Als riesigen Schritt nach vorn kann man die Entwicklung der Presse auf Taiwan in den letzten Jahren am besten bezeichnen. Die drastischen Veränderungen, die sich vollzogen haben, seit 1988 eine Überholung der Pressegesetze und Veränderung der Pressepolitik stattfand, werden allein schon durch den Blick auf einen der unzähligen Zeitungskioske Taipeis erkenntlich. Die Anzahl der erhältlichen Zeitungen ist recht beachtlich. In Taipei gibt es etwa zwanzig, während auf ganz Taiwan gegenwärtig über zweihundert verschiedene Tageblätter gezählt werden. Aufgrund ihrer Auflagezahlen gelten aber immer noch die United Daily News und die China Times als führend. Vor der Aufhebung von Beschränkungen über die Gründung neuer Zeitungen vor fünf Jahren hatte es nur 31 Tageszeitungen hierzulande gegeben, zwölf davon in Taipei. Nun haben sich die dürftigen zwölf Seiten, die damals als Limit gesetzt worden waren, zu dicken, dreißig- bis fünfzigseitigen Ausgaben gemausert.
Beim Durchblättern zeigen sich weitere Veränderungen. Verstärkte Berichterstattung über Umweltschutz, Gesundheits- und Konsumenteninformation, Reise, Freizeit, Frauen und Kunst bestätigt, daß die Zeitungen sich der neuen Lebensart in Taiwans wohlhabender Gesellschaft anpassen. Sogar die Aufmachung hat sich bei vielen Blättern geändert, so daß die meisten nun bunte, hochqualitative Farbfotos bringen. Der Einsatz von Computern brachte bessere Layoutqualität und eine phantasievollere Nutzung von Anzeigenplatz mit sich.
Am bedeutendsten aber sind die den Inhalt betreffenden Veränderungen. Seitenlange Wiedergabe von Regierungspolitik, nichtssagende Berichte vorkalkulierbarer Parlamentssitzungen und stereotype, negative Beschreibungen Festlandchinas - was einst einen Großteil der Nachrichten ausmachte, gehört nun der Vergangenheit an. Heute wird über empfindliche, einst tabuisierte Themen geschrieben, so über Oppositionsparteien, über die Unabhängigkeitsbewegung Taiwans, über Streitigkeiten innerhalb der Regierungspartei und über festlandchinesische Kultur. Nur wenige Reporter achten mehr darauf, Regierungsvertreter bzw. Politiker nicht zu beleidigen, wie dies früher der Fall gewesen war. Im Gegenteil tendieren sie nun eher dazu, Unstimmigkeiten zwischen Politikern hochzuspielen.
Auch der Staatspräsident kommt in der Presse nicht mehr ungeschoren davon. Als Lee Teng-hui diesen Februar beschloß, einen neuen Premierminister samt neuem Kabinett zu ernennen, folgte ein öffentlicher, in den Printmedien wohldokumentierter Aufschrei dieser Entscheidung. Da fand man ganzseitige Anzeigen, in denen der parteiabtrünnige Parlamentsabgeordnete Ju Gau-jeng(朱高正)sich in Angriffen auf den Präsidenten erging. In den darauffolgenden Tagen wurde über die Reaktion des Staatsoberhaupts auf Ju und andere Kritiker berichtet. Noch vor einem halben Jahrzehnt würde die Mehrzahl der Zeitungen um den Präsidenten gehende Kontroversen tunlichst vermieden haben.
Man kann eine derart offene und vielstimmige, den wachsenden gesellschaftlichen Pluralismus reflektierende Presse wohl nur begrüßen. Doch angesichts des raschen Wandels, der sich derzeit in vielen Bereichen auf Taiwan vollzieht, bringt diese neugeschöpfte Energie auch ungekannte Schwierigkeiten mit sich. Als größte Herausforderung erweist sich, den hochprofessionellen Standards von Objektivität, Ehrlichkeit und Genauigkeit zu entsprechen, die man von niveauvollen Zeitungen in einer pluralistischen Gesellschaft erwartet. Vielfach hinkt die Presse auf Taiwan leider noch nach. Zu oft treten an Stelle des übervorsichtigen Tons und der Selbstzensur der Vergangenheit nun Nachlässigkeit und von eigener Meinung gefärbte Berichterstattung. Falsche Statistiken oder Namen sind geradezu üblich geworden. Häufig werden Nachrichten ohne weitere Überprüfung einfach gedruckt. Die allgemeine Textqualität hat sich drastisch verschlechtert. "Da werden falsche Redewendungen benutzt oder in Redewendungen falsche Zeichen gesetzt", beklagt Paul Wang(王洪鈞), Leiter der Journalistenschule an der Chinesischen Kultur-Universität. "Das macht die Zeitungen oft zum Gegenstand allgemeinen Gespötts."
