Zur Retrospektive "Jörg Immendorff. Ölbilder 1983-1990" in Taipei (12. Juni bis 4. Juli) war zusammen mit dem Künstler, der zur Hängung der Bilder und zur Vernissage für vier Tage vor Ort anwesend war, der Kunsthistoriker Dr. Alexander Tolnay nach Taiwan gekommen. Ehemaliger Direktor der Städtischen Kunsthalle Esslingen und seit 1991 stellvertretender Direktor des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart, führte er das Publikum im Vortragssaal der Städtischen Kunsthalle Taipei im Rahmen einer zweistündigen Vorlesung plus Diaschau in die symbolgeladene, politikbezogene Kunst Jörg Immendorffs ein. Für den in Ungarn gebürtigen, von der Universität Wien promovierten Immendorff-Freund und -Kenner Dr. Tolnay war dies nicht der erste Aufenthalt in der Republik China. Über seine Erfahrungen mit dem Austausch von Kunst zwischen Europa und Asien erzählte Dr. Tolnay in einem Gespräch mit der Redaktion des "Freien China" am 15. Juni:
Freies China: Dr. Tolnay, Sie sind anläßlich der Ausstellung von Werken Jörg Immendorffs zu uns nach Taiwan gekommen?
Tolnay: Ja. Ich möchte da gleich drei wichtige Punkte erwähnen, die im Zusammenhang mit meiner Reise stehen. Erstens ist Immendorff einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Künstler. Die in dieser Schau vertretenen Werke sind ebenfalls von großer Wichtigkeit; sie wurden "in allen drei Teilen Chinas" (in Peking, Hongkong und Taipei) gezeigt. Und ich bin Kurator der Ausstellung. Zum zweiten bin ich im Zusammenhang mit meiner Position beim ifa hier. Verhandlungen für zukünftige Projekte sollen anlaufen. Ifa hat ja auch, neben Lufthansa, einen Teil der Frachtkosten für die Immendorff-Ausstellung gesponsort. Und drittens habe ich eine besondere Beziehung zu Taiwan. Ich bin schon das dritte Mal hier.
Freies China: Könnten Sie den Tätigkeitsbereich des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) kurz schildern?
Tolnay: Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes der Bundesregierung ist eigentlich damit beauftragt, deutsche Kultur in fremde Länder zu bringen. In diesem Amt sitzen aber lauter Beamte, die zwar eine Liebe zur Kunst haben, jedoch keine Experten sind. Und so fungiert das ifa als Mittlerorganisation und übernimmt die Expertenarbeit. Die Kontakte mit den Museen und Stellen im Ausland hingegen stellen die Goethe-Institute vor Ort her, denn die haben Büros im Ausland. Was das ifa nicht hat.
Ifa stellt also Ausstellungen in Deutschland zusammen. Das sind immer so vierzig bis fünfzig Ausstellungen, die um die Welt reisen. Die Kunstwerke sind alle angekauft; die Finanzen kommen vom Auswärtigen Amt. So veranstalten wir weltweit etwa vierhundert Ausstellungen pro jahr. Im kommenden Oktober etwa werden wir Drucke von Albrecht Dürer nach Peking bringen.
Freies China: Sie waren schon mehrmals auf Taiwan?
Tolnay: Nun zum dritten Mal. Das erste Mal bin ich 1985 hierhergekommen, und zwar als Kurator der ersten deutschen Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle Taipei mit dem Titel: "Deutsche Kunst 1945-85". Im jahr 1991 brachte ich dann eine Ausstellung zeitgenössischer tschechischer Kunst aus der Städtischen Kunsthalle Esslingen ins Kunstmuseum der Provinz Taiwan in Taichung. Bei dieser Ausstellung hat mir der Herr Chang Shu-ti vom Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro in Bonn politisch geholfen. Damals war es sehr schwierig, zeitgenössische Kunst eines ehemals kommunistischen Staates hier zu zeigen. Das war ein Politikum. Wir haben 1989 angefangen, darüber zu reden, und als dann die Ausstellung im Jahr 1991 hierherkam, war der Kommunismus in der Tschechoslowakei schon vorbei. Diesbezüglich gab es also kein Problem mehr. Aber die ganze Vorbereitung lief noch in dieser Spannung. Wichtig ist, daß dies eigentlich die erste Präsentation einer ganzen Region war. Früher war Osteuropa einfach unbekannt, war einfach "nicht vorhanden", trotz seiner Wichtigkeit in der Kunst. Gezeigt wurde die Schau zuerst in Esslingen, genau wie die Immendorff-Ausstellung. Das war nämlich auch der Trick: nachdem diese ganze Ausstellung aus der Tschechoslowakei, also aus dem Eisernen Vorhang schon draußen war, war es nicht mehr so schwierig, sie von Deutschland nach Taipei zu bringen. Direkt aus der Tschechoslowakei, das wäre schwierig gewesen. Aus dem Esslinger Museum habe ich die Werkschau also nach Taiwan importiert, und das Taipei Wirtschafts- und Kulturbüro in Bonn war zuständig, weil sie aus Deutschland kam. Aber es war tschechische Kunst.
