Ein Besuch in einem chinesischen Tempel ist immer ein faszinierendes Erlebnis, weil es so vieles gibt, was das Auge fesselt - von den geschweiften Dächern, die von komplex angeordneten Pfeilerkonstruktionen getragen werden, über bis in feinste Details bearbeitete und bemalte Wände bis hin zu der Menge an Gläubigen, welche die mit Fliesen ausgelegten Innenhöfe bevölkern. Doch was für Bedeutungen verbergen sich hinter diesen Statuen, Schnitzereien und den anderen Dingen? Das herauszufinden, kann ein frustrierendes Erlebnis sein. Die meisten Tempel sind außerordentlich komplex in ihrer Anlage und mit Symbolik vollgepfropft.
Aber man mag sich trösten, geraten doch auch chinesische Gläubige oft in Verlegenheit, wenn sie die Gestaltung irgendeines Tempels und deren Bedeutung erklären sollen. Fragen über ein bestimmtes Wandrelief oder über eine Figur mögen oft nicht viel mehr als eine eher unbestimmte Antwort evozieren, mit Verweis auf eine Begebenheit in einem alten chinesischen Roman oder auf den Namen eines Gottes. Architektur, Ikonographie und Symbolik von Tempeln sind äußerst vielschichtig. Und da die chinesische Religion prinzipiell offen und egalitär ist, findet man für gewöhnlich Tempel, in denen viele Götter und Geister neben der zentralen Tempelgottheit verehrt werden.
Eine Möglichkeit, die Elemente eines Tempels zu verstehen, ist, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren, beispielsweise auf die Eingangsbereiche, Pfeiler oder Wandreliefs - und der Tsu-shih-Tempel in Sanhsia, einer Vorstadt südwestlich von Taipei, ist ein ausgezeichneter Ort, um eine solches Unternehmen in Angriff zu nehmen. Der Tempel wurde ursprünglich zu Ehren eines historischen Volkshelden, Ch'en Chou-yin, errichtet, der im 13. Jh. versuchte, zur Rettung der Sung-Dynastie eine Streitmacht gegen die einfallenden Mongolen aufzubieten. Wenn ihm auch kein Erfolg beschieden war, so erinnerte man sich doch seiner Taten, und in der Ming-Zeit (1368 - 1644) wurde ihm in Fukien, seiner Heimatprovinz, ein Tempel gebaut. Zwei Jahrhunderte später, als viele Bewohner Fukiens nach Taiwan kamen, wurde zum Gedenken an Ch'en der Tsu-shih-Tempel in Sanhsia geschaffen. Heute jedoch werden auf seinen Altären auch eine ganze Reihe buddhistischer Heiliger und Götter der Volksreligion verehrt.
Die zweihundert Jahre alte Tempelanlage voll prächtiger und erlesener Bildnereiarbeiten ist in den letzten vierzig Jahren ausgiebigen Renovierungen und Erweiterungen unterzogen worden. Besucher können einige von Taiwans besten Holz- und Steinbildhauern beobachten, wie sie an der Konstruktion und an der Ornamentik arbeiten. Während die Aufteilung der Anlage von Tsu-shih in einen inneren und äußeren Hof der Strukturierung der meisten Tempel entspricht, ist die Ausgestaltung der Innenräume besonders prächtig, auch im Vergleich mit anderen chinesischen Tempeln. Ein genauer Blick auf die mit Liebe zum Detail herausgearbeiteten Konstruktions- und Dekorationselemente kann weite Einblicke in die Kultur Chinas, vor allem seine Geschichte, Literatur, Folklore und ästhetischen Vorstellungen, geben. Die Darstellungen im Tsu-shih-Tempel verdeutlichen auch die Tendenz chinesischer Tempel, überlieferte gesellschaftliche und ethische Werte wie Treue, Keuschheit, Kindesliebe und Patriotismus zu fördern, anstatt eindeutig religiöse Werte in den Mittelpunkt zu stellen.
Chien nien, "Schneiden und Kleben", nennt sich diese Kunsthandwerksform, bei der bunte Glas- und Keramikscherben auf einer Grundform aus Zement befestigt werden. Da diese Arrangements überaus wetterbeständig sind, werden sie häufig als Dachdekoration verwendet.