Die Redakteure selbst geben zu, daß die Fehler ins uferlose gehen. Es gibt sogar eine Zeitschrift, The News Mirror Weekly, die dies zum Anlaß nimmt, allwöchentlich die in Zeitungen erschienenen Unkorrektheiten der vergangenen sieben Tage zusammenzustellen und zu publizieren. Oftmals beschweren sich auch Leser in Leserbriefen, die Nachrichtenerstattung sei politisch tendenziös. Ein gutes Beispiel hierfür bieten die Berichte über den derzeitigen Machtkampf zwischen den Gruppierungen der sogenannten "Hauptrichtung" und der "Nicht-Hauptrichtung" innerhalb der regierenden Kuomintang-Partei (KMT). Die damit verbundenen Vorkommnisse lieferten den Stoff für das wahrscheinlich meistberichtete Thema des Jahres. "Es war offensichtlich, daß eine Zeitung in ihrer Berichterstattung auf große Strecken hin die Hauptrichtung unterstützte", kritisiert Wang, "während eine andere zugunsten der Nicht-Hauptrichtung eintrat."
Über zweihundert Tageszeitungen werden gegenwärtig auf Taiwan publiziert. Um sich ein korrektes Bild von den laufenden Vorgängen machen zu können, wird empfohlen, täglich mehrere Blätter zu lesen.
Da können sich die Leser nur fragen: Welche Zeitung schreibt nun die Wahrheit? Wessen Berichte sind verläßlich? Manche ignorieren Nachrichten über Politik kurzweg, da sie der Meinung sind, es gebe ohnehin keine unparteiischen Berichte. "Ich glaube nur achtzig Prozent von dem, was in der Zeitung steht", meint die Hausfrau Tsai Mei-na(蔡美娜)aus Taipei. "Für die restlichen zwanzig Prozent habe ich meine Zweifel, weil die einzelnen Zeitungen oftmals selbst politische Standpunkte vertreten."
Selbst im Zeitungswesen Tätige geben zu, daß Schwierigkeiten hinsichtlich genauer und objektiver Berichterstattung bestehen. Manche empfehlen, jeden Tag zwei oder drei verschiedene Blätter zu lesen. "Auf diese Weise kann man ein klareres Bild von den Vorgängen bekommen", postuliert Lin Chien-lien(林健煉), Chefredakteur der Liberty Times, einer einst kleinen, seit 1988 aber gehörig gewachsenen Zeitung. "Doch sogar dann kann es sein, daß das Bild mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt."
Während des Ausnahmezustandes von 1948 bis 1987 war es einfach nicht möglich, sich auf die professionellen Standards vorzubereiten, nach denen heute immer mehr verlangt wird. Damals sah Journalismus überhaupt noch ganz anders aus. Selten hatte ein Reporter die Möglichkeit, richtige Recherchen anzustellen. Wer versuchte, kontroverse politische Sachverhalte aufzudecken, lief Gefahr, ins Kreuzfeuer von Regierung oder Polizei zu gelangen oder sich beim Herausgeber in die Nesseln zu setzen; viele Zeitungsverleger waren damals nämlich mehr auf das gute Verhältnis zur KMT bedacht denn auf Marktwettbewerb.
Die Öffentlichkeit ihrerseits war an einseitige Berichte bereits gewöhnt und sah keinen Grund zur Beschwerde. "Während der vergangenen vierzig Jahre wurde in Taiwan jedenfalls nicht der Grundstein für ausgewogene Berichterstaltung gelegt", bestätigt Chen Kuo-hsiang(陳國祥), stellvertretender Vorsitzender der China Times Weekly, einer der Tageszeitung China Times angegliederten Publikation.