Freies China: Die europäische Kultur unterscheidet sich so grundlegend von der chinesischen. Wie beurteilen Sie die Publikumsreaktionen auf Immendorff hier?
Tolnay: Ich glaube - und das war in Hongkong und Peking genauso - hundertprozentig haben die Leute das nicht begriffen, was sie gesehen haben. Aber das kann man auch nicht erwarten. Wir (aus dem westlichen Kulturbereich) begreifen chinesische Kalligraphie auch nicht, und trotzdem genießen wir sie. Wie ich auch in Peking erfahren habe, sind Künstler wie Immendorff, die Kunst und der Stil des neuen Europa bei den jungen Künstlern und Kunsthistorikern im Prinzip schon von Publikationen bekannt. Es war überraschend, wie die Festlandchinesen gut informiert sind. Die wußten ganz genau, wer Immendorff ist, wußten über Georg Baselitz und Markus Lüpertz, Anselm Kiefer und Joseph Beuys ... die wußten alles, haben alles gelesen. Wichtig war aber, das jetzt im Original zu sehen. Das war eigentlich der Durchbruch dieser Ausstellung in allen "drei Teilen Chinas" (Festlandchina, Hongkong, Republik China auf Taiwan), daß junge Künstler und Publikum dies alles im Original sehen konnten.
Es ist ohnehin eine Unart des Medienzeitalters an sich geworden, daß viele Leute Bilder per Printmedien oder über andere Medien bekommen und denken, sie hätten es gesehen. Dabei haben sie es nicht gesehen. Erst wenn man Werke im Original sieht, in Originalgröße, da fängt eigentlich erst Kunst an; alles andere ist Information. Alles andere, die Kataloge zum Beispiel, ist ein Kochbuch. Erst die Ausstellung ist das richtige Essen.
Vor allem in einem Land wie China, wo die Beziehung zwischen Student und Meister noch sehr relevant ist, ist es eine andere Erfahrung, daß plötzlich der "Meister" kommt. Der Künstler persönlich, das ist ja immer ein großes Ereignis. Besonders wenn einer so verrückt auftritt wie Immendorff, mit allen seinen Klunkern.
Freies China: Im Vortrag sagten Sie, die Leute hier sollten sich selbst Gedanken machen zu den Immendorffschen Werken. Finden Sie das nicht etwas schwierig? Zwischen dem Kunstwerk und dem Rezipienten befindet sich doch ein Hindernis?
Tolnay: Hindernisse sind dafür da, Neugier zu wecken, einen Gedankenprozeß in die Wege zu leiten. Man sieht etwa das Bild (Rühmen) und fragt sich, was soll das? Aha. Das ist hier (Francis) Picabia, das hier der (Georgio de) Chirico, wer sind die? Da ruft man dann die Bücher zu Hilfe und liest eben nach, was der Picabia gemalt hat und so weiter. Und wenn wir das schon einmal erreicht haben, daß man denkt: Hier kniet der Immendorff, der findet, Picabia und Chirico haben mit seiner Kunst etwas zu tun, sind also Vorbilder. Im Hintergrund ist dann noch etwas aus der Geschichte ... Ich finde, das sind alles ganz wichtige Anregungen. Sie können nicht immer nur den Affen, den Vogel, den Felsen anschauen und nur beurteilen, ob der eine einen schöneren Felsen macht als der andere, und dann Felsen von links, Felsen von rechts ... das ist bloß eine Art von Gedankenprozessen. Es gibt auch eine andere.
Daß die Werke Immendorffs etwas schwierig zu verstehen sind - Gott sei Dank, das finde ich toll. Ich persönlich hasse leicht verständliche Bilder. Wenn ich in eine Ausstellung gehe und Bilder angucke, die ich sofort verstehe, dann wende ich meinen Blick ab und gehe weiter. Da hat sich mein Interesse verloren.
Es gibt aber zwei Reaktionen. Viele werden vielleicht denken, was soll der Quatsch, und gehen weiter. Aber das ist auch kein Kunstpublikum. Die sollen dann zum Silvester Stallone gehen oder was weiß ich, wohin. In dem Augenblick jedoch, wo Sie sagen: Ich verstehe es nicht, aber mich interessiert, was es ist; in dem Augenblick ist eigentlich das Ziel erreicht.