Bildhauerei und Holzschnitzerei haben, so Wang Ching-tai (王慶臺), Direktor des Fachbereichs für Bildnerei an der Nationalen Kunstakademie Taiwan, dieselben Ursprünge. Sie entwickelten sich aus den Formen und Verzierungen antiker Gebrauchsgegenstände, Musikinstrumente und anderer Gegenstände aus der Frühphase der chinesischen Kultur. "Die Grundstruktur von Tempeln entstand zu Beginn der Zeit der Kämpfenden Staaten [403-222 v. Chr.]", erläutert er. "Nach zweitausend Jahren der Entwicklung, in deren Verlauf immer mehr folkloristische Elemente einbezogen wurden, sind Tempel nun verschiedenartiger und komplizierter."
Wang, Autor mehrerer Bücher über Bildhauer- und Schnitzkunst auf Taiwan, unterscheidet die herkömmlichen Motive für die Ausgestaltung von Tempeln nach vier Kategorien: Figuren von Menschen, Göttern und Gestalten aus Märchen und Legenden; Vögel und Blumen; Wild- oder Haustiere und dekorative Elemente wie Glückssymbole und -ornamente. "Diese Motive sind beliebt, weil sich in ihnen die chinesische Vorliebe sowohl für eine festliche Stimmung als auch für ihr bukolisches Umfeld spiegelt", sagt er. Nicht weniger populär sind dramatische Szenen und Darstellungen von Kämpfen aus religiösen Erzählungen und aus der Mythologie, aus bekannten Legenden und Märchen und aus der volkstümlichen wie auch der klassischen Literatur.
"In der traditionellen Agrargesellschaft Chinas", führt Wang weiter aus, "war es völlig selbstverständlich, daß bei Tempelfesten Opern und Puppentheater dargeboten wurden. Und es war eine ganz natürliche Sache für die Tempelbildhauer, daß sie das, was sie sahen, in ihrer Arbeit umsetzten. Die Aufführungen hatten einen starken Einfluß darauf, wie ein Kunsthandwerker eine Figur darstellte und verschiedene Szenen aufbaute."
Weil Theaterproduktionen gleich welcher Art für gewöhnlich auf religiösen und historischen Erzählungen basierten, gewannen die Künstler ihre Inspirationen auch aus der Lektüre der bebilderten Rollenbücher, welche die Schauspieler, Puppenkünstler und Geschichtenerzähler verwendeten. Und so bedienten sich die Kunsthandwerker in den Tempeln der Ereignisse in Romanen, die allen Chinesen, gebildeten oder ungebildeten, geläufig waren. Die populärsten sind "Die Drei Reiche" (San-kuo yen-i*, über Krieg und Rittertum im 3. Jh. n. Chr.), die "Reise nach dem Westen" (Hsiyu chi, eine epische religiöse Allegorie voll Abenteuer, Phantasie, Humor und Satire über einen buddhistischen Mönch und drei Tiere, die ihn als seine Schüler auf einer zum Erwerb von religiösen Schriften unternommenen Reise nach Indien begleiten) und "Die Erzählung vom Flußufer" (Shui-hu chuan, ein dichterisches Werk über eine Bande von Gangsterhelden im 12. Jh.). So sind die Pfeiler, Wände, Decken und Balken in den Tempeln mit Figuren bedeckt, von Kaisern und Generälen bis hin zu Gelehrten und ganz gewöhnlichen Menschen.
Die für die Arbeiten an Wänden und Pfeilern im Tsu-shih-Tempel am häufigsten herangezogene Quelle ist der historische Roman "Die drei Reiche", in welchem der von 222 bis 265 n. Chr. währende Kampf zwischen den Staaten Wei, Shu und Wu um die Herrschaft über das auseinanderfallende Han-Reich nacherzählt wird. Dieser wahrscheinlich beliebteste unter den klassischen Romanen Chinas vermischt in seiner Handlung tatsächliche Ereignisse mit Fiktion und wird häufig für das volkstümliche Theater adaptiert.
Während die vordere Säulengruppe bereits einen geschnitzten und bemalten Abschluß trägt, kann man bei der hinteren Säulengruppe noch den rohen Beton sehen, der das Fundament bildet.