Die Aufhebung von Ausnahmezustand und Presserestriktionen resultierte nicht nur in einem offeneren Klima, sie brachte auch verstärkten Wettbewerb mit sich. So haben die beiden Morgenblätter United Daily News und China Times - neben einer Vermehrung der Seitenzahlen - zusätzlich Abendausgaben eingeführt, während das Taipeier Abendblatt Independence Evening Post eine Morgenausgabe hinzufügte. Die Liberty Times beteiligt sich ebenfalls aggresiv am Konkurrenzkampf. Zu ihrer Strategie gehört es, offen Kritik an der United Daily News zu üben und neue Abonnenten mit Goldbarren und anderen beeindruckenden Gewinnpreisen zu locken.
Die vier genannten Zeitungen bemühen sich, den Anforderungen der neuen Wettbewerbverhältnisse nachzukommen. Damit ist man so unter Druck, daß Überlegungen zur Professionalität kaum aufkommen. "Wir haben nicht einmal Zeit, mit den Reportern die Beiträge zu besprechen", erzählt Chen Ruey-jong(陳瑞中), Redakteur bei der Commercial Times, einer im Hause der China Times herausgegebenen Wirtschaftszeitung.
Bedingt durch das weltbewerbsbetonte Klima entstand ein größerer Bedarf an Reportern und Redakteuren. Eigene sowie von fremden Zeitungen abgeworbene Reporter wurden in höhere Positionen befördert, und zur Nachbesetzung der freigewordenen Stellen wurden viele Neulinge aufgenommen. Das Ergebnis ist eine bemerkenswert junge Mitarbeiterschaft bei den Zeitungen. Die meisten Reporter sind heute zwischen 25 und 30 Jahre alt, und viele Redakteure befinden sich in ihren Dreißigern, womit sich im Vergleich zu vor 1988 eine Verjüngung um etwa zehn Jahre herauskristallisiert.
Erfahrene Journalisten wie der 40jährige Yueh Wei-liang (樂為良), Festlandchina-Korrespondent bei der United Daily News, sind rar. Obgleich Yueh erst zehn Jahre in der Branche tätig ist, wird er bereits als alter Hase betrachtet. Der jüngste Chefredakteur Taiwans, Hu Yuan-hui (胡元輝), kam 1989 bei der Independence Evening Post in diese Position; zu jenem Zeitpunkt war er gerade 31 Jahre alt gewesen. Jetzt fungiert er gleichzeitig auch als Chef der Morgenausgabe dieses Blatts.
Derweil junge Reporter einerseits oft eine bessere Schulbildung aufweisen und energischer, mutiger als die ältere Generation auftreten, sind sie andererseits oftmals naiv und schnell zu beeindrucken. "Solche Reporter können im Nu zum Manipulationsinstrument degradiert werden", stellt Hu fest. Lin Chien-lin von der Liberty Times erzählt, junge Reporter kämen manchmal in der festen Überzeugung ins Büro zurückgehastet, sie hätten einen Knüller. Sie bemerken nicht, daß sie sich an der Nase herumführen haben lassen.
Diese Grünschnäbel ließen sich leicht von ihrem eigenen Ego überwältigen, beschreibt der 36jährige Chih Chung-hsien(池中憲), stellvertretender Chefredakteur der Great News, eines nach 1988 gegründeten Tageblatts. "Nach einigen Interviews mit hohen Regierungsvertretern oder Diners mit Industriemagnaten glauben die gleich, sie seien weiß Gott wer", erläutert Chih. "Und wenn sie sich einmal diese Einstellung zu eigen gemacht haben, dann machen sie keine Fortschritte mehr." Es ist auch die Meinung vieler Leser, daß die in den Redaktionen anzutreffende jugendliche Unerfahrenheit ein Hauplhindernis für das Erreichen eines höheren Niveaus darstellt. "Unsere Presse ist noch weit davon entfernt, internationalen journalistischen Maßstäben zu entsprechen", so Chou Chuan(周荃), frühere TV-Koordinatorin und jetztige Parlamentsabgeordnete.
