Die chinesischsprachigen Austronesischen Nachrichten tauchten im Juni 1995 erstmals in den taiwanesischen Kiosken auf und sind momentan die einzige Zeitung mit Schwerpunkt auf Ureinwohnerangelegenheiten. Die Auflage des 12seitigen Wochenblattes beträgt 8000 Exemplare. Die Hälfte davon geht an Abonnenten, der Rest wird kostenlos an Regierungsbeamte und -behörden, private Firmen oder Einzelpersonen verteilt. "Die beiden größten Probleme der Ureinwohner sind ihre prekäre wirtschaftliche Lage und ihr Informationsdefizit", stellt der Zeitungsdirektor Kapi Kalidoay(卡畢˙卡力多艾)fest. "Wenn wir die Aufmerksamkeit der Leute auf Ureinwohnerfragen lenken wollen, ist eine Zeitung unverzichtbar."
Gemessen an dem gewaltig steigenden Interesse an Taiwans Stämmen ist es verwunderlich, daß sich nicht mehr als eine Zeitung den Ureinwohnerangelegenheiten widmet. Das ist teilweise historisch bedingt. Erst 1988 hob die Regierung langjährige Beschränkungen für die Vergabe von Zeitungslizenzen auf. In weniger als zehn Jahren hat sich die Zahl der Zeitungen in Taiwan auf weit über 300 verzehnfacht. Ältere und etabliertere Zeitungen müssen nun um ihren Marktanteil kämpfen, während neuere Blätter erst ein Profil entwickeln und dann einen Leserstamm gewinnen müssen.
Die Austronesischen Nachrichten sollen Taiwans neun Ureinwohnerstämme, die verschiedene Sprachen sprechen, an verschiedene Religionen glauben und wenige kulturelle Totems gemeinsam haben, enger zusammenführen. "Es gibt noch nicht einmal einen Oberbegriff für uns", kritisiert Kalidoay. "In Amerika wirft man die verschiedenen Stämme in einen Topf und nennt sie Indianer. Uns nennt man nur die 'Ureinwohner'. Was ist denn das für ein Name?" Wenigstens hat die Zeitung einen vernünftigen Namen - das Wort "austronesisch" soll die Ureinwohner daran erinnern, daß sie alle den gleichen Ursprung haben und gemeinsam für ihre Rechte kämpfen sollten.
Journalismus ist aber kein einfaches Geschäft, erst recht nicht die Herausgabe einer Ureinwohnerzeitung. "Die Medienindustrie braucht viel Geld und Talente", erläutert Kalidoay. "Von beiden haben die Ureinwohner zu wenig, um eine Zeitung zu machen." Das größte Handicap ist der Kapitalmangel. Monatlich belaufen sich die Geschäftskosten der Austronesischen Nachrichten auf 400 000 NT$ (24 000 DM). Werbung und Abonnements bringen aber nur 100 000 NT$ (6000 DM) ein. Seit Beginn haben die Verluste etwa acht Millionen NT$ (485 000 DM) erreicht.
Ein weiteres Problem ist Personal. In seinem Zeitungsbetrieb hatte Kalidoay eigentlich nur Ureinwohner beschäftigen wollen, mußte dieses Prinzip aber später aufgeben. Da die meisten Ureinwohner in armen Verhältnissen aufwachsen, spielt Geld für sie später eine große Rolle, und deshalb sind sie nicht bereit, für ein niedriges Gehalt in einer kleinen Gruppe zu arbeiten, vermutet Kalidoay. Auf der anderen Seite ist für Beschäftigte, die keine Ureinwohner sind, aber ein aufrichtiges Interesse an anderen Kulturen haben, die Höhe des Gehaltes oft eher zweitrangig, weswegen sie meist bessere Journalisten werden. "Auch eine kleine Zeitung ist ein Unternehmen", unterstreicht Kalidoay. "vielen Ureinwohnern fehlt aber die richtige Einstellung, und sie haben eigentlich gar keine Ahnung von einem modernen Geschäftsbetrieb. Die Beschäftigung von Nicht-Ureinwohnern ist gut für das Blatt und spornt die angestellten Ureinwohner zu mehr Leistung an."
Bei den Magazinen sieht es nicht besser aus. Die 1993 erstmals erschienene Zweimonatliche Stimme der Ureinwohner Taiwans blieb das einzige regelmäßig erscheinende Ureinwohnermagazin. "Wir bilden ein Forum für Ureinwohner. Bei uns können sie sich äußern und finden Gehör", sagt Chefredakteur Chu Hai-liang(瞿海良). "Wir wollen einzigartige Kulturen erhalten und den Leuten die Chance zur Berichtigung ihrer falschen Vorstellungen über die Ureinwohnerstämme geben."
