Am 7. August vergangenen Jahres verkündete Präsident Lee Teng-hui das "Statut für die Führung und Sicherheit auf den Kinmen-, Matsu-, Spratly- und Pratas-Inseln", nachdem das Parlament am 16. Juli 1992 das Gesetz zur Aufhebung des Kriegsrechtes verabschiedet hatte.
Diese Aufhebung bedeutet die Selbstverwaltung für die Inseln. Die über 40 000 Bewohner Kinmens werden die gleichen Rechte und Pflichten genießen wie die anderen Bürger der Republick China. Sie werden sich von nun an ungehindert zwischen Kinmen und Taiwan bewegen dürfen, sie erhalten das Wahl- und Demonstrationsrecht, das Steuer- und Landsteuersystem wird ab sofort den auf Taiwan üblichen Bestimmungen angepaßt, und ab 1995 müssen die über Achtzehnjährigen den regulären Militärdienst ableisten. Bislang hatten die jungen Männer Kinmens in der "Selbstverteigungstruppe Kimen" gedient, welche nun abgeschafft und durch normale Polizeieinheiten ersetzt werden soll.
Vor allem die Entwicklung des Tourismus könnte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung auf Kinmen führen. Zunächst hat die Kreisregierung beschlossen, 200 Besucher täglich zuzulassen, da Hotelunterkünfte und Transportmöglichkeiten beschränkt sind. Aber die einsam gelegene, vom Wind umtoste Insel Kinmen mit ihrer prachtvollen, bestens erhaltenen chinesischen Archtektur ist ein Kleinod und könnte zu einer Attraktion für Besucher aus dem In- und Ausland werden.
Kinmen beziehungsweise Quemoy, wie es im südfukienesischen oder Amoy-Dialekt ausgesprochen wird, liegt gerade 2,4 Kilometer vor der Südostküste der Provinz Fukien. Der Granitarchipel besteht aus 12 kleinen Inseln mit einer Gesamtfläche von 150 Quadratkilometern, auf denen etwa 43 000 Menschen leben, die dort stationierten, umfangreichen Streitkräfte nicht mit eingerechnet. Die Eilande sind überwiegend niedrig und flach, Kinmen selbst jedoch ist hügelig.
Die Insel wurde erstmals im 3. Jh. n. Chr. besiedelt, von Menschen, welche das damals vom Krieg verwüstete Festland flohen. Eine wachsende Zahl von Siedlern kam im 9. Jh., nachdem der Hof der Tang-Dynastie entschieden hatte, die Insel zu erschließen. Damals als "Wuchow" bekannt, bekam sie ihren heutigen Namen erst 1387, als ein Prinz von Chiang-hsia die ebenfalls "Kinmen" genannte erste Stadt komplett mit Schutzmauern, Türmen und Wällen bauen ließ.
Der San-ho-yüan repräsentiert die im Süden der Provinz Fukien übliche Bauweise mit einer hufeisenförmigen Anordnung dreier Gebäudeteile, die sich um einen Innenhof gruppieren, welcher an der Eingangsseite von einer Mauer (im Bildvordergrund) abgeschlossen wird.
"Kinmen"(金門)bedeutet "goldenes Tor". "Golden" stellt eine dichterische Referenz an die Stadtmauern dar, "Tor" dagegen bezieht sich auf die frühere Funktion der Insel als ein Stützpunkt zur Kontrolle der Seewege entlang der Südostküste Chinas, einem oft von Piraten heimgesuchten Gebiet.
Die Bauern- und Fischerdörfer, welche über die Insel verstreut liegen, sind vielfach so geblieben, wie sie vor hundert Jahren waren. Daß sich die alten Gebäude, Tempel und anderen Strukturen erhalten haben, kann teilweise der strikten militärischen Kontrolle über die Insel zugeschrieben werden. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß in dem prosperierenden ökonomischen und industriellen Umfeld Taiwans sonst viel davon übrig geblieben wäre. Heute ist die Insel ein lebendes Museum chinesischer Architektur und Volkskultur.
