Sie möchten die Liebe der Chinesen zum Essen verstehen? Dann sehen Sie sich ihre Philosophie, Sprache und Literatur wie auch die wundervollen Kreationen ihrer Küchenchefs an.
“Der Appetit auf Essen und Sex ist Teil unserer Natur.” So sprach Kao Tzu vor etwa 2300 Jahren im Verlauf einer berühmten Diskussion mit dem Philosophen Menzius über ihre philosophischen Ansichten zur Natur des Menschen. Dies ist vermutlich der am häufigsten zitierte Aphorismus, wenn über das chinesische Verhältnis zur Welt der Sinne gesprochen wird. Und weise ist dieser kurze Spruch in der Tat, denn er weist nicht nur auf die grundsätzliche Bedeutung von Essen und Sex hin, sondern auch auf die ungebrochene Aufmerksamkeit und Sinnenfreude, die die menschliche Natur für diese beiden Vorgänge aufbringt.
Professor K. C. Chang beginnt sein Buch “Essen in der chinesischen Kultur” (Food in Chinese Culture, Yale University Press, 1977) mit dem gleichen Zitat von Kao Tzu. Aber Chang sagt, daß sich diese Vorgänge insofern unterscheiden, als wir uns mit dem Sex auf eher animalische Weise befassen, das Essen zudem im Vergleich zum Sex wesentlich abwechslungsreicher ist. Man muß sich der Meinung Chang’s nicht unbedingt anschließen, um festzustellen, daß beide im Sinne Kao Tzu’s zu den phantasievollen und sinnlichen Freuden des Lebens gehören.
Eine Episode während des historischen Besuches von Präsident Richard Nixon und seiner Gattin 1972 in China macht deutlich, wie sich Essen und Sinnenfreude in der chinesischen Kochkunst vereinen. Die Medien und die amerikanische Öffentlichkeit verfolgten jedes Wort des Präsidenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens und jeden Schritt entlang der großen Mauer mit gespanntem Interesse. Den meisten entging aber wohl der kleine Leckerbissen, als Pat Nixon nach einem ausgedehnten Bankett den Küchenchef aufsuchte. Dabei lobte sie viele Gerichte und die Tradition chinesischer Kochkunst im allgemeinen. Einen Gang zog sie jedoch allen anderen vor, nämlich Fleisch, das in Soyasauce geschmort und gegart wird und dadurch eine feinglänzende rotbraune Färbung und ein herrliches Aroma erhält. Die Speise ist, wie daraufhin in einer der Wochenzeitschriften Festlandchinas berichtet wurde, in Ostchina unter dem Namen T’i-pang (蹄膀) oder Yüan-t’i (元蹄) wohlbekannt. Im Deutschen wird es als “Der Dame bebende Hinterbacke” bezeichnet (das Gericht selber ist jedoch geschlechtslos).
“Krabben essen wir aus Leidenschaft und Baumrinde aus Notwendigkeit.” So charakterisiert Lin Yu-tang die Ausgereiftheit, praktische Anwendbarkeit und Variationsbreite der chinesischen Küche. Das ist treffend bemerkt, doch hat ein Teil seiner Beschreibung über die Jahre hinweg zu einer irrigen These geführt. Sie lautet, daß der Abwechslungsreichtum der chinesischen Speisekarte auf großen Hunger und Leben am Rande des Existenzminimums auf dem Land zurückzuführen seien, wie das Essen der Rinde nahelegen möchte. Dies trifft jedoch nicht zu. Wenn Hunger der Vater kulinarischer Erfindergabe, Vielfalt und sogar Ausgereiftheit gewesen wäre, dann gäbe es weit mehr bedeutende gaumenerfreuende Traditionen auf der Erde.
Es ist eine Binsenweisheit, daß es unendlich viele Varianten und Zubereitungsmöglichkeiten von Nahrung gibt. Zudem drücken die Menschen auch noch Stolz und Vorurteile bezüglich dieser Lebensnotwendigkeit auf verschiedene Art und Weise aus. Und im Mittelpunkt der unzähligen Begründungen und Erklärungen für diese Vielfalt steht der Gaumen - der Richter des Geschmacks. Mit dem Gaumen stehen und fallen aber Tradition und Ruf eines Volkes. Um nochmal Lin Yu-tang zu zitieren: “Die Franzosen essen mit Begeisterung, die Engländer mit einem schlechten Gewissen.”