Es wäre ungerecht, fiele die Last der Kritik allein auf die Reporter. Deren Dilemma rührt schließlich auch aus der Art und Weise der Zeitungsführung her. Neueingestellte Kräfte können mit wenig bis gar keiner Einschulung rechnen. Zwar führen manche besser organisierten Zeitungen einen einwöchigen Kurs durch, doch die meisten verzichten aufgrund des argen Personalmangels ganz darauf. Oftmals werden Neulinge sofort mit komplizierten Ressorts betraut, statt ihnen zu Anfang einfache Aufgaben zu übertragen. Der erfahrene Reporter Yueh Wei-liang erinnert sich an einen frisch vom Magisterstudium kommenden Neueinsteiger ohne jegliche Berufserfahrung und ohne journalistische Ausbildung, der an seinem ersten Arbeitstag schon zu einem wichtigen politischen Ereignis ausgesandt wurde. Früher hätte sich ein Reporter zuerst einige Jahre lang mit weniger brisanten Nachrichten beschäftigt, bevor ihm ein wichtiges innen- oder außenpolitisches Thema zugewiesen worden sei, erzählt Yueh.
In der Vergangenheit war es auch üblich, den Neuankömmling an der Seite eines erfahrenen Reporters langsam ins Metier einzuführen, wobei es sechs Monate bis ein Jahr dauern konnte, bevor man ihm erlaubte, eigene Berichte zu veröffentlichen. Heute gestalte sich die Beibehaltung dieser Vorgehensweise durch den Konkurrenzdruck schwierig, meint die vierzigjährige Chou Yu-kou(周玉蔻), Korrespondentin für Auslandsberichte bei der United Daily News. Sie beschwert sich aber auch über die Einstellung der jüngeren Generation. "Die jungen Reporter von heute sind so individualistisch, daß sie keine Anweisungen annehmen wollen", klagt sie. Um das lästige Anlernen zu ersparen, erzählt Lin Chien-lien, bevorzugen viele Zeitungen Reporter, die schon ein oder zwei Jahre Arbeitserfahrung bei einem anderen Blatt gesammelt haben. "Die können sofort mit der Arbeit beginnen."
Auch für jene Anfänger, die in den Genuß einer Einschulung gekommen sind, gestaltet sich das Auffinden von Fakten und Daten schwierig, da sie noch über keine bewährten Informationsquellen verfügen. Das Aufspüren solcher Quellen ist deshalb so schwierig, weil es bei Zeitungen üblich ist, Reporter das Ressort häufig wechseln zu lassen. Zwar suchen manche Redaktionen nun Berichterstatter mit speziellen Fachgebieten anzuwerben, wie für Wirtschaft oder Politik; eine häufiger anzutreffende Einstellung aber ist, daß ein guter Journalist in der Lage sein sollte, mit jeder Art von Bericht zurechtzukommen.
Chi Liang-yu(季良玉), 29jährige Reporterin bei der United Daily News und zuständig für Nachrichten über das Amt für Umweltschutz (Environmental Protection Administration), beobachtete in den letzten eineinhalb Jahren ein reges Kommen und Gehen in der Reporterschaft anderer Zeitungen. "Im Pressebüro des Umweltschutzamts wirst du alle paar Monate neuen Personen vorgestellt", sagt sie. Bleibt ein Reporter ein oder zwei Jahre lang seinem Ressort treu, so betrachtet man ihn schon als alten Hasen auf diesem Gebiet. Chi selbst war zuvor ebenfalls mit anderen Bereichen betraut gewesen. "Gerade, wenn ich mich eingearbeitet hatte und begann, mich auf einem Gebiet auszukennen, mußte ich auf ein anderes umsteigen", kritisiert sie.
Wenn Reporter mit der Berichterstattung eines ihnen fremden Bereiches beauftragt werden, können die Ergebnisse verheerend aussehen. Wie Chi behauptet, sei genau das der Fall gewesen, als vergangenen Dezember Vertreter einer britischen Wildtierschutzorganisation nach Taiwan kamen und gegen den illegalen Handel mit Rhinozeroshörnern protestierten. Die Mehrzahl der ausgesandten Journalisten war mit der Landwirtschaft eher vertraut als mit der Umweltschutzthematik, was damit zusammenhängen mag, daß der Schutz von Wildtieren hierzulande ins Ressort der Landwirtschaftsbehörde fällt. Die Pressekonferenz entartete zu einem mit nationalistischen Aussagen durchsetzten Rufkonzert zwischen Reportern und Umweltschützern. Nach Chi's Ansicht habe die Schuld bei der mangelnden Sachkompetenz der Reporter gelegen. Dies spiegelte sich hinterher auch in der Berichterstattung wider. Wäre die Sache von Umweltschutzreportern angegangen worden, so hätte sich Taiwan wohl einiges an Imagebefleckung ersparen können. "Die sind nämlich besser bewandert auf dem Gebiet des Tierschutzes", verkündet Chi, "und hätten dem Ganzen eine rationalere Haltung entgegengebracht."