Kinmens traditionelle Architektur leitet sich vom Fukien-Stil ab, wie er für die Gebiete Ch'üan-chou und Chang-chou in der Provinz Fukien typisch ist. Dieser Stil, der sich auch im Osten der Provinz Kuang-tung und auf Taiwan findet, ist durch die Verwendung roter Backsteine, geschweifter Dachfirste und eine Bauweise mit am Haupttrakt lotrecht angrenzenden Seitengebäuden gekennzeichnet. Diese Gebäude sind als Hu-lung bzw. "Schutzdrachen" bekannt. Die Häuser erhalten die klare Aufteilung mit Innenhof aufrecht, wie sie für die traditionell-chinesischen Architekturprinzipien Symmetrie, Balance und Ausrichtung entlang einer zentralen Achse typisch ist. Durch ihre Anlage und Struktur, Stil und Ornamentik zählen sie zum Schönsten der Architektur-Schule Fukiens.
Die sandige und windige Umgebung, sowie die in der Vergangenheit ständig präsenten Bedrohungen durch die Seeräuberei hatten einen deutlichen Einfluß auf die Architektur der Insel. Die Häuser haben eine trutzige Bauweise, mit niedrigen und dicken Mauern sowie kleinen Fenstern. Grundsätzlich ist die Anlage der Häuser eine Abwandlung des im Süden üblichen San-ho-yüan(三合院), d. h. des "Dreiseithofs" [bei dem es sich um eine hufeisenförmige, dreiseitige Gebäudeanlage handelt, die einen Innenhof umschließt und an der vierten Seite von einer Mauer mit Tor begrenzt wird], obwohl auf Kinmen auch der nördliche Stil des Szu-ho-yüan(四合院), des "Vierseithofs " [bei dem ein zentraler, innenliegender Platz, ähnlich wie bei den in den europäischen Alpen anzutreffenden Vierseit- und Vierkanthöfen, auf vier Seiten von Gebäudeteilen umschlossen wird] zu finden ist.
Auf Kinmen jedoch enthalten beide Arten von Höfen einmalige Modifizierungen, die sich von der üblichen Bauweise unterscheiden. Beim dreiseitigen Hof beispielsweise sind die Dachlinien der Seitenflügel etwas niedriger als die des Haupttrakts. Dieses architektonische Merkmal deutet auf die Familienhierarchie hin: Die Eltern leben im Haupttrakt, während die Kinder in den Seitenbereichen untergebracht sind.
Von Kinmen gebürtige Geschäftsleute brachten französische, spanische und englische Kolonialarchitektur aus dem südostasiatischen Ausland mit zurück. Als Symbol für ihren Erfolg ließen sie sich Villen im westlichen Stil errichten.
Eine weitere architektonische Innovation, die man nur auf Kinmen sehen kann, ist die Ergänzung einer kleinen zweistöckigen Galerie bei den vierseitigen Häusern. Die Galerien, die entweder nach innen oder nach außen offen sind, bieten ideale Plätze, um einen heißen Sommerabend zu verbringen. Dieses Strukturelement ist auf dem Festland nicht zu finden, und sein Ursprung ist unbekannt. Es mag eine Folge westlichen Gestaltungseinflusses sein oder einfach eine praktische Möglichkeit, um mehr Platz zu schaffen. Der Raum, den die Galerien bieten, beträgt etwa ein Drittel der Fläche eines Traktes von Standardgröße.
Bei den Hofhäusern auf Kinmen entwickelten sich nie solche ausgedehnten multiplen Innenhöfe, wie sie auf Taiwan zu sehen sind. Traditionellerweise konnten sich die Höfe im Zuge der Verheiratung der Söhne zu zusammenhängenden Strukturen erweitern. Mit einer Zunahme an Vermögen und Verwandtschaftsbeziehungen erweiterte sich der häusliche Raum über einen einzigen Hof hinaus. Höfe konnten in die Breite oder in die Tiefe wachsen. Die größten multiplen Hofanlagen auf Taiwan umfassen fünf oder gar mehr Haupthallen. Auf Kinmen bilden drei die Obergrenze.