Den chinesischen Gaumen zu charakterisieren ist eine komplexe Angelegenheit; angeführt werden sollen im folgenden nur ein paar Gedanken zur chinesischen Küche - oder besser zum Streben nach Geschmack, der im Chinesischen Wei (味) heißt, was “Geschmack”, “Aroma” und “Bedeutung” selbst beinhalten kann.
Das Zusammenstellen von Zutaten ähnelt der Komposition eines Gedichtes - so muß der Koch bei der Zubereitung eines Gerichtes mit viel Fingerspitzengefühl arbeiten.
Essen durchzieht das chinesische Leben, beherrscht es und erklärt es vielleicht auch am besten. Vieles wird verständlich, wenn man Chinesen beobachtet, die sich um einen (meist runden) Tisch versammelt haben, der mit Köstlichkeiten aus den Bergen und aus dem Meer beladen ist oder mit einfachem Tofu, Spinat und gesalzenem Fisch. Chinesen leben auf, wenn vor ihnen eine Fülle von Speisen aufgetragen wird. Da wird nicht gewartet, bis die Gänge einer nach dem anderen aufgetragen werden. Es ist der Zeitpunkt ausgeprägter Geselligkeit und Gemütlichkeit; gleichzeitig ist es der Moment herrlicher Belohnung für den einzelnen, jedoch mit anderen geteilt. Jeder ist ein Koch, ein Küchenchef, ein Gourmet oder vielleicht auch ein Gourmand, aber alle sitzen am gleichen Tisch. Und die Unterhaltung dreht sich wahrscheinlich um das nächste Essen oder um irgendein früheres kulinarisches Glanzstück.
Umgangssprachliches Chinesisch läßt die herausragende Bedeutung des Essens in der Kultur erkennen:
•“Haben Sie schon gegessen?” wird verwendet für “Wie geht es Ihnen”,
•“Auf welche Weise essen Sie?” steht für “Welchen Beruf haben Sie?”, und
•“Womit hast du dir nur dein Essen verdient?” soll Unverantwortlichkeit vorwerfen. Damit nicht genug:
•“Aroma essen” heißt “von jemandem Höherstehenden gefördert werden”,
•“Verlust essen” bedeutet “ausgenützt werden”,
•“Stärke essen” heißt “in den Griff bekommen”,
•“Bedrängnis essen” steht für “in Schwierigkeiten stecken”,
•“Bitterkeit essen” bedeutet “Not leiden”, und für
•“herumessen und auf den Tod warten” bedarf es wohl keiner Übersetzung!
Andere eng damit zusammenhängende Ausdrücke sind z. B. auch “ein Magen voller Bücher” für “gebildet”, und “viel im Magen” für “gelehrt”.
Der taoistische Klassiker Lao Tzu verkündete, “man sollte ein Land regieren, wie man einen kleinen Fisch brät”, was unterschiedliche Auslegungen erlaubt: “vermeide zu viele Umwälzungen”, “halte die Dinge auf kleiner Flamme” und “sei vorsichtig und handle mit Fingerspitzengefühl”. Dann gibt es noch den bekannten Pekinger Spruch: “Wir essen alles, was in der Luft fliegt, mit Ausnahme des Papierdrachens, und wir essen alles, was auf der Erde Beine hat, mit Ausnahme der Holzbank!” Diese wenigen Beispiele liefern nur einen ersten Eindruck von den Dimensionen der chinesischen Welt des Essens, der mundus edibilis sinicus.
Wie kann man diese Universalität des Gaumens, diese Fixierung auf das Essen erklären? Psychologie, Ästhetik, Geographie, Hunger und Überfluß sowie eine Fülle anderer Gründe sind zur Erklärung herangezogen worden. Die chinesische Vorstellung von Geschmack - Wei - hat ihre Wurzeln jedoch in der chinesischen Auffassung von Kosmos und Zivilisation.