Als ernstere Vorkommnisse in der Pressewelt Taiwans - und als Überbleibsel aus vergangenen Zeiten - gelten gewisse gegen die Berufsethik verstoßende Praktiken. Was vor zehn Jahren noch weiter verbreitet war als heute, ist dennoch nicht ausgestorben, nämlich der Brauch demzufolge Journalisten von Interviewpartnern Geld annehmen. Typisch ist die Situation, wo ein Unternehmer durch Geschenke dafür sorgt, daß sich seine Firma einer positiven Darstellung sicher sein kann. Lin Chien-lien meint, von seiten der Zeitungen werde wenig gegen diese Vorkommnisse getan. "Solang die Reporter nicht allzu weit gehen", weiß er, "belassen die meisten Zeitungen lieber alles beim Alten."
In der Vergangenheit haben Journalisten versucht, ihr schlechtes Einkommen für solche Praktiken verantwortlich zu machen; aber heute gilt diese Ausrede nicht mehr. In der Anfangsstellung verdient man als Reporter oftmals mehr als in anderen Berufssparten. Bei großen Zeitungen fängt man ungefähr mit einem Monatsverdienst von 35 000 NT$ (1400 US$) an. Chi, Reporterin bei der United Daily News, denkt zurück an den Tag, da sie bei einer Pressekonferenz zum ersten Mal mit einem roten Briefumschlag konfrontiert wurde - hinter dieser Verkleidung stecken hierzulande traditionellerweise Geldgeschenke - und es sie fast aus den Socken gehoben hätte. "Ich hatte zwar schon davon gehört, es aber noch nicht selbst erlebt", erzählt sie. Um die anderen Reporter nicht bloßzustellen, habe sie den Umschlag heimlich an den Organisator der Pressekonferenz zurückgehen lassen. Trotz dieser Erfahrung gibt Chi an, solche Bestechungen kämen vor allem bei den kleineren Zeitungen vor. "Die meisten jungen Reporter aus meinem Bekanntenkreis nehmen keine Bestechungsgelder", bekundet sie auch.
Obwohl die Schar korrupter Journalisten nun weit kleiner ist als noch vor zwei bis drei Jahrzehnten, stellt doch der gewaltige Börsenaufschwung der letzten Jahre einen ganzen Apfelbaum der Versuchung dar. Börsenberichterstatter, so Lin Chien-lien, sind bereits berühmt-berüchtigt für ihr gegen das Berufsethos verstoßendes Verhalten. Manche von ihnen werden auch für die an Taiwans Börse charakteristischen ausufernden Preismanipulationen verantwortlich gemacht. "Abgesehen davon, daß sie skandalöses Verhalten in keiner Weise aufdecken", erklärt Lin, "tragen sie durch die absichtliche Verbreitung falscher Informationen noch zu den Preismanipulationen großer Anleger bei. Als Gegenleistung erhalten sie Aktien oder Bargeld."
Ist es nicht Bestechung, die moralisch einwandfreier Berichterstattung in den Rücken fällt, so ist es zuweilen Freundschaft. Dies trifft umso mehr für eine Gesellschaft zu, die großen Wert auf soziale Kontakte legt. Sei ein Reporter einmal mit einer bestimmten Informationsquelle auf gutem Fuß, so gestalte sich laut Chih Chung-hsien von der Great News schwierig, auf bestimmte Bitten nicht einzugehen. "Seit Jahrhunderten ist es Bestandteil unserer Kultur, Freunden Dienste zu erweisen", erklärt er. "Reporter fühlen sich bisweilen verpflichtet, auch ohne konkrete Aufforderung für einen Freund Partei zu ergreifen."
