinischen Dienste kleiner Praxen zu verbessern, könnte sich das als überflüssig erweisen. Es gibt für die Regierung keinen Grund, mit Privatpraxen zu konkurrieren.
Wir haben Mediziner, die frisch von den Hochschulen kommen, zu zweijährigen Praktika in Gruppenpraxen geschickt. Danach bleiben sie noch eine vertraglich festgelegte Zeit in diesen Praxen. Was sie verdienen, hängt davon ab, wieviele Patienten sie behandeln.
Wir haben auch Medizinervereinigungen autorisiert, Fachkräfte auf allen medizinischen Gebieten auszubilden. Daneben haben wir ein Akkreditierungsverfahren für alle medizinischen Einrichtungen eingeführt, das sowohl die großen als auch die mittleren und kleineren Krankenhäuser umfaßt. Wir begannen mit der Durchführung dieser Akkreditierungsverfahren im Jahre 1988. Ein Team von sechzig Experten, dem Professoren medizinischer Fakultäten, Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker und andere Fachkräfte angehören, ist daran beteiligt. In diesem Jahr werden wir Standards für Kreiskrankenhäuser festlegen.
Nur Krankenhäuser , die unseren Standards entsprechen, werden in das nationale System der Krankenversicherungen einbezogen werden. Krankenhäuser, die nicht diesen Standards entsprechen, werden eine zweite Chance bekommen, nachdem sie die Unzulänglichkeiten behoben haben, die zu ihrer Disqualifikation führten.
FCR: Im vergangenen Jahr haben sich Apotheker, Pharmazeuten und andere medizinische Fachkräfte bei der Regierung über zahlreiche Mißstände beklagt. Sind dies Anzeichen für eine wachsende Instabilität und Unzufriedenheit hinsichtlich der medizinischen Versorgung?
Shih: Im großen und ganzen ist unsere medizinische Welt nicht so instabil, wie viele Leute glauben. Aber es gibt ein großes Problem - unser gegenwärtiges Krankenversicherungssystem, besonders das für Arbeiter, das über 6 Millionen Menschen erfaßt. Ich glaube, dies ist ein wesentlicher Grund für die große Besorgnis.
Der Rat für Arbeitsangelegenheiten beabsichtigt, die Krankenversicherung für Arbeiter auch auf deren Familienangehörige auszudehnen - der Entwurf wurde bereits dem Exekutiv-Yüan vorgelegt -, aber das widerspricht der Politik des Gesundheitsamtes. Wir glauben, daß man im Moment eher ein einheitliches und gerechtes Krankenversicherungssystem entwickeln muß, anstatt zu versuchen, das bestehende System zu korrigieren.
Der Rat für Wirtschaftliche Planung und Entwicklung (Council of Economic Planning and Development, CEPD) ist die oberste zentrale Organisation, die für Planungen im Bereich des Gesundheitswesens zuständig ist. Gegenwärtig haben wir ein ziemlich kompliziertes Versicherungssystem - es besteht aus mehr als zehn verschiedenen Arten von Versicherungen. Wenn wir eine größere Zahl von Menschen in das Krankenversicherungssystem aufnehmen wollen, sollte dies in Einklang mit den Plänen des Gesundheitsamtes geschehen. Ich mache mir große Sorgen darüber, daß es uns vielleicht nicht gelingen könnte, einen gemeinsamen Weg zur Lösung dieses Problems zu finden.
Die Situation wird dadurch noch komplizierter, daß Krankenhäuser immer öfter Schwierigkeiten haben, nicht in die roten Zahlen zu kommen. Dies kommt daher, daß die Versicherungssätze für die medizinische Behandlungen in den letzten zehn Jahren unverändert geblieben sind. Als Leiter der Abteilung für Gesundheit habe ich dieses Problem oft in den Sitzungen des Exekutiv-Yüans zur Sprache gebracht, und ich habe dringend empfohlen, die Sätze entsprechend den Preissteigerungen und den gestiegenen Löhnen anzuheben.
Wie kann ein Krankenhaus die Qualität seiner medizinischen Dienstleistungen aufrechterhalten, wenn die Behandlungskosten immer noch nach den vor zehn Jahren gültigen Standards berechnet werden? Das ist ganz und gar unmöglich. Wir können die Krankenhäuser nicht zwingen, unter diesen Umständen weiterhin gute medizinische Versorgung anzubieten. Diese Situation hat dazu geführt, daß die Krankenhäuser ihr Personal abgebaut haben und mangelhaft ausgebildetes Pflegepersonal beschäftigen.
