04.08.2025

Taiwan Today

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Ein Künstler hat ja auch einen Kopf zum Denken

01.07.1993
Jörg Immendorff legt in Taipei seine Konzeptionen über Kunst und Politik dar

Vam 12. Juni bis 4. Juli zeigte die Städtische Kunsthalle Taipei von 1983 bis 1990 entstandene Ölbilder des deutschen Malers und Bildhauers Jörg Immendorff. Die Werkschau dieses international etablierten zeitgenössischen Künstlers hatte ihren Anfangspunkt in der Städtischen Kunsthalle Esslingen genommen und war dann in Wien zu sehen gewesen. Stationen der Asientournee waren zuerst Japan, Südkorea, Hongkong und Peking, bevor der Direktor der Städtischen Kunsthalle, Huang Kuang-nan, die Schau von 36 großformatigen, farbkräftigen Ölbildern am 12. Juni in Taipei eröffnete.

Jörg Immendorff, geboren 1945, studierte Bühnenbild bei Teo Otto an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo ab 1946 Joseph Beuys sein Lehrer war. Immendorff engagierte sich für eine politisch bewußte Kunst und begründete die Lidl-Akademie, die sich durch politsch-künstlerische Aktionen kennzeichnete. Die Jahre 1965 bis 1976 widmete er der politischen Agitation, während von 1977 bis 1983 eine intensive Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte erfolgte. Der Bilderzyklus Café Deutschland, in dem er sich mit der Realität des geteilten Deutschlands auseinandersetzte, brachte ihm den Ruf eines "Vorhersehers der deutschen Wiedervereinigung" ein. Besuche bei seinem Malerfreund A. R. Penck in der DDR lieferten Immendorff neue Anstöße zu dieser Thematik. Mit dem 1991 vollendeten Café de Flore brachte Immendorff Porträts seiner künstlerischen Vorbilder und Zeitgenossen mit ihren verschiedenen ästhetischen und philosophischen Ansichten vor dem Hintergrund der bereits vollzogenen deutschen Wiedervereinigung auf die Leinwand. Obgleich weithin als Neoexpressionist bezeichnet, lehnt Immendorff diese kategorische Einordnung ab.

Das Deutsche Kulturzentrum in Taipei, durch dessen Vermittlung die Ausstellung nach Taiwan geholt wurde, feierte mit der Retrospektive sein dreißigjähriges Bestehen auf Taiwan. Nach Aussagen der Leiterin des Deutschen Kulturzentrums, Heidegert Hoesch, sei die Werkschau ein Höhepunkt ihrer Arbeit für interkulturellen Austausch. Freunde des Kulturzentrums würden sicherlich erfreut sein, meinte Hoesch weiter, daß das runde Jubiläum nicht mit dem sonst üblichen Speis und Trank begangen worden sei, sondern - eigentlich viel eher dem Auftrag des Kulturzentrums entsprechend - zur Abwechslung einmal hochwertige Kunst "aufgetischt" wurde.

Gespannt sein darf das hiesige kunstinteressierte Publikum auch auf die gemeinsamen Zukunftsprojekte des Deutschen Kulturzentrums und der Städtischen Kunsthalle Taipei. Vom 23. Oktober bis 9. Januar wird eine vom Aachener Ludwig Forum für internationale Kunst organisierte Ausstellung "Kunst in Deutschland 1950-1990: Von der Teilung bis zur Wiedervereinigung" stattfinden. Weiter steht vom 13. November bis 5. Dezember eine Schau von Zeichnungen und Graphiken Horst Janssens auf dem Programm; beide Ereignisse werden, wie schon die Werke Immendorffs, ebenfalls in der Städtischen Kunsthalle Taipei untergebracht sein.

Das "Freie China" führte mit Jörg Immendorff am 15. Juni folgendes Gespräch.

Freies China: Herr Immendorff, Ihre Bilder sind etwas schwierig zu verstehen, und wir denken, daß dafür nicht nur der Kulturunterschied verantwortlich ist.