Die traditionelle chinesische Weltsicht ging von einem ausgewogenen Zusammenspiel aller Substanzen im Universum aus. Diese Stoffe waren Teil einer Hierarchie von Einheiten, die ein kosmisches und organisches Muster bildeten und den inneren Geboten ihrer eigenen Natur gehorchten. Über der Welt wachte, diesen kosmologischen Annahmen gemäß, der “Himmel” (T’ien 天), eine objektive kosmische Ordnung, der es die Menschen gleichtun sollten. Ordnung heißt, daß alle Teile des Kosmos an der angemessenen Stelle sind und auf die ihnen angemessene Art und Weise funktionieren. Auftretende Störungen und Pannen dieser Ordnung oder ihrer einzelnen Teile sind nur vorübergehend.
Somit weisen die Chinesen - anders als die meisten westlichen Traditionen - dem Bösen weder eine bestimmte Rolle zu, noch ist es von Dauer oder personifiziert. Menschliche Fehler hatten ihren Ursprung in der Welt der Menschen, hatten einen Bezug zum sozialen Umfeld und konnten nach menschlichen und sozialen Kriterien behoben werden. Die Therapie des Bösen läßt sich folglich erreichen, indem man sich die kosmische Ordnung als Beispiel für die moralische Ordnung nimmt, da das Böse nur eine vorübergehende Störung der natürlichen Abläufe ist und nicht als Verstoß gegenüber einem personifizierten Gott betrachtet wird. Man könnte an einen ursprünglich von Kantonesen bevölkerten chinesischen Garten Eden denken, in dem die Schlange einfach in den Suppentopf gesteckt wurde!
Fast zu schade zum Essen - diese exquisit präsentierten Gerichte entsprechen ganz dem chinesischen Verständnis von Geschmack und Kultur, mit dem auch in der Küche gearbeitet wird. Besonders authentisch wirkt es, wenn die Speisen von einer Chinesin im traditionellen Ch’i-p’ao serviert werden.
Der allgegenwärtige Einfluß der Kosmologie auf die chinesische Kultur kommt nirgends so deutlich zum Ausdruck wie beim Begriff von Kultur und Zivilisation selbst. Anders als Civis, die Wurzel des westlichen Begriffes von Zivilisation, welche die Vorstellung städtischen Lebens weckt, hat das chinesische Wort Wen (文), das auch als Wurzel verschiedener Komposita auftaucht, folgende Bedeutungen: verfeinert, nicht derb; glatt, nicht rauh; gelassen, nicht aufgeregt; zivilisiert, nicht streitsüchtig; elegant, nicht gewöhnlich; kultiviert und geschliffen, nicht grobschlächtig und schroff.
Die Grundbedeutung von Wen ist “Muster”. Aus dieser Wurzel entwickelte sich der Begriff in zwei Richtungen: eine Linie sprachlicher Evolution verlief von “Musterung” über “Verzierung” zu “Kunst”; einer anderen folgend bedeutete Wen erst “Muster”, dann “Symbol”, dann “Schriftstück”, schließlich “Literatur”. Die beiden Bedeutungsströmungen vereinten sich schließlich in den Begriffen für “Kultur” (Wen-hua) und “Zivilisation” (Wen-ming), “Literatur” und “die Künste” (Wen-yi). So wird das niedrige, aber beständige Feuer beim Kochen sehr treffend als das Wen-huo, das Wen-Feuer, bezeichnet.
Spätere chinesische Leistungen auf kulturellem Gebiet lassen sich letzten Endes zurückführen auf dieses kosmologische Interesse am Aufbau des Universums, die Auffassung vom Kosmos als Organismus sowie auf eine rationale Sicht von Ordnung, Struktur und Harmonie in allen Lebensbereichen.
So treffen sich also die Welt der Gedanken und das Reich der Sinne im Gaumen. Die Chinesen versuchen, das Essen weitgehend so zu betrachten, wie sie auch Kultur und Zivilisation verstehen - sie suchen nach der Bedeutung der Muster. Der Schlüsselbegriff hierbei ist Wei - “Geschmack”, “Aroma” und “Bedeutung”.
Wen bedeutet für die Zivilisation, was Wei für das Essen ist. Wie das dem Wandel unterworfene Verständnis von Wen zu Literatur und Kunst geführt hat, so hat das dem Wandel unterworfene Verständnis von Wei zum reichen Wissensschatz chinesischer Koch-Kunst geführt. Menzius hat gesagt, daß viele zu essen und zu trinken verstehen, aber wenige den Geschmack beschreiben können. Ist es deshalb ein Wunder, daß Chinesen oft Wei mit “Dichtung” vergleichen und “Dichtung” mit Wei? Die chinesische Geschichte zeigt, wie Wei immer und immer wieder in der Literatur ausgekostet werden konnte.