Des weiteren liegen Klagen vor, Journalisten fungierten als Sprachrohr von Politikern oder ließen ihre eigene politische Meinung in Meldungen einfließen. Professor Paul Wang meint, dies sei eigentlich eine Frage, welche das ganze Pressewesen betreffe und nicht bloß einzelne Reporter. "Die Rollenverwirrung des Journalisten resultiert aus der Parteilichkeit der Zeitungen", argumentiert er. Wang räumt ein, daß es aufgrund der Pressefreiheit jeder Zeitung gestattet sei, nach eigenem Befinden politische Parteien oder Angelegenheiten zu unterstützen. Das treffe für alle Demokratien zu, auch für die Vereinigten Staaten. "Doch dort entarten die Zeitungen nicht zu Parteiorganen", schildert er. "Die New York Times unterstützt die Demokratische Partei, weil sie ein liberales Blatt ist und sich den liberalen Traditionen dieser Partei anschließt. Gerade die liberale Tradition ist es, die das New Yorker Tageblatt mit der Demokratischen Partei verbindet. Die Partei benutzt die New York Times aber deshalb nicht als Sprachrohr."
Beobachter glauben, die Parteilichkeit der Zeitungen spiele eine zentrale Rolle bei der Betreibung politischer Fehden auf Taiwan. Zum Beispiel wird oft konstatiert, daß die United Daily News für die sogenannte "Nicht-Hauptrichtung" der KMT eintrete, während die Liberty Times hinter der "Hauptrichtung" stehe. Die Independence Evening Post aber hegt seit langem schon Sympathien für die Demokratische Progressive Partei (DPP).
Solche Voreingenommenheit steht sicherlich der Entwicklung größerer Objektivität im Wege. "Die Befreiung von Restriktionen sowie die gesellschaftliche Pluralisierung trugen zur Verschlechterung der Lage noch bei", beurteilt Chen Kuo-hsiang. "Die Zeitungen tun alle, was sie nur wollen. Es gibt keine Schranken mehr." Andererseits denkt Chen, daß Parteilichkeit auch ein Ergebnis gesunden Konkurrenzdenkens sei und in größerem Maße von Vertriebsgründen denn von politischer Einflußnahme abhänge. "Überzeugende politische Standpunkte", stellt er fest, "ziehen eben Leser an."
Die Parlamentsabgeordnete Chou Chuan gibt die Hauptschuld an tendenziöser Berichterstattung den Politikern. Zwar gehörten Politiker mit zu den vehementesten Kritikern von Journalisten, meint Chou, aber gleichzeitig mißbrauchten sie die Medien für ihre eigenen politischen Ziele. Die Abgeordnete klagt weiter an, heimische Politiker hätten keinen Sinn für die Rolle der freien Presse in einer demokratischen Gesellschaft und weigerten sich, den allgemein erwarteten journalistischen Standards Respekt zu zollen. "Nach meiner ersten Wahl wurde ich oftmals gefragt, warum ich mich um einen Parlamentssitz bemühe, statt meinen alten Beruf als TV- Koordinatorin weiter zu verfolgen", erzählt sie. "Damals sagte ich den Fragern, daß Reportern auf Taiwan nicht das Ansehen zukommt, das ihnen eigentlich gebührt. Für die meisten US-Amerikaner zählte die Meinung des beliebten Fernsehjournalisten Walter Cronkite mehr als die des Präsidenten. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, ich hätte sicherlich kein Präsident sein wollen."
Derweil Reportern im aktuellen Tagesgeschehen wenig Achtung, aber ein Übermaß an Kritik entgegengebracht wird, erfreuen sich auf Gebieten wie Reise, Freizeit und Kunst tätige Schreiber heute einer ungekannten Genugtuung. Li Mei-ling(李梅齡), Kunstredakteurin und -reporterin bei der China Times, erinnen sich an ihre Frustationen in der Zeit vor 1988, als Kunstberichte aufgrund der Seitenzahlbeschränkung regelmäßig Nachrichten über Politik oder Wirtschaft zum Opfer fielen. "Heute sieht die Situation anders aus. Es gibt nicht nur mehr Platz für Meldungen, die Leser interessieren sich auch mehr dafür als früher", schildert Li. "Kunstreporter sind über die tägliche Berichterstattung hinaus aktiv und sollen die Leser auch künstlerisch erziehen."