Auffallend sind die Profile der Dächer. Von vorne oder von hinten betrachtet, liegt die Betonung der Linie auf dem First; im Anblick von der Seite erscheinen die oft verzierten Giebelenden hervorgehoben. Häuser mit dreiseitigen Höfen haben normalerweise sanft geschweifte Giebelenden, die als "Pferderücken-" oder "Satteldächer" bekannt sind. Die Dächer auf den Haupttrakten sind immer mit anmutig nach oben geführter Krümmung geschweift, während die Dächer der Seitenflügel im allgemeinen flach sind, um als Terrassen zum Trocknen von Fisch, Getreide und Gemüse zu dienen. Einst waren die Dachkategorien auch Zeichen sozialer Stellung - nach dem Gesetz waren die reich verzierten, geschweiften für Tempel, Amtsgebäude und Wohnhäuser der Träger akademischer Grade vorbehalten. Doch war Kinmen weit vom kaiserlichen Hof entfernt, und solche Bestimmungen wurden selten eingehalten. Die begüterte Elite auf der Insel neigte in der Folge dazu, sich über die Regelung hinwegzusetzen und die anmutig geschweifte Linie beim Bau ihrer Häuser zu bevorzugen.
Wie auch auf Taiwan besitzen die meisten Gebäude von Kinmen dort, wo das Dach auf das Giebelende eines Gebäudes trifft, stilisierte Giebelprofile. Diese Stilelemente findet man normalerweise nur bei Gebäuden mit Pferderücken-Dächern. Die Profile sind in fünf grundlegende Gruppen entsprechend der fünf Elemente - Feuer, Holz, Erde, Wasser und Metall - eingeteilt. Durch zahlreiche dekorative Zusätze aus in Formen gegossenem Mörtel wird das Profil zusätzlich erweitert.
Die Architektur auf Kinmen wurde von den Küstengebieten Fukiens und Kuang-tungs beeinflußt. Dort erfreuten sich zur Jahrhundertwende Häuser nach abendländischer Manier großer Beliebtheit, wie die Ansicht einer Siedlung auf der vor Amoy gelegenen kleinen Insel Kulang Yu illustriert.
Backstein, Stein und Dachziegel sind die am häufigsten verwendeten Baumaterialien. Sie wurden für alle Teile verwendet, außer für Pfeiler, Torbogen und Türen, welche aus Holz gefertigt sind. Der Granit wurde direkt auf der Insel gebrochen, und die Backsteine transportierte man von der Provinz Fukien herüber. Graue Backsteine kamen aus dem Norden Fukiens, während orange-rötliche aus der Gegend von Amoy stammten. Beide Arten waren von hoher Qualität und wurden in Brennöfen gebrannt.
Häuser in westlichem Stil kamen um die Jahrhundertwende im Küstengebiet der Provinzen Fukien und Kuang-tung in Mode. Diese Villen wurden in der Spätphase der Ch'ing-Dynastie und in der frühen Republikzeit von Leuten errichtet, welche aus dem Ausland zurückkamen. Viele Einwohner Kinmens gingen nach Südostasien, um dort Geschäfte zu treiben. Amtlichen Zahlen zufolge emigrierten insgesamt 168 000 auf Kinmen Gebürtige in andere Länder. Einige von ihnen wurden reich, kamen zurück und ließen als Symbol ihres Reichtums Häuser westlichen Stils errichten. Die Baustile sind unterschiedlich, je nachdem wo sich ihre Eigentümer im Ausland niedergelassen hatten. So führten Bewohner, die von den Philippinen zurückkamen, Elemente der spanischen Kolonialarchitektur wie rechteckige Säulen sowie Arkaden ein. Aus Singapur Heimgekehrte ahmten bei ihren Wohnhäusern britisch-koloniale Domizile nach, und solche, die in Vietnam tätig gewesen waren, entschieden sich für Architektur im Stil französischer Villen in Saigon.