Z. B. hat Szu-k’ung T’u (司空圖 837-908) aus der T’ang-Dynastie einem Dichterfreund folgendes zu sagen:
Meiner Meinung nach kann man überhaupt nicht von Dichtung sprechen, wenn man es nicht gelernt hat, Geschmack zu beschreiben. Wenn man im Süden an etwas Genießbares denkt, so ist es, falls es Hsi (醯) ist, lediglich sauer und nichts anderes; wenn es Ts’o (鹾) ist, schmeckt es nur salzig und sonst nach nichts. Unsere Leute, die nur essen, um sich den Magen zu füllen, wissen nur, was sauer und was salzig ist, und nicht, was zur Vollkommenheit nötig ist. Ihre Dichtung, mein Herr, ist schon gut, so wie sie ist, und wenig kommt ihr gleich. Wenn sie aber wirklich vollkommen ist, so liegt das an der Bedeutung jenseits des Geschmacks.
Seit damals hat die Vorstellung des “Geschmacks jenseits des Geschmacks” (oder “Bedeutung hinter der Bedeutung”) sowohl Dichter als auch Küchenchefs nicht ruhen lassen. Der chinesische Gelehrte Miao Yue (繆鉞), Emeritus an der Szechwan-Universität, rühmt die Verwendung von Anspielungen auf Essen in der Dichtung von Huang T’ing-chien (黃庭堅 1045-1105), dem Dichter der Sung-Dynastie, und hebt die folgenden zwei Verse hervor:
Pfirsiche, Birnen, die Frühlingsbrise und ein Becher Wein
Flüsse, Seen, der Abendregen und die Zehnjahreslampe.
Der erste Vers wirft mit seinem Essensbezug keine Probleme auf. Der zweite ist schwerer zu verstehen. Flüsse und Seen bezeichnen das übliche Angebot an Fisch und Geflügel, der Abendregen drückt aus, welche Veränderungen die Kochkunst bewirken kann, und die Zehnjahreslampe beschreibt den dauerhaften, lange nachklingenden Geschmack. Huang’s Gedichte sind von einem anderen Gelehrten-Staatsmann-Gourmet der Sung-Dynastie, Su Tung-p’o (蘇東坡 1037-1101) verglichen worden mit den “Krabben und Muscheln des Meeres, alle von edler Art. Man kann einen ganzen Teller voll verspeisen, ohne etwas übrig zu lassen.”
Miao Yue sagte auch: “Die Dichtung der T’ang-Zeit ist wie Litchis essen: steckt man eine in den Mund, durchflutet das süße Aroma die Wangen. Die Dichtung der Sung-Zeit ist wie der Verzehr von Oliven: nach einem anfänglich herben Geschmack bleibt gewiß ein süßer Nachgeschmack zurück.” Und ein japanischer Gelehrter hat die Lyrik der T’ang mit Wein und die der Sung mit Tee verglichen.
Dann gibt es das Schweinefleisch, das Su Tung-p’o berühmt gemacht hat. Man achte besonders auf die Stellung, die Bambus und Bambussprossen sowohl in der Landschaft als auch im Rezept zugewiesen wird. Su schrieb:
Ohne Fleisch kann man zurechtkommen,
ohne Bambus nicht leben.
Ohne Fleisch wird man dünn,
ohne Bambus gewöhnlich.
Ein dünner Mensch kann dick werden,
ein gewöhnlicher ist verloren.
Später nahm dieses Gedicht die Form eines kleinen Liedes an:
Man kann nicht leben ohne Bambus, man kann nicht leben ohne Fleisch.
Ohne Bambus wird man gewöhnlich, ohne Fleisch wied man dünn.
Willst du nicht gewöhnlich und dünn sein, laß Bambussprossen in jedem Gericht Begleiter des Fleisches sein.
So wurde das Schweinefleisch-und-Bambus-Gericht à la Tung-p’o geboren, das man im ganzen Land von Szuch’uan bis Hang-chou nachgeahmt hat!