Die Auflage der chinesischsprachigen Zeitschrift liegt bei 3500 Stück. Die Themenpalette ist breiter als bei den Austronesischen Nachrichten, die sich hauptsächlich auf aktuelle Ureinwohner-Nachrichten und soziale Fragen konzentrieren. Die Stimme behandelt Literatur, Kultur, Nachrichtenanalyse, Sozialkritik 'und Geschichte der Ureinwohner. Es gibt auch eine Rubrik über die Ureinwohner im Ausland. Aber ebenso wie die Nachrichten wird die Stimme von Geldknappheit gebeutelt. Chu spürt das besonders stark, denn vor seiner Tätigkeit bei der Stimme war er Redakteur bei einem gutlaufenden regionalen Kulturmagazin. "Dort verarbeiteten wir riesige Informationsmengen zu leichtverdaulichen kleinen Häppchen und veröffentlichten sie", erinnert sich Chu. "Qualität wurde großgeschrieben, denn an finanzielle Unterstützung oder Personal brauchten wir keine Gedanken zu verschwenden. Hier aber geht es ums Überleben."
Um über die Runden zu kommen, nimmt das Magazin auch Aufträge von außen an, etwa Entwürfe für andere Publikationen. Wegen seiner guten persönlichen Verbindungen zu Druckereien und Autoren kann Chu in fast jedem Stadium des Herausgabeprozesses günstige Tarife aushandeln. "Zwei Büchsen Bier und ein paar Erdnüsse sind das Standardhonorar für viele unserer freien Mitarbeiter", behauptet er. Auch wenn das Magazin die Kosten noch nicht decken kann, ist die finanzielle Lage doch nicht ganz so prekär wie bei den Austronesischen Nachrichten. Es hapert vor allem am Personal. "Man könnte über so vieles schreiben, aber das tut kaum jemand. Es ist auch kein Geld da, um solche Leute zu bezahlen", bedauert Chu.
Um sachkundige Artikel über die Ureinwohnerkultur schreiben zu können, muß ein Journalist schon etwas mehr als nur das Einmaleins des Journalismus beherrschen. In Ermangelung einer eigenen Schrift wurde die Kultur und Geschichte der Ureinwohner vor allem mündlich weitergegeben. Bei Interviews mit älteren Ureinwohnern, die kein Mandarin-Chinesisch verstehen, ist folglich die Kenntnis der verschiedenen Ureinwohnersprachen sehr hilfreich. Weil man Journalisten mit solchen Fähigkeiten aber nicht von Bäumen schüttelt, kommen die meisten Artikel über Ureinwohnergeschichte und -kultur von freiberuflichen Autoren, darunter viele Ureinwohner und Akademiker. Wenn - was selten vorkommt - die finanzielle Lage es erlaubt, gibt die Zeitschrift bei Autoren von außen oder auch bei eigenen Mitarbeitern Artikel in Auftrag. Eine der besten Ausgaben der Stimme, in der die Geschichte des Sports bei den Ureinwohnerstämmen im Mittelpunkt stand, wurde komplett in der eigenen Redaktion erstellt.
Der Ureinwohnerliteratur ist in der Zweimonatlichen Stimme der Ureinwohner Taiwans ein bedeutender Teil vorbehalten. Zwar haben sich schon seit vielen Jahren Journalisten, die keine Ureinwohner sind, mit dem Stammesleben beschäftigt, aber erst in den siebziger Jahren begann man auf Werke aufmerksam zu werden, die Ureinwohner selbst verfaßt hatten. "Die Lebensart und die Einstellung gegenüber Leben und Werten ist das, was Kultur ausmacht", postuliert der Ureinwohner-Schriftsteller Walis Nogang(瓦歷斯˙諾幹). "Die Ureinwohner-Literatur ist großartig, weil sie die reine und einmalige Schönheit des Ureinwohnerlebens dokumentiert." Einige Ureinwohnerautoren sind mittlerweile recht bekannt, und manche von ihnen haben auch schon Preise gewonnen. Für die Neueinsteiger ist der Anfang jedoch schwer, weil es so wenige Medien für die Veröffentlichung ihrer Werke gibt. Die Zeitschrift hat generell die Erfahrung machen müssen, daß Autoren von Ureinwohner-Literatur rar sind.