"In der chinesischen Gesellschaft war die Geschichte 'Die drei Reiche' eine wichtige Quelle für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität", erklärt Wang. "Die darin vermittelten Aussagen, beispielsweise über Loyalität, Brüderlichkeit, Freundschaft und Rechtschaffenheit, dienten dem Volk als ethische Standards. Der Roman ist im Bewußtsein der Allgemeinheit tief verwurzelt." Die ausgeprägten Charakterzüge der Hauptfiguren haben sie über die Jahrhunderte zu Exempeln werden lassen, welche nachgeahmt oder aber verächtlich zurückgewiesen werden. Einige gelten als Muster der Verläßlichkeit, andere sind Meister der Strategie und Taktik und wieder andere Beispiele für Ehrgeiz und Schlauheit oder Schurkerei und Lasterhaftigkeit.
Auch wenn die zentralen Charaktere dieses Romans in Opern und Puppentheatern klischeehaft gezeichnet werden, blieb den Bildhauern noch viel Raum für ihre eigene Vorstellungskraft. Oft konzentrierten sie sich auf die Schlüsselszenen, in deren Verlauf es zwischen den Hauptfiguren dramatische Konfrontationen gibt. Im Tsu-shih-Tempel finden sich dafür exzellente Beispiele.
Der Haupteingang der Anlage wird von zwei kleineren Türen flankiert. Zusammen werden sie die "drei Schleusen" genannt, was die Wind- und Wasser-Metaphorik verdeutlicht, die ein wesentlicher Aspekt der Architektur von Tempeln ist. An den gegenüberliegenden Mauern sind minutiös gestaltete steinerne Reliefs angebracht, die sich auf verschiedene Kapitel des Romans über die drei Reiche beziehen. Beispielsweise befindet sich an der Mauer beim Eingang hoch oben rechts eine Darstellung über "Die drei Brüder kämpfen gegen Lü Pu".
Sie dramatisiert den Kampf zwischen den drei Schwurbrüdern und Lü Pu, einem tapferen General und Getreuen der Han-Dynastie. Ts'ao Ts'ao, der berühmte Feldherr und Premierminister der Han-Dynastie, bekannt für seine militärische Strategik, seine Schlauheit und sein hitziges Gemüt, plante, die Überreste der Han-Dynastie zu stürzen. Die drei Brüder gehörten zu Ts'ao's Soldaten, welche bei einem Grenzpaß auf Lü Pu trafen. Zuerst gaben Ts'ao's Truppen nach und wurden schmählich besiegt. Später jedoch vereinigten die drei Brüder die Streitkräfte, und in geschlossener Formation gewannen sie die Schlacht gegen Lü und seine Armee. Auf der Reliefarbeit steht Lü Pu links und kämpft gegen die Schwurbrüder, die auf der rechten Seite aufgereiht sind. Um die vier herum sind andere Streiter mitten im Kämpfen begriffen.
Unterhalb der "Drei Brüder" zeigt ein weiteres steinernes Relief die Episode "Huang Kai akzeptiert eine Bestrafung". Die Geschichte dreht sich um einen taktischen Kniff, bei der man einer Person absichtlich Schaden zufügen läßt, um das Vertrauen von jemandem anderen zu gewinnen. In diesem Fall war es General Ts'ao Ts'ao, der getäuscht wurde. Als Ts'ao Ts'ao mit seiner riesigen Armee in den Staat Wu einzumarschieren drohte, dachte sich dessen Premierminister ein Komplott aus, um der drohenden Krise zu begegnen. Er stritt sich vor den Augen eines Botschafters von Ts'ao mit einem der besten Generäle des Staates Wu wegen einer angeblichen Beleidigung und ließ ihn dann schonungslos prügeln. Der schwer verwundete General schlich sich später in das Lager von Ts'ao Ts'ao, um eine Fahnenflucht vorzutäuschen. Durch den Trick hereingelegt, ließ sich Ts'ao dann zu einem taktischen Fehler verleiten, was dazu führte, daß Hunderte seiner Kriegsschiffe durch ein Feuer zerstört wurden.
Die vertikalen Holzpaneele, genannt Shu-t'sai, verdecken die Verbindungsfugen zwischen den verschiedenen Dachpfeilern und bieten zusätzlichen Platz für Schnitzereien.