Das Mysterium des Geschmacks fasziniert weiterhin den literarischen Gaumen, und nirgends ist dies offensichtlicher als im allerersten Gedicht, mit dem Ts’ao Hsüeh-ch’in (1715-1763) den als herausragendsten Roman Chinas gerühmten “Traum der Roten Kammer” beginnt:
Seiten um Seiten voll leerer Worte, geäußert unter bitteren Tränen.
Jedermann hält den Autor für einen Narren,
Wer kann wirklich das innere Aroma erkennen?
Manche Tien-hsin kann man als Nachspeise und manche auch als ganze Mahlzeit oder Vorspeise essen - diese kleinen Gerichte sind sehr vielseitig und ebenso beliebt.
Da ist es wieder, das “innere Aroma” oder Wei. “Aroma” und “Botschaft”, “Anliegen” und “Geschmack”. Sie sind austauschbar. Generationen von Gelehrten haben sich mit dem “Traum der Roten Kammer” beschäftigt, sind von Ts’ao Hsüeh-ch’in gefesselt gewesen und versuchen weiterhin, den Traum zu enträtseln. Keine Frage ist, daß Ts’ao sich nach dem Essen und Geschmack von Chiang-nan (wörtlich: “südlich des Flusses”, die Gegend südlich des Yangtzu-Flusses) sehnte. Im Roman gibt es nicht weniger als 197 Eigennamen von Gerichten, die von den auserlesensten Speisen wie Entenschwimmhaut in Weinhefe bis zu solch alltäglichen Köstlichkeiten wie gepreßtem Tofu mit fünf Gewürzen reichen. Ts’ao verlangte nach dem gesunden Leben, das seiner Jugend wie auch seinen Sinnen förderlich gewesen war.
Natürlich begegnen wir im Westen ähnlichen literarischen und kulinarischen Querverweisen. Dorothy Canfield beschrieb einmal, wie das Lesen der Romane von Isak Dinesen dem ersten Biß in eine außergewöhnliche Frucht gleiche, deren Geschmack nicht mit Worten wiedergegeben werden könne. Und Paul Valery vergleicht den verborgenen Sinn von Dichtung mit dem Nährwert von Früchten. Das ist das innere Aroma.
Das Ausmaß, in dem das Essen in der chinesischen Literatur gepriesen wird und mit dem Leben von Gelehrten verknüpft ist, wird vielleicht von keiner anderen Kultur erreicht - trotz “Salat Cäsar”, “Austern Rockefeller”, “Beef Wellington” und “Steak Diana”. Diese Kultivierung der Phantasie und Sinne wird einfach Teil des Lebens, indem sie von den gehobenen und nicht so gehobenen Schichten der Gesellschaft praktiziert wird. Es gibt einen reichen Schatz an lyrischen Lobpreisungen der einfachen und schmucklosen und doch sorgfältig zubereiteten Speisen Chinas.
Poetische Vorstellungskraft und Ansprüche an das Essen haben sich gegenseitig befruchtet. So wird der Umgang mit Nahrung als Kunst angesehen, nicht als Technik, und er wird als Alchimie verstanden, nicht als Chemie. Unter all den unzähligen Abhandlungen, Aufsätzen und Aufzeichnungen über das Essen findet sich kein einziges richtiges Rezeptbuch. Menükarten gibt es dagegen schon, aber nur, um erinnerungswürdige Anlässe festzuhalten. Das Zusammenstellen der Zutaten ähnelt sehr der Komposition eines Gedichtes - nur selten kann es schnell hingeschrieben werden. Man arbeitet daran. Ein Dichter der T’ang-Zeit hat das Verfassen von Gedichten mit dem Nüsseknacken verglichen: Geschmack erreicht man erst nach drei Schichten!
Es ist also der Geist des Essens und seiner Zutaten, der die Phantasie herausfordert, und die Philosophie des Essens und seiner Zubereitung, welche die Sinne in Anspruch nimmt. Es ist allerdings erstaunlich, daß in einer Kultur, in der das Essen solch einen außergewöhnlichen Rang einnimmt, niemals eine persönliche Maxime postuliert worden ist: “Ich esse, deshalb bin ich - Manduco, ergo sum.”