In der Vergangenheit waren die Ärzte eine ziemlich konservative und "stille" Berufsgruppe. Sie haben keine Streiks initiiert oder Beschwerden geäußert, weil sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, sich auf die Bedürfnisse ihrer Patienten zu konzentrieren. Aber in dieser Situation - d. h. weil die Krankenversicherungen den Krankenhäusern viel zu wenig bezahlen - haben sie keine andere Wahl, als ihr bisheriges Verhalten zu ändern. Es werden jetzt Verhandlungen zwischen den Krankenhäusern und der Regierung geführt, um diesen Schwierigkeiten beizukommen. Wenn wir unser nationales Versicherungsprogramm im Jahr 1995 beginnen, müssen die Versicherungssätze jedes Jahr überprüft werden, um festzustellen, ob sie noch den tatsächlichen Kosten entsprechen.
Wir sind sehr besorgt, weil wir denken, daß die privaten Krankenhäuser sich weigern könnten, unserem Versicherungssystem beizutreten oder vielleicht sogar ganz schließen. Diese Sorge ist deshalb besonders groß, weil diese privaten Einrichtungen über 60% der vorhandenen Betten stellen. Wir müssen sowohl die Öffentlichkeit als auch die medizinischen Einrichtungen von der Verläßlichkeit unseres Versicherungsprogramms überzeugen, und vernünftige Versicherungssätze sind ganz und gar unverzichtbar, um dieses Ziel zu erreichen. Die Sätze der Arbeiter-Krankenversicherung könnten in Bälde angehoben werden, und über die Sätze für größere Einrichtungen wird gerade verhandelt.
Wir hoffen, daß wir einen geeigneten Weg gefunden haben, die Gebühren und Ausgaben für medizinische Behandlungen zu kontrollieren, wenn das nationale Versicherungsprogramm 1995 in Kraft tritt. Zu den Möglichkeiten, über die wir nachdenken, gehören die Beteiligung der Patienten an den Kosten und das Vermeiden unnötiger Verordnung von Medikamenten. In Taiwan ist auch ein merkwürdiges Phänomen zu beobachten: Die Leute scheinen es zu genießen, ins Krankenhaus zu gehen. Dadurch werden Versicherungsgelder verschwendet. Ein Beteiligungssystem würde die Versicherungsnehmer zweimal nachdenken lassen, bevor sie in ein Krankenhaus gehen. Außerdem werden sie so vielleicht mehr Rücksicht auf ihre Gesundheit und auf die ihrer Familie nehmen. Im Augenblick arbeitet die Abteilung für Gesundheit daran, die angemessenen Versicherungssätze zu ermitteln.
Das amerikanische Gesundheitssystem ist kommerzieller orientiert und es betont hohe Effizienz, während das britische mehr Wert auf Gleichheit und Gerechtigkeit legt. Wir beabsichtigen weder den einen noch den anderen Ansatz ganz zu übernehmen, sondern wir werden einen Ansatz wählen, der der Situation unseres Landes entspricht.
Um einen besseren Überblick über die Schwierigkeiten zu bekommen, die bei der Einrichtung eines nationalen Gesundheitssystems entstehen, haben wir vor kurzem ein Symposium über Gesundheitssysteme veranstaltet, an dem Experten aus mehr als 10 entwickelten Ländern teilnahmen. Wir haben auch 63 Parlamentarier eingeladen, die im Wahlkampf Ende 1989 gefordert hatten, daß die Regierung so schnell wie möglich ein nationales Versicherungsprogramm zur Durchführung bringt. Leider kam dann nur einer von ihnen.
Konflikte zwischen den Krankenhäusern und der Arbeiterversicherung wegen der Versicherungssätze werden immer häufiger. Das Chang Gung-Memorial-Krankenhaus hat bereits angedeutet, daß es beabsichtigt, keine Arbeiter mehr zu behandeln. Um das Chang Gung-Krankenhaus im Kreis Kaohsiung dazu zu bringen, weiterhin im Arbeiterversicherungsprogramm zu bleiben, will der Kreisrat die Differenz zwischen den von der Versicherung erstatteten Sätzen und den tatsächlichen Behandlungskosten aus dem Haushalt der Kreisverwaltung bestreiten. Aber das funktioniert nicht. Solch eine Subvention ist ein Faß ohne Boden, und die Verwaltung wird früher oder später unter ihrer Last zusammenbrechen. Nicht einmal die Regierung des Landes kann so ein Vorhaben durchführen. Was wir jetzt tun sollten, ist, den Leuten beizubringen, daß Versicherung eben Versicherung ist: es ist kein Programm, das einem eine Last abnimmt, sondern eher ein Programm zur Hilfe auf Gegenseitigkeit.