In der Mitte der Darstellung steht Chou Yü, der Premierminister von Wu, in einer reich verzierten Staatsrobe. Der ergebene General Huang Kai liegt mit dem Gesicht zu Boden auf der linken Seite. Zu seiner Linken stehen die Minister sowie Wachen des Hofes, welche die Hiebe verabreichen werden, und rechts befinden sich weitere bekannte Figuren aus dem Roman.
Rechts von den "Drei Brüdern" ist eine Arbeit, welche "Ein Bankett im Bronzevogel-Pavillon" zeigt, eine weitere berühmte Begebenheit aus der Geschichte "Die Drei Reiche". Um die Vollendung eines aufsehenerregend schönen Pavillons zu feiern, veranstaltete Ts'ao Ts'ao ein Bankett für seine Zivil- und Militärbeamten. Als Teil der Unterhaltung ließ er einen Wall für einen Bogenschießwettbewerb aufrichten, bei welchem fünf Generäle gegeneinander antreten mußten. Ein rotes Kriegergewand aus kostbarer Seide wurde über der Zielscheibe aufgehängt, und Ts'ao versprach es dem zur Belohnung, der ins Schwarze treffen würde.
Doch gelang dies allen Generälen, und als sie eilten, den Preis einzufordern, wurde dieser in Stücke zerfetzt. Dann belohnte Ts'ao, zufrieden über ihre Fähigkeiten, jeden General mit einem Ballen wertvollen Brokats. Das Relief zeigt ganz oben auf der rechten Seite der Platte, wie Ts'ao sitzend seine fünf Generäle beim Schießen beobachtet, welche in der Mitte nebeneinander aufgereiht stehen; das Ziel und das Gewand befinden sich links.
Viele Bildhauer porträtieren auch gerne die Acht Unsterblichen des Taoismus. Die meisten dieser Unsterblichen waren ursprünglich Menschen, erlangten jedoch ihren erhabenen Status nach unerwarteten Begegnungen mit Göttern, die sich als Menschen getarnt hatten. Sie wurden mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, mit welchen sie den Schwachen zu Hilfe kommen und den Bedürftigen zur Seite zu stehen vermochten. Von den Unsterblichen, die auch in der Malerei ein beliebtes Thema sind, kann ein jeder an einem charakteristischen Utensil erkannt werden, das er bei sich trägt: eine fischförmige Trommel oder ein Schwert, eine Flöte, eine Lotosblume, eine Kürbisflasche, ein Fächer, ein Yin-yang-ban (ein vierseitiges hölzernes Musikinstrument für religiöse Zwecke) oder ein Korb.
Im Tsu-shih-Tempel, auf den langen Mauerdarstellungen neben den Seitentoren des Tempeleingangs, finden sich überwiegend paarweise Darstellungen der Acht Unsterblichen. Einige dieser Steinbildnisse zählen zu den besten des Tempels.
Die Holzschnitzereien im Tsu-shih-Tempel sind nicht weniger beeindruckend als die Arbeiten in Stein. Noch bevor Besucher durch die Haupttore gehen, deuten ihnen die minutiös ausgestalteten Dachvorsprünge und Dachstützen über ihren Köpfen den Reichtum des Tempels an kunsthandwerklicher Fertigkeit an. Eine der besten Holzschnitzereien ist der "Pfahl der Langlebigkeit" (Shou-liang 壽樑), der waagrechte Balken in der Mitte über dem Haupttor, dessen Schnitzerei eine buddhistische Szene zeigt. In ihrem Zentrum sitzt Buddha, mit zwei bekannten Heiligen zu seiner Rechten bzw. Linken stehend. Flankiert werden sie zu beiden Seiten von insgesamt achtzehn Arhats, Schülern, die dazu ernannt wurden, Zeugen der Buddha-Wahrheit zu sein und sich an der Rettung der Welt zu beteiligen. Trotz der begrenzten Fläche sind die Schnitzfiguren individuell gearbeitet, vor allem ihre Gesichter wirken realistisch.