Immendorff: Ja. Ich glaube, daß Kunst sowieso etwas Schwieriges ist. Aber das muß ja auch so sein, weil Sie drücken mit dem Schwierigkeitsgrad doch irgendwie auch den Respekt gegenüber dem Betrachter aus. Also, wenn ich nun eine Seifenoper mache, dann geht das schon mal so los, daß ich den Mitmenschen kaum ernst nehme. Die Bilder sind schwierig, weil die ganze Sache schwierig ist: denn meine Suche ist für mich kompliziert, und deswegen können die Bilder eben nicht anders sein.

Es geht nicht darum, eine leichte Sprache zu entwickeln. Es geht auch nicht um eine allgemeingültige Sprache, sondern es ist ein ganz intimer Entwurf. Das ist so: Irgendwann entschließen Sie sich, mal auf die Reise zu gehen. Bei dem einen fängt das später an, beim anderen früher. Und die Motive sind auch unterschiedlich, manche bekommen den Kick oder die Motivation dadurch, daß sie aufräumen wollen, daß sie mit dem, wovon sie umgeben sind, nicht einverstanden sind. Sehr viel in der Kunstgeschichte ist ja Gegenrevolte gewesen, so wie Dada oder selbst die Expressionisten - als die zum ersten Mal in den Pariser Salons auftraten, haben die Leute die Hände über den Kopf geschlagen. Und das können Sie in der gesamten Kunstgeschichte verfolgen, daß sehr viel aus der oppositionellen Haltung passiert ist. Wenn Sie Hieronymus Bosch nehmen, so ist ja bekannt, daß es schwer ist, seine Bilder zu entschlüsseln, weil er ganz präzise Botschaften darin verpackt hat. Aber auch ohne daß man diese Botschaften, wie er sie gesehen hat, nachvollziehen kann, entsteht doch im Kopf oder im Bauch oder im Herzen des Betrachters ein eigenes Bild. Entweder Sie setzen es ein, oder sie gehen auch daran vorbei. Es ist ja hier gar nicht davon die Rede, daß man nun jedermann beglücken muß mit seiner Kunst. Darum geht es nicht. Ich bin nicht gestartet, um durch die Welt zu laufen und irgendwelche Heilslehren zu verkünden. Das ist nicht das Thema.

Es tauchen immer wieder die Fragen auf, ob ich ein politischer Maler bin und was es mit der deutschen Wiedervereinigung auf sich hat. Ich kann da wiederum nur sagen: Warum soll ein Künstler nicht ein politisch interessierter Mensch sein? Er hat ja auch einen Kopf zum Denken. Mir sind eben Sachen aufgestoßen, und so wie (Giorgio) Morandi, der sich Zeit seines Lebens nur mit dem Abstand von einem Objekt zum anderen beschäftigt hat, sehr meditativ, so habe ich also politische Stilleben entworfen. Es gibt ja Bilder, wo ich mich auf (Marcel) Duchamp und seine Readymades beziehe - es gibt ein Bild von mir, das heißt Readymade de I'histoire, das sind historische Fragmente, die mir wichtig sind, die für mich einen gewissen Symbolcharakter haben; es gab dann eine Reihe von Bildern über die Revolution 1848, also auch über die Demokratie, über die Frankfurter Paulskirche. Zum Beispiel dies (Projekt Paulskirche. Marke Vaterland) zeigt hier eine Barrikadenszene. Ganz wichtig herauszuholen ist dieses "doppelte Fahrrad", das nach beiden Seiten hin fahren kann. Einmal manifestiert es das Gebundensein, daß man im Grunde nicht von der Stelle kommt, obwohl man sich pausenlos wie ein Idiot bewegt; und wenn Sie das übereinander schwenken, bekommen Sie den Davidstern. Das ist ganz interessant, ist also irgendwo das Symbol der ewigen Suche, also der Diaspora. Das ist mir vorher eigentlich gar nicht aufgefallen, ich hab dann gedacht, wenn du das drehst ... und plötzlich kam diese Form zustande.

Der künstlerische Prozeß, um immer noch bei Ihrer Frage zu bleiben, ist ja keine geradlinige Angelegenheit. Es ist kein Von-einem-Punkt-Starten und dann kontinuierlich Nach-oben-Streben, sondern es gibt da verschiedene Ebenen. Es gibt da die Kreisbewegung, es gibt Hoch und Tief. Dann dieser bekannte Satz von (Francis) Picabia: "Der Kopf ist rund, damit die Richtung des Denkens sich ändern kann". Wenn wir über Kunst reden, gelingt es uns nicht, intensiver zu werden, wenn man nur auf einem Gleis fährt. Sie können sich sogar widersprechen.