Ende 1995 veranstaltete die Stimme einen Literaturwettbewerb, um neue Autoren aus der Reserve zu locken, doch waren weder die Zahl der eingeschickten Beiträge noch ihre Qualität besonders ermutigend. In der Romankategorie sah sich die Jury außerstande, einen ersten und zweiten Preis zu vergeben. Bei Stammesgeschichte und muttersprachlicher Lyrik reichte es noch nicht einmal für einen dritten Preis. "Im Vergleich mit der älteren Generation beherrschen die jungen Ureinwohner das Chinesische besser", urteilt Chu Hai-liang, der zu der Jury gehörte. "Weil sie aber zum Studium in die Städte gehen, sind sie mit Leben und Kultur der Ureinwohner weniger gut vertraut, und das sind nun einmal die Quellen der Ureinwohnerliteratur."
Auch das Verlagshaus Morning Star Publisher Inc. in Taichung kann nur mit Mühe neue Schreibtalente ausfindig machen. Seit 1987 hat Morning Star in seiner Ureinwohner-Reihe 21 Titel herausgebracht. Die ersten drei waren Anthologien mit Kurzgeschichten, Romanen und journalistischen Berichten, hauptsächlich aus han-chinesischer Feder. Mit Werken von Ureinwohner-Autoren konnte das Verlagshaus die Rotationsmaschinen erst vergleichsweise spät füttern. Es gibt noch ein paar andere Verleger, die Ureinwohnerstoff herausgeben, aber die konzentrieren sich vor allem auf Berichte über Feldstudien und allgemeine akademische Forschung. Bei Prosa und Dichtung steht Morning Star allein auf weiter Flur.
"Mit Literatur kann man die Kultur erhalten", glaubt Chen Ming-min(陳銘民), Verleger bei Morning Star. "Wir veröffentlichen diese Reihe, um potentielle Autoren anzuspornen." Weil Chen, ein Han-Chinese, sich darüber im klaren ist, daß viele Aspekte der Stammeskultur über seinen Horizont hinausgehen, hat er Yuma Suyal(幽瑪˙蘇雅恩)vom Stamm der Atayal als Lektorin der Reihe engagiert. Der Atayal-Schriftsteller Walis Nogang hält außerdem die Augen nach schreibbegabten Ureinwohnern offen, die für Morning Star interessant sein könnten.
Bisher war der Erfolg eher mäßig. "Wir hatten erwartet, daß die Reihe neue Autoren anregen und ermutigen würde", gibt Walis Nogang zu. "Bis jetzt haben sich unsere Erwartungen aber leider nicht erfüllt." Der Hauptgrund dafür liegt auf der Hand: Geld. Für einen Neuling, der zwei Wochen an einem 5000-Wörter-Aufsatz schreibt, springen bestenfalls 5000 NT$ (300 DM) heraus - oder gar nichts, wenn der Aufsatz abgelehnt wird. Mit Teilzeitarbeit lassen sich in der gleichen Zeit aber locker 15 000 NT$ (900 DM) verdienen. Tatsächlich schaffen es selbst die produktivsten Ureinwohnerautoren kaum, den Lebensunterhalt allein vom Schreiben zu bestreiten. Walis Nogang hat bei Morning Star vier Bücher veröffentlicht, muß aber zusätzlich noch in einer Grundschule unterrichten, um leben zu können. Einer der berühmtesten Dichter der Ureinwohner, ein Blinder, ernährt sich durch Arbeit als Masseur.
Nach Ansicht von Walis Nogang sollten die Regierung und der private Sektor in diesem Bereich eine aktivere Rolle übernehmen. Die Regierung könnte kostenlose Kurse in kreativem Schreiben anbieten, private Firmen könnten für Auftragsarbeiten Vorschüsse zahlen und so die Autoren entlasten. "Die meisten Leute halten die Ureinwohnerliteratur für wertvoll, und sie sollte gefördert werden", findet er. "In dieser Phase ist finanzielle Hilfe das beste Fördermittel, weil sich dann mehr Leute gezielt dem Schreiben widmen können."
Sogar bekannte Autoren schreiben jetzt weniger als vorher. Walis Nogang weist darauf hin, daß die meisten Ureinwohner aus Idealismus zu schrei ben beginnen: Sie finden, daß ihre Leute ungerecht behandelt werden, daher setzen sie sich für sie ein. Aus diesem Grund unterscheiden sich ihre Werke vom Wesen her sehr von den typischen Werken der Nicht-Ureinwohner, bei denen das Individuum im Mittelpunkt steht. Kaum haben die Ureinwohnerautoren aber ihre Stimme gefunden, erwartet man von ihnen, daß sie sich neben dem Schreiben auch an anderen Aktivitäten wie Führen einer Ureinwohnerbewegung, Reden gegen die Lagerung von Atommüll auf Stammesgebiet und Teilnahme an Tagungen beteiligen. "Man kann unmöglich das alles leisten und dann noch produktiv schreiben", stellt Walis Nogang fest.