Weil wir uns gegen den britischen Ansatz entschieden haben, sollte unser Gesundheitssystem in die Lage versetzt werden, sich selbst tragen zu können. Wenn wir aber das Problem der Versicherungssätze nicht angehen, wird der private Sektor sehr wenig Motivation verspüren, um neue Einrichtungen für die medizinische Versorgung, für die Pflege von alten Menschen und für die Patienten in der Psychiatrie aufzubauen. Das ist ein sehr ernstes Problem.
FCR: Mit welchen weiteren Schwierigkeiten rechnen Sie, bevor das nationale Krankenversicherungsprogramm 1995 in Kraft treten kann?
Shih: Das größte Problem ist die Gesetzgebung selbst, insbesondere der Umfang des neuen Krankenversicherungsprogramms. Werden die Leute zum Beispiel aufgefordert werden, sich selbst zu beteiligen? Im Augenblick sind sie lediglich bereit, nur sehr wenig zu bezahlen, erwarten aber auf der anderen Seite eine erstklassige medizinische Betreuung. Angesichts einer solchen Denkweise können wir kein nationales Krankenversicherungs-Programm zur Ausführung bringen. Wir können uns unter diesen Umständen nur an die Erziehung halten, um diese Situation zu verändern. Es muß den Leuten erklärt werden, was eine nationale Krankenversicherung wirklich ist, und welche Verantwortung sie innerhalb eines solchen Programms haben. Außerdem haben wir noch nicht entschieden, welche Organisation für das Projekt zuständig sein soll. Weil die Revision des Grundgesetzes für den Exekutiv-Yüan noch nicht ratifiziert ist, wissen wir noch nicht, ob ein neues Ministerium für Gesundheit oder für Wohlfahrt eingerichtet wird.
FCR: Welche Einstellung haben die Leute in Taiwan im bezug auf "Gesundheit" ganz allgemein?
Shih: Eines der ernsten Probleme in unserer Gesellschaft ist, daß die Leute immer nur nach ihren Rechten fragen und nie nach ihren Pflichten. Bei der Gesundheit ist das auch nicht anders. Die Leute begreifen immer noch nicht, daß sie, wenn sie nicht selbst auf ihre Gesundheit achten, ihren Familien und der Gesellschaft ganz allgemein zur Last fallen. Die Leute haben das Recht und die Pflicht, gesund zu bleiben. Vorbeugung ist viel wichtiger als Behandlung.
Als vor nicht allzu langer Zeit das 20millionste Kind in Taiwan geboren wurde, schrieb ich anläßlich der Feier dieses Ereignisses einen Artikel. Ich hob darin die Bedeutung eines chinesischen Sprichwortes hervor, das wörtlich übersetzt so lautet: "Von unseren Eltern haben wir Geist und Körper als Geschenk erhalten. Laßt sie uns um ihretwillen nicht mißbrauchen." Aber jedes Jahr verunglücken etwa 14 000 Menschen tödlich, die Hälfte davon bei Motorradunfällen. Die Leute ergreifen nicht einmal die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen.
FCR: Gibt es im taiwanesischen Gesundheitssystem schwerwiegende Unausgewogenheiten?
Shih: In entwickelten Ländern kommt normalerweise ein Apotheker auf fünf Ärzte. In Taiwan haben wir aber 20 000 Ärzte und 30 000 Apotheker mit Lizenz. Weil es zu viel Pharmazeuten gibt, sind manche von ihnen arbeitslos. Das ist einer der Gründe, warum sie vor der Abteilung für Gesundheit aufmarschiert sind, um ihre Petitionen einzureichen.
Ein anderes Problem ist das Pflegepersonal. Obwohl wir 60 000 ausgebildete Pflegekräfte brauchten, gibt es nur 36 000. Das ist das Ergebnis schlechter und unsicherer Arbeitsbedingungen, eines anstrengenden Arbeitstages und einer schlechten Bezahlung (etwa 600 US$ im Monat). Angesichts der gegenwärtigen Situation, wie zum Beispiel der wachsenden Zahl älterer Bürger, die Pflege brauchen, benötigen wir zur Zeit insgesamt an die 100 000 Krankenschwestern und Pfleger. Die unausgeglichene Personalsituation ist offensichtlich ein weiteres Problem, das wir angehen müssen, wenn wir das nationale Versicherungsprogramm zur Ausführung bringen.
(Deutsch von Andreas Härdter)