Beim Künstler ist es ja nicht nur so, daß er viel ansammelt und das dann evolutionär nach vorne mitschleppt, zum nächsten Schritt, sondern es ist durchaus möglich, daß man radikale Kehrtwendungen vollzieht. Hier würde ich sogar den Begriff "bekämpfen" einsetzen und sagen, daß man Gegenpositionen aufbaut, daß man eine gewisse Dialektik betreibt. Es gibt ja sehr weise chinesische Sachen, also das Prinzip: eins teilt sich in zwei, solche Dinge, das sagt schon mehr aus über meine Methoden. Und dann diese Beispiele, wo ich persönlich auch natürlich betroffen bin: nach der Wiedervereinigung, wo mir schlecht wurde aufgrund der Art, wie das vonstatten ging. Auf welchem niedrigen materialistischen Niveau das passierte, und auch die Mähr' der friedlichen Revolution ... sicherlich haben die Menschen die Schnauze voll gehabt da drüben. Und dieses Fliehen, dieses Nach-Westen-Drängen hatte eben nicht primär philosophische Gründe, sondern es war die Sehnsucht, materiell ähnlich ausgestattet zu sein wie der westliche Bereich. Das ist ganz eindeutig. Ansonsten war das aber eher eine Gabe der Sowjetunion, die das Wettrüsten mit den Amerikanern nicht mehr aushielt für ihre Ökonomie. Wenn wir uns erinnern an Ungarn und an Prag, so hätte unter anderen Bedingungen die Sowjetunion nie ihren Musterschüler entlassen, verstehen Sie. Das hatte nicht viel mit Liebe zu tun, hatte auch nicht viel mit Philosophie zu tun. Es sind einfach Machtdinge gewesen und ganz harte pragmatische Gründe. Und das bewegt einen.

Ich kannte die Situation sehr gut, weil ich im Januar 1979 den (R. A.) Penck in Dresden besucht habe, unter perversen Bedingungen. Ich habe Südfrüchte und Leinwände und Ölfarben mit rüber gebracht, weil das da kaum zu kriegen war. Wir haben in drei Tagen versucht uns klarzumachen, wo wir stehen, als Künstler in zwei Lagern, aber vollkommen einig irgendwo. Wir haben die Einheit im Grunde künstlerisch schon 1979 vollzogen und davor, in der Ausarbeitung programmatischer künstlerischer Arbeiten. Deswegen hat mein ganzes Zeugs auch - was fälschlicherweise immer wieder behauptet wird - nichts mit Neoexpressionismus zu tun oder mit Expressionismus. Es ist eher eine konzeptuelle anarchistische Geschichte, als daß es einzuordnen wäre in diese gängigen Schablonen der Kunstgeschichte.