Essen als sinnliche Erfahrung kann jedoch im Exzeß enden. Chinesen, die mit offenen Augen durch das Leben gehen, sind sich dessen sehr wohl bewußt. Kosmologie und Philosophie, Literatur und Volkstradition widmen sich alle dieser Frage, vergessen darüber aber weder Sachlichkeit noch Humor. Nackten Realismus findet man etwa in den beiden Versen des engagierten Tu Fu (杜甫 712-770), einem Dichter der T’ang-Dynastie:
Hinter den Zinnobertüren verderben Wein und Fleisch.
Draußen auf den Straßen liegen gefrorene Knochen im Wege verstreut.
Ähnlich Po Chü-yi (白居易 772-846):
Stolz, zum Fest des Gouverneurs eingeladen zu sein,
reitet man im Galopp so schnell wie die Wolken.
Die Becher sind gefüllt mit den neun Lebensgeistern,
aus Land und Meer wurden die acht Schätze zusammengetragen.
Tangerinen aus Tung- t’ing schälend und karpfen aus dem Himmelssee kostend,
sind unsere Gemüter gefassen, wenn wir satt sind, unser Geist ist angeregt, wenn der Wein mundet.
Im gleichen Jahr gibt es südlich des Flusses eine Dürre;
In Chu-chou essen Menschen Menschen.
Aber auch der Humor kommt nicht zu kurz, der Völlerei und übermäßigen Genuß von Fleisch und Wein aufs Korn nimmt. Groß ist die Zahl der Parodien, der Kontrastierung von Gier und mäßiger Beschränkung. Die “Inoffizielle Geschichte der Gelehrten”, das “Ju-lin Wai-shih” (儒林外史) aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, ist z.B. voller Episoden von Gelehrten, die sich über Salzhändler lustig machen. Bei einem Hochzeitsfest der großtuerischen Familie Lu fällt zuerst eine Ratte in die Vogelnestsuppe, und als der Koch einem Hund einen Tritt versetzen will, landet sein Schuh in einem Gericht aus Schweinefleischbällchen mit einer Panade aus Gänsefett und braunem Zucker. Hedonismus konnte einfach nicht ungestört ausgelebt werden!
Wenn wir nun zum Schluß vom Geschmackserlebnis in der Literatur Abschied nehmen und uns wieder den eigentlichen Gaumenfreuden zuwenden, stellen wir fest, daß es keine Kochkunst ohne den Küchenchef gibt. Und ein Koch, der nicht weiß, wie er mit der Stärke des Feuers umgehen muß - Huo-huo heißt sie bei den Nordchinesen, während die Küchenchefs im Süden sie Wok-hei nennen - wird nie ein Chefkoch werden. Die Stärke des Feuers ist der zentrale Bestandteil chinesischer Kochkunst. Sie reguliert die Temperatur innerhalb und außerhalb des Topfes - die beiden Temperaturen sind nicht gleich, aber eng miteinander verknüpft. Ein Restaurant in Kanton traf sogar einmal die Wahl seines Chefkochs dadurch, daß es von den Bewerbern die Zubereitung von Rühreiern verlangte. Scheinbar Simples ist eben oft am schwierigsten.
So ist es auch mit der Küche Szu-ch’uans, die mehr verschiedene Geschmacksrichtungen unterscheidet als jede andere Region Chinas. Zusätzlich zu den üblichen fünf - süß, sauer, bitter, salzig und scharf - kennt sie nämlich auch noch aromatisch und geröstet-nussig; man faßt die beiden unter dem Namen Ma-la (麻辣) zusammen. In Szuch’uan, das mit einer Fülle von Naturreichtümern und einer ganzjährigen Wachstumsperiode gesegnet ist, zudem häufig in der Geschichte Phasen durchlebt hat, die es aufgrund seiner geographischen Abgeschiedenheit fast als Staat im Staat erscheinen ließen, hat sich eine beneidenswert gute Küche herausgebildet. Neben seiner berühmten Auswahl an kleinen Gerichten hat es auch die Tradition des Staatsbanketts begründet.
Die Gaumenfreuden Chinas sind tatsächlich so unendlich wie verlockend. Zugegeben, “Der Dame bebende Hinterbacke” mag eine ostchinesische Spezialität sein, doch wenn es darum geht, gutes und ausgezeichnet dargebotenes Essen schätzen zu können - den Geschmack jenseits des Geschmacks zu erfassen -, ist das Wichtigste vielleicht ein bebender Gaumen.
(Deutsch von Jürgen Plank)