Bisweilen steigen Berichterstatter richtig in die Ereignisse ein und helfen zum Beispiel bei der Vorbereitung oder Finanzaufbringung von Kunstveranstaltungen. Frau Li etwa half bei der Organisation einer Monet-Ausstellung, die kürzlich im Nationalen Palastmuseum stattfand und zum ersten Mal eine größere Gemäldeschau französischer Impressionisten nach Taiwan brachte. "Ich nutzte die während zehn Jahren Reportertätigkeit geknüpften Verbindungen, um Menschen zusammenzubringen und Dinge zu arrangieren", meint sie.
Andere wieder sind der Ansicht, die Reportertätigkeit sei gar nicht so lohnenswert. Mangelnde Einschulung, fehlende Anleitungen und die langen, unregelmäßigen Arbeitszeiten können Grund zur Enttäuschung bieten. Nach Aussage von Lin Chien-lien steigen viele junge Berichterstatter auf andere Tätigkeitsbereiche um, an die sie oft unter Zuhilfenahme ihrer journalistischen Beziehungen gekommen sind. Sie geben die Arbeit bei der Zeitung auf und satteln um auf Public Relations, werden Börsenmakler oder Marketingfachleute - Berufe, in denen das Einkommen oftmals höher ausfällt. In der Folge ist die Abgangsrate beträchtlich.
Daß der Zustand des Zeitungswesens sich zum Schlechteren gewandt hat, ist eine vielgeäußene Meinung unter Branchenkennern. "Ein Doktor ist nötig", forden Professor Wang. Der wahrscheinlich angebrachteste "Doktor" wäre wohl ein privatwirschaftlich organisiertes Überwachungsgremium in Form einer journalistischen Vereinigung, die professionelles und ethisches publizistisches Handeln fördern könnte. Dazu kommentiert Chih Chung-hsien: "Im Gegensatz zu Mitgliedern anderer Berufsgruppen sind Reporter ganz auf sich selbst angewiesen. Sie können sich auf niemanden stützen."
Es gibt zwar journalistische Organisationen auf Taiwan, wie den Nationalen Presserat (National Press Council), doch diese werden von Reportern als nutzlos betrachtet. "Ja, wir haben einen Nationalen Presserat - aber was macht der denn?" will Chou Yu-kou von der United Daily News wissen. "Probleme wieder und wieder bereden, das können sie, bringen aber keine Regulierung der Zeitungsbranche zustande." Lin Chien-lien ist hinsichtlich der Auswirkungen einer solchen neuen Organisation pessimistisch. Er fragt: "Was, wenn noch eine gegründet wird? Die Frage ist: Wie steht es mit der Vertrauenswürdigkeit der Mitglieder? Brauchen wir nicht darüber hinaus wieder ein anderes Gremium, um deren Tätigkeit zu überwachen? Ich glaube, in einer chinesischen Gesellschaft, wo traditionell eine Hand die andere wäscht, ist die Existenz einer unparteilichen, regulierenden Presseorganisation schlicht unmöglich."
Lin setzt, und damit ist er nicht allein, seine Hoffnung statt dessen in die Leser, deren Meinung in der gewinnorientierten Presselandschaft von heute am meisten zählt. Die Erwartungen der Öffentlichkeit sind gegenwärtig höher gesteckt als vor fünf Jahren. Die Leserschaft ist in größerem Maße imstande, Qualität und Glaubwürdigkeit der Presse einzuschätzen und verleiht ihrer Kritik auch Ausdruck, wie aus den jetzt in jedem Blatt zu findenden Leserbriefen klar ersichtlich ist. Die Leserschaft übt in dieser Übergangszeit zu einer freien Presse überhaupt einen wertvollen Einfluß aus. "Vielleicht kann das mißbilligende Feedback der Leser sich so stark auswirken, daß Zeitungen zu Disziplin und Selbstkontrolle veranlaßt werden und indirekt dadurch auch die Berichterstattung Verbesserungen erfährt", hofft Lin.
"Seit Aufhebung der Beschränkungen waren Regierung, Publikum und Zeitungen darum bemüht, sich in die neuen Umstände einzuleben", so Hu Yuan-hui von der Independence Morning Post. "Die Leserschaft muß sich erst an die liberale Atmosphäre gewöhnen, trägt aber gleichzeitig zur Überwachung des Zeitungsapparates und seiner Aktivitäten bei. In der Vergangenheit beklagten sich die Leser nicht unbedingt über schlechte Berichterstattung. Doch nun ertönt Kritik laut und kräftig.
(Deutsch von Brigitte Rieger)