Dann, 1990 war das wohl, hatte der Penck in Dresden eine große Einzelausstellung, ich bin wieder rübergefahren, und mir ist einfach schlecht geworden. Ich kam da gar nicht klar, also für meinen Teil ist das auch gar nicht akzeptabel so. Die Widersprüche beginnen sich ja jetzt herauszukristallisieren, und zwar ganz massiv. Der Schaden, der angerichtet wurde ... mal abgesehen davon, daß wir auch keine Wahl hatten, das muß man sehen: Das Beil fiel jetzt an dem Punkt runter, und es war nicht mehr an uns, oder sagen wir an den Deutschen, zu entscheiden, ob wir diese Wiedervereinigung in der Form haben wollten oder nicht. Weil das ein Weltprozeß war; ich habe immer betont, auch in den frühen Diskussionen um die Café Deutschland-Serie, daß ich das Ganze in einer internationalen, oder Weltdimension begreife. Ich habe eine große Bronze gemacht zur Dokumenta 82, das ist ein Brandenburger Tor, und heißt nicht umsonst Weltfrage Naht. Also "Naht": einmal diese Schweißnaht, wo zwei Teile aneinanderkommen, und dann aber "Weltfrage" deshalb, weil die beiden Deutschlands ja wie zwei Stoßstangen verfeindeter Autos sich gegenüberstanden, und weil bei einem militärischen Konflikt also diese Stoßstangen, wie es auch beim Auto der Fall ist, zuerst aufeinandergeprallt wären. Und dieser Widerspruch mußte natürlich gelöst werden, weil es immer eine potentielle Möglichkeit für einen dritten Weltkrieg bedeutet hat. Ob die neue Situation eine Erleichterung gebracht hat beziehungsweise bringen wird, das wage ich zu bezweifeln. Ich schätze nach wie vor die Situation in der ehemaligen Sowjetunion als sehr gefährlich sein. Wenn die Todessehnsucht, die in Jugoslawien hervorgebrochen ist, überschwappen würde oder auf die Sowjetunion ansteckend wirkt wie ein Virus, dann wird es sehr kompliziert. Denn dort gibt es, wie wir alle wissen, wahnsinnige Depots an Nuklearwaffen ... Aber auch auf dem friedlichen Sektor, also dem Etablieren dieser schwachen Atomkraftwerke, wie sie in Bulgarien oder Rumänien oder in Rußland stehen ... Wenn Sie das im Fernsehen sehen, da kann man nur sagen: Laßt uns die Zeit noch richtig gut genießen, denn die können ja auch jederzeit in die Luft fliegen. Die sehen dermaßen morbide aus, mit rostigen Rohren und so, da wird einem ganz schlecht. Sie dürfen das gar nicht richtig zu Ende denken.

Vor diesem Hintergrund muß ich schon sagen - und damit komme ich wieder zurück zur Kunst - kann ja Kunst als individuelle Tätigkeit gar nicht anders sein als kompliziert und schwierig. Ich kann doch keine rosarote Bonbonwolke diesen ganzen Dingen entgegenhalten, das wäre einfach fahrlässig. Mit der Verantwortung, die ein Künstler auch hat, denn das muß man ja sehen: Sie übernehmen, wenn Sie eine etablierte Position haben, auch eine Verantwortung. Der kann man sich nun mehr oder weniger verpflichtet fühlen, muß aber schon sorgfältig damit umgehen.

Gerade, wenn wir hier in Taiwan am Tisch sitzen und diskutieren, dann bedeutet das: Man muß überlegen, ob in der Kunst Möglichkeiten stecken, die uns helfen können, einen über die nationalen Vorstellungsgrenzen hinausgehenden Prozeß in die Wege zu leiten. Das ist auch jedermann klar, der halbwegs alle beisammen hat, wenn wir nur das Ozonproblem nehmen oder das Abholzen der Regenwälder. Wenn wir nicht bald anfangen, als Weltfamilie zu agieren, dann wird es sehr müßig sein, philosophische Diskussionen zu führen, weil dann platzt uns diese ganze Klamotte wirklich mal um die Ohren. Dann ist das sehr akademisch, was wir machen. Und das sind doch auch für einen Künstler knallharte Arbeitsbedingungen, unter denen er lebt, wie andere Menschen auch unter diesen Bedingungen leben und arbeiten müssen. Das kann ich als halbwegs intelligenter Mensch ja nicht ignorieren. Viele tun's ja, das ist ein Trend dieser "Vogel-Strauß-Politik", daß man einfach die Köpfe in den Sand steckt und davon nichts wissen will. Aber ich ziehe es vor, immer den Feind im Auge zu behalten.

Freies China: Verstehen Sie es als Ihre Aufgabe, unsere Zeit in Ihren Werken widerzuspiegeln?

Immendorff: Ich bin mit dem Begriff des Widerspiegelns nur bedingt einverstanden. Natürlich ist Kunst auch immer ein Stück Zeitdokument. Aber der Begriff "den Leuten einen Spiegel vorhalten" beinhaltet ja auch schon eine etwas arrogante Position. Denn man ist mit im Spiel! Und auf die Frage, warum ich mich des öfteren mit einbringe im meine Bilder, mit Selbstporträts, als Agierender: Dies ist ein Grund, um deutlich zu machen, daß auch ich ein Teil des gesamten Prozesses bin. Ich kann mich nicht abseits stellen von der Gesellschaft und sagen, ich habe nur die Funktion, euch eure Schandtaten vorzuführen. Ich bin selber ein Teil der Schandtaten. Es ist auch nicht Aufgabe des Künstlers, als "guter Mensch" einherzuschreiten. Er bringt offensiv das Widersprüchliche zum Ausdruck, das natürlich auch in einem Künstler steckt. Bestenfalls kann er dafür sorgen, jedenfalls für sich, daß hoffentlich meistens das Gute siegt und nicht die Charakterschweinerei. Das ist etwa das, worum er sich bemühen kann, wie andere Menschen auf anderen Gebieten und Arbeitsplätzen eben auch.