Freies China: Sollte man nicht im Rahmen des Kulturaustausches weitere Zugangsmöglichkeiten, Hilfestellungen sozusagen, bereithalten?
Tolnay: Dafür gibt es die Museumspädagogen. Dies sind die Leute, die Verbindungen zwischen Kunstwerk und Publikum herstellen. Die müssen sich selbst einarbeiten und auch ihr Publikum kennen. Ich kenne ja das Publikum hier nicht, kenne den Hintergrund nicht, die Erziehung, Tradition, und so weiter.
Meiner Meinung nach sollte man hier nicht zu viel westliche Kunst bewundern und nachahmen. In meinen Augen ist das eine negative Entwicklung. In der eigenen Tradition gibt es sehr viel Gutes. Man sollte das Baby nicht mit dem Bade ausschütten, wie man so schön sagt. Alles, was kommt, sollte man kritisch angucken: Bringt das etwas? Bedeutet das für mich etwas? Man sollte vergleichen, nicht kritiklos hinnehmen. Es ist schlecht, wenn Leute dann eine Meinung äußern, wenn sie noch nichts gesehen haben. Etwa nach dem Motto "Das ist alles nichts". Die Aufgabe der Städtischen Kunsthalle Taipei ist doch - und das macht Direktor Huang sehr gut - viele internationale Ausstellungen zum Vergleich einzubringen. Das soll aber immer ein Vergleich bleiben, ein Angebot von Originalen.
Bezüglich der Verständnisschwierigkeiten, auf die Immendorffs Malerei in Asien trifft, kann ich nur sagen, es ist umgekehrt genauso. Zu uns nach Deutschland kann genauso eine afrikanische oder chinesische Ausstellung kommen, voll mit Symbolen, mit Bedeutungen, die wir uns nie im Leben erschließen können, weil jahrtausendealte Traditionen dahinter stehen. Und wir schauen das so an und sagen: Das ist höchste Qualität, technisch hervorragend, toll gemalt. Aber was das bedeutet, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Gott sei Dank! Sonst würden wir ja in einer Coca-Cola-Kultur leben. Es soll auch nicht für alle Länder der Welt nur die eine und gleiche Kunst verständlich sein. Das wäre das Ende der Kultur. Kultur macht gerade das aus, was wir über Jahrtausende geerbt haben. Daß der eine Österreicher ist, der andere Chinese, der andere Ungar und wieder ein anderer Amerikaner - das macht unser Leben, unsere Welt erst interessant.
Der Austausch ist deshalb wichtig, weil die Menschen, die in einer kulturell-nationalen Gemeinschaft leben, am meisten das Fremde fürchten. Dies ist meines Erachtens eine psychologische Aufgabe; und wir erleben ja in Deutschland jetzt auch die Fremdenfeindlichkeit. Das kommt eigentlich aus dem Steinzeitalter, wo sich Gruppen gegen Fremde verteidigen mußten. Wir können es nicht so einfach ablegen. Die Kulturen werden hoffentlich ewig unterschiedlich sein und nicht in eine Weltkultur verschmelzen. Das wäre ganz schlimm. Aber das heißt nicht, daß die verschiedenen Kulturen sich feindlich gegenüberstehen sollen. Deshalb ist der Austausch wichtig, das Kennenlernen, Anschauen, damit es mir nicht fremd bleibt, damit ich es nicht fürchte. In dem Augenblick - auch wenn ich nicht voll verstehe, was diese Symbole bedeuten - muß ich mich davor nicht fürchten. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch der Sport, der soll auch zu einer Freundschaft (zwischen den Völkern) führen.
Freies China: Haben Sie Erfahrungen bezüglich Ausstellungen chinesischer Kunst in Deutschland?
Tolnay: Nach 1985 habe ich hierzulande auch einige junge Künstler kennengelern, zuerst einmal durch die Wu Ma-li, die in Düsseldorf bei Gunther Ücker studiert hat. Im Esslinger Studio, einer Galerie für junge Künstler, habe ich 1986 dann drei junge Künstler aus Taiwan gezeigt. Einer davon ist Jason Kuo, der jetzt gerade eine Installation im Kellergeschoß der Städtischen Kunsthalle Taipei zeigt.
Das Idealste wäre, wenn wir eine große Österreich-Ausstellung nach Taiwan bringen könnten, und dann könnten wir gleich darauf eine Gegenausstellung machen. Dazu müßte ich für längere Zeit einmal nach Taiwan kommen, um bei der Zusammenstellung zu helfen.