An beiden Enden des horizontal plazierten Shou-liang sind vertikale, Shu-ts'ai (豎材) genannte Holzpaneele angebracht, die dazu dienen, die Verbindungsfugen der verschiedenen Gebälkpfeiler zu verdecken. Im gesamten Tempelbereich bieten diese Paneele zusätzlichen Platz für feinste Schnitzarbeiten, welche oftmals berühmte Figuren aus der klassischen chinesischen Mythologie darstellen. Direkt unter ihnen befinden sich dreieckig geformte "Sperlings-Stützen" (雀替 Ch'üeh-t'i), die zur Stabilisierung der Struktur beitragen und daneben den von der Konstruktion gebildeten rechten Winkel optisch abmildern. Wie bei anderen Pfeilern und Stützelementen sind ihre Oberflächen aufs Erlesenste mit geschnitzten oder gemalten Darstellungen von Begebenheiten bedeckt, welche ebenfalls aus der populären Literatur herrühren.
Ein Relief aus einer Serie von Steinarbeiten über die acht Unsterblichen, die man jeweils an einem charakteristischen Utensil erkennen kann. Hier handelt es sich um Ho Hsien-ku (rechts) und Lee Tieh-kuai.
In der Westtorhalle des Tempels beispielsweise sind zwei berühmte Kampfszenen aus der "Erzählung von der Investitur der Götter" (Feng-shen yen-i, ein Roman aus der Mitte des 16. Jh., welcher Lu Hsi-hsing, einem taoistischen Priester der Ming-Dynastie, zugeschrieben wird) zu sehen. Die legendäre Geschichte, welche dreitausend Jahre zuvor in der Chou-Dynastie spielt, heißt "Drei Feen greifen nahe dem Gelben Fluß an". Dabei geht es um den Herrscher der Chou-Dynastie, seine Generäle und um Chiang Tzu-ya, eine für ihre große Weisheit berühmte Persönlichkeit. Das Bild zeigt Chiang auf der rechten Seite stehend, geschützt von drei Generälen. Drei Frauenfiguren greifen sie von links an, eine jede auf einem mythischen Vogel reitend. Wenn auch zum Verständnis solcher Schnitzarbeiten eine eingehendere Kenntnis der chinesischen Literatur erforderlich ist, so kann doch jeder die ästhetischen Fähigkeiten bewundern, welche in den meisterhaften Schnitzereien deutlich werden.
Im Hinblick auf das Arrangement stellt Wang Ching-tai fest, daß "Handlung, Charaktere und Schauplatz die drei Hauptfaktoren sind, die bedacht werden müssen". Wenn sich eine Darstellung beispielsweise auf nur eine Hauptfigur konzentriert, wird diese in die Mitte gerückt und Nebenfiguren werden ihr zur Seite plaziert. Schließt eine Begebenheit zwei oder drei Hauptcharaktere mit ein, dann betont die Aufteilung die Interaktion oder Konfrontation zwischen diesen. Ist das Geschehen komplex und bevölkert, werden die wichtigsten Figuren nebeneinander aufgereiht oder eine Nebenfigur zwischen zwei Hauptcharaktere plaziert. "Auf diese Weise wirkt die Darstellung nicht starr oder flach", erläutert Wang.
Hinsichtlich des Schauplatzes folgen Darstellungen von Begebenheiten in Innenräumen anderen Prinzipien als solche im Freien. Bei ersteren werden spezielle Techniken verwendet, um der Darstellung mehr Tiefenwirkung und Fülle zu geben, während bei Szenen, welche sich draußen abspielen (und die oft einen Kampf zum Thema haben), eher Inbezugsetzung zur Umgebung statt Tiefe betont wird. Die Linien beispielsweise, welche Zweige von Bäumen bilden, müssen gestreckt und mit den Köpfen und Händen von Figuren verbunden werden, um Instabilität zu vermeiden. "Sauberes Herausarbeiten von Bäumen kann das Bild bereichern und den dramatischen Effekt der Szene erhöhen", ergänzt Wang. In der Tat, je mehr man über einen chinesischen Tempel erfährt, desto eindrucksvoller und lehrreicher ist er. Und jeder Besuch wird mit neuen Entdeckungen belohnt.
*Literaturangaben nach: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Ostasiatische Literaturen – herausgegeben von Günther Deborn, Wiesbaden: Aula-Verlag 1984.
(Deutsch von Martin Kaiser)