Ein anderes Hindernis für die Verleger ist die Sprachbarriere. Weil keine Ureinwohnersprache eine eigene Schrift hat, müssen die Autoren eine Umschrift verwenden. "Selbst wenn man das versteht, kann man es nicht flüßig runterlesen", bemängelt die Atayal-Lektorin Yuma Suyal. Deswegen sind die meisten Druckerzeugnisse über Ureinwohnerfragen auf Chinesisch verfaßt. Zwei Bücher in der Sonderreihe von Morning Star sind jedoch zweisprachig, jeweils in Yami und Chinesisch bzw. Atayal und Chinesisch. So ein Buch ist aber für die meisten Leser praktisch zur Hälfte unverständlich, und dazu zählen auch die Ureinwohner, die zu einem anderen Stamm als der Autor gehören.
Egal ob sich die Ergebnisse leicht lesen lassen oder nicht, die Verleger und Autoren lassen sich nicht beirren. "Unverfälschte literarische Werke der Ureinwohner sollten in der jeweiligen Muttersprache geschrieben werden", meint Walis Nogang. "Chinesisch benutzen wir nur als Vehikel, um verstanden zu werden, denn wir bringen unsere Werke ja hier in einer han-chinesischen Gesellschaft heraus und müssen uns an ihre Spielregeln halten." Die Verleger glauben, daß die Autoren die allmählich austerbenden Stammessprachen nur durch Schreiben in ihrer Muttersprache erhalten können.
Yuma Suyal, die Anfang zwanzig ist, kann zwar ihre Muttersprache Atayal einigermaßen gut sprechen, aber sie weist darauf hin, daß die meisten der noch jüngeren Leute ihre Muttersprache nicht mehr beherrschen. Sogar Walis Nogang gibt zu, daß er während seiner Studienzeit meistens Chinesisch sprach und auf diese Weise schnell das Gefühl für die eigene Sprache verlor. Das kam erst wieder, als er in sein Heimatdorf zurückkehrte. "Jedesmal, wenn wir ein zweisprachiges Buch herausbringen, ernten wir eine Menge Kritik", berichtet der Verleger Chen Ming-min. "Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, könnte es zu spät sein."
Morning Star bildet sich nicht ein, daß die Titel aus dem Ureinwohner-Programm jemals zu Bestsellern werden würden. "Bei dieser Serie pfeifen wir einfach auf kommerzielle Erwägungen", bemerkt Chen. "Wenn wir das Wesentliche eines Werkes zum Ausdruck bringen können, gibt es auch Resonanz." Leider kam die meiste Resonanz bisher von Nicht-Ureinwohnern. "Meine Verwandten lesen keine Bücher und abonnieren keine Zeitschriften", gesteht Yuma Suyal, "und die meisten anderen Ureinwohnerfamilien auch nicht. Lesen gehört beim Leben der meisten Stammesangehörigen einfach nicht dazu, abgesehen von ein paar Intellektuellen und Lehrern."
Chu Hai-liang von der Zweimonatlichen Stimme der Ureinwohner Taiwans bestätigt, daß Lesen immer noch nicht zu den Gewohnheiten der meisten Ureinwohner zählt. Nach seiner Einschätzung sind nur 2000 der 358 000 Ureinwohner Taiwans potentielle oder wirkliche Abonnenten der Zeitschrift. Die Austronesischen Nachrichten wiederum haben unter den Ureinwohnern ein großes Lesepublikum: Nach einer Kalkulation von Kapi Kalidoay sind siebzig Prozent seiner Leserinnen und Leser Ureinwohner. Es gibt aber immer noch eine Menge zu tun.
Die Nachrichten, die Stimme, die Sonderreihe von Morning Star und andere Publikationen der Ureinwohner müssen alle mit finanziellen und personellen Problemen sowie einer zu geringen Leserschaft fertig werden. Zwar gehen sie mit den vielfältigen und verschiedenen Problemen unterschiedlich um, aber ein wichtiges Prinzip ist ihnen gemeinsam - die unverrückbare Entschlossenheit, nicht aufzugeben. "Wir wollen nicht darüber streiten, wer zuerst hier war oder wem das Land gehört", beschwichtigt Chu. "Aber als Bewohner dieser Insel sind wir unseren Kindern die Wahrheit schuldig, daß die Geschichte Taiwans mehr ist als nur ein Unterkapitel in der Geschichte Chinas."
(Deutsch von Tilman Aretz)