Freies China: Apropos Schweinerei, Sie malen in Ihren Bildern oftmals Schweine ...

Immendorff: Damit hat das nichts zu tun. Obwohl ich auf Symbolik jetzt nicht eingehen möchte, kann ich kurz erzählen. Wichtig war mir das mit dem Fahrrad. Das sind Bilder aus einer Serie, die ich in Salzburg gemacht habe, als ich dort an der Salzburger Sommerakademie unterrichtet habe für einen Sommer. Da ging es um verschiedene Arbeitsmethoden. Der (Georg) Baselitz hat seine einmal geschildert als ein "Trüffelschwein"; daß sein malerischer Prozeß sehr schwerfällig, mit der Nase unter der Erde, sehr griffig, mit modrigem Geruch, auf der Suche nach einer Delikatesse ist. Und deswegen kam da dieses tätowierte Schwein ins Spiel. Aber es ist eben einfach ein gemaltes Schwein, und wir dürfen nicht vergessen - das möchte ich unterstreichen -, daß eine gute Absicht oder ein guter, merkwürdiger Konflikt, der in einem Menschen schlummert, noch keine Garantie ist für ein gutes Bild. Man muß sehen, daß das zwei Paar Schuhe sind, und ich bin ganz froh darüber, weil ich will, daß es immer noch eine Ecke gibt, die geheimnisvoll bleibt. Sie können die Kunst nicht einer Radikalanalyse unterwerfen, das wird Ihnen nicht gelingen. Schon allein darum nicht, weil wir Kunst allein rezipieren können mit unserem Fortschritt. Ihr Fortschritt, das heißt, wenn Sie ein lernbegieriger Mensch sind, wird Ihre Augen auf andere Dinge lenken, und Sie werden Bilder immer wieder neu sich ersehen und neu aufnehmen.

Wir haben ja in der Kunstpädagogik ganze Generationen mit einer idiotischen Systematik von Kunstbetrachtung verbogen. Ich kann mich erinnern, wie das bei mir im Internat war, da hatten wir dann also ein Bild von Nolde oder Macke oder Picasso, man fing hier unten an, dann ging man hoch und hatte das bis ins Detail zerpflückt, und hinterher war man genau so schlau wie vorher. Weil Sie die ganze Sinnlichkeit nicht materialisieren können ... ich kann Erotik nicht in Groschen definieren, das geht einfach nicht. Und das müssen wir lernen. Wir müssen auch lernen, unsere Fähigkeit für Geheimnisse zu remobilisieren. Der Mensch besteht nicht nur aus der Ratio, sondern wir haben uns im evolutionären Prozeß zu dem machen lassen, was wir sind, aber es gibt vieles, worauf unsere Schulweisheit Gott sei Dank keine Antworten hat. Sonst würde unsere ganze Motorik auch wegfallen, wir hätten gar nicht mehr die Fähigkeiten, die wir besonders heute brauchen, nämlich in Extremsituationen. Wenn Sie zum Beispiel in einen Verkehrsunfall geraten, werden für kurze Momente ganz andere Fähigkeiten, mit denen Sie nie gerechnet hätten, freigesetzt, und die verschwinden dann auch wieder. Das schlummert in jedem von uns, in dem einen mehr, in dem anderen weniger. Und da ist sicherlich ein Bereich, wo in der Kunst der Begriff der Intuition einzusetzen wäre, der tausendmal wichtiger ist als jede thematische Angelegenheit. Die Themen sind Vorwände, letztendlich. Themen sind "Anreißer", da reißen Sie die Haut mit an. Mit den Themen gehen Sie aber nicht tief.

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