Freies China: Besteht beim deutschen Publikum Interesse an Kunst aus Taiwan?
Tolnay: Also, an Kunst aus Taiwan an sich nicht. Es ist unsere Aufgabe, das Interesse zu wecken. Aber das, was bis jetzt gezeigt wurde, fand oftmals in zu kleinem Rahmen statt, hatte nur regionale Bedeutung. Was an Gruppenausstellungen stattfand, wie letztes Jahr parallel zur Dokumenta diese "Begegnung mit den anderen", das war auch nicht so gut, leider. Bis jetzt war in meinen Augen der Auftritt taiwanesischer Künstler in Deutschland nicht so gelungen.
Freies China: Wo liegt der Grund?
Tolnay: Ich glaube, bei der Auswahl. Es gibt schon gute Künstler. Aber da muß mit europäischen Augen, mit Kenntnissen, was unser Publikum honoriert, ausgewählt werden. Und trotzdem soll es taiwanesisch bleiben. Es darf nicht nur einfach internationale Kunst sein, die sieht man auch in Los Angeles oder Osaka, da brauche ich keinen Künstler aus Taiwan. Die Seele, die Problematik, die Bedeutung des Landes muß einfach sichtbar sein; es muß unverwechselbar sein.
Freies China: Etwas Allgemeineres - wie sehen Sie den Fortgang der modernen Kunst?
Tolnay: Ich finde, die westliche Kunst ist momentan in einer Sinnkrise. Das hängt auch mit dem Ende des Jahrtausends zusammen, das gibt ja immer so eine Fin-desiècle-Stimmung, und mit den Schwierigkeiten in der Ökologie. Es gibt also eine Ermüdungserscheinung in der Kunst. Die Chance asiatischer, afrikanischer, südamerikanischer Länder ist es gerade, daß die europäische Kunst immer dann, wenn Ermüdungserscheinungen eintraten, sofort Richtung Osten oder Süden geblickt hat. Wie auch zu Ende des 19. Jahrhunderts die großen Künstler sich mit afrikanischer und japanischer Kunst erfrischt haben, gibt es auch heute eine Tendenz, die schon 1989 anfing. Davon erwartet man sich eigentlich viel, muß aber aufpassen, daß es nicht in einen Neokolonialismus ausartet. Ich glaube, diese gegenseitige Befruchtung würde gut tun. Für die Zukunft sehe ich, daß die abstrakten Fragestellungen des Modernismus, wie über Linie oder Farbe, ausgeschöpft sind und wir wieder menschenorientiert werden müssen. Das heißt nicht, daß die Kunst unbedingt figurativ sein muß, sondern einfach mehr körperbezogen, menschenbezogen, denn letztendlich sind wir ja doch das Maß aller Dinge. Wir können nicht ewiges Wirtschaftswachstum haben, ewig Natur ausbeuten, wenn wir nicht in einem menschlichen Maß sehen, was uns gut tut und was wir wirklich brauchen. Und dieses menschliche Maß ist in außereuropäischer Kunst vielfach noch vorhanden, weshalb die westliche Kunst davon schon einiges lernen kann, eine gewisse europäische Überheblichkeit überwinden kann.
Freies China: Wie sehen Sie Immendorff im Kontext der modernen Kunstentwicklung?
Tolnay: Immendorff hat eine ziemlich eigenständige Position. Er ist einem Material, nämlich dem der Malerei oder der gemalten Skulptur, treu geblieben. Er sucht die Erneuerung im Inhaltlichen, nicht im Stilistischen. Viele postmoderne Künstler haben die Erneuerung in formaler Hinsicht gesucht, etwa mit Holz und Kunststoff und Readymades. Auch die neue Readymade-Kunst in Amerika macht inhaltlich nichts anderes, als Andy Warhol mit Siebdruck gemacht hat, nämlich Pop- und Konsumgüter auszustellen und zu verarbeiten. Immendorff sucht inhaltlich doch Fragen zu bewältigen, die die Gesellschaft stellt, die Umgebung, die deutsche Realität der Teilung und Wiedervereinigung ... So sucht er in seiner Kunst eine Antwort zu geben und malerisch zu verarbeiten, was ihn gerade beschäftigt. Wenn ich seine heutigen Werke mit den Bildern vor zwanzig Jahren vergleiche, ist seine formale Entwicklung minimal. Es sind immer die gleichen, etwas graphischen, etwas kindischen Linien mit starken, ausdrucksvollen Farben. Man muß seine Entwicklung im Inhalt verfolgen, nicht so sehr im Stilistischen und Formalen.