Die Leute im Süden Fukiens nannten diese Bauwerke huan-a-lao(番仔樓), was "Ausländer-Bauten" bedeutet. In vielen Fällen wurde westliche Architektur mit dem traditionellen fukienesischen Hofhaus kombiniert, mit dem Ergebnis einer reichhaltigen Synthese. Häuser in okzidentaler Manier haben oft traditionell-chinesische Dekorationsmotive, während einige Hofhäuser westlich gestaltete Fassaden aufweisen. Es gibt auch viele Beispiele für Villen westlichen Stils, die direkt in eine Anlage mit Innenhof integriert wurden.
Die Handwerker von Kinmen entwickelten beträchtliches Geschick für diese Art des Kombinierens. Ohne eine formale Ausbildung in der Architektur des Westens erhalten zu haben, lernten sie durch Nachahmen, und später mixten sie gekonnt die verschiedenen Genres. Das daraus entstandene architektonische Potpourri geht jedoch über die bloße Dekoration hinaus, man kann es auch an Raum- und Strukturelementen sowie an der Wahl des Baumaterials sehen. Chinesische Pfeiler und westliche Kapitelle, chinesische Friese und westliche Backsteinschichtung sowie Giebeldreiecke vereinen sich in einem eklektischen Stil.
Die Wohnhäuser, Schreine und Tempel auf Kinmen sind reichlich mit Ornamenten geschmückt, welche aus Backsteinmauerwerk, Stein- und Holzbildnereien, Ton und gegossenem Mörtel sowie aus Keramikziegeln bestehen können. Diese Materialien werden einzeln oder in Kombination verwendet und bilden eine weite Bandbreite an dekorativen Mustern. Abgesehen von der traditionellen Konstruktion mit den horizontal und versetzt geschichteten Backsteinen haben viele Mauern vertikales, horizontales und sogar diagonales Mauerwerk. In diese sind auch Muster integriert, die Flaschenkürbissen, Geld, Schildkrötenpanzern, chinesischen Schriftzeichen und vielen anderen Motiven ähneln.
Erstaunliche Kreativität beweisen dem Besucher die aus Granit gehauenen Windlöwen, von denen es auf Kinmen etwa fünfzig gibt. Verschiedenartiges Aussehen und beigegebene Utensilien prägen die unterschiedlichen Charaktere der Statuen, die laut Volksglauben böse Geister von den Menschen fernhalten sollen.
Bei den Dekorationselementen, mit denen die Gebäude auf Kinmen geschmückt wurden, ist eine große Zahl von Symbolen zur Abwehr des Bösen eingearbeitet, beispielsweise über den Türen Muster mit den acht Trigrammen (八卦 ba-kua), Amulette mit Messern und Schwertern sowie Pflanzen- und Tiersymbole. Auf den Hausgiebeln gibt es oft eine kleine Figur, die auf einem Löwen oder einer glücksverheißenden mythischen Kreatur reitet. Von den Figuren heißt es, daß sie durch Fernhalten böser Geister die Wohnhäuser einzelner Farmilien beschützen. Diese Figuren setzt man beim Bau neuer Häuser noch immer auf deren Dach. Sie sind meist aus Keramik und werden in der Tonwarenfabrik Kinmen hergestellt, welche auf Taiwan im Jahresdurchschnitt das größte Produktionsvolumen an Töpferware hat.
Chiao-chih (交趾), irdene Wandverzierungen mit Blumen- und Tiermotiven, sind ein anderes reizvolles Merkmal der Architektur Kinmens. Die Keramik erhielt ihren Namen von dem kleinen Ort in der Provinz Kuang-tung, wo sie herrührt. Die aus schwarzem und weißem Ton geschaffene Töpferware wird bei niedrigen Temperaturen - zwischen 300 und 800 °C - gebrannt und mittels Auftragen von Bleiglasuren in gelbe, grüne und purpurne Keramiken verwandelt. Im Hinblick auf die Farbe ähnelt chiao-chih der berühmten dreifarbig glasierten Töpferware der Tang-Dynastie.
Die Herstellung eines einzigen solchen dreidimensionalen Wandschmucks ist ein langsamer und komplizierter Prozeß. Der Meister fertigt nach einem zuvor festgelegten Entwurf jedes Element einzeln an. Nach dem Glasieren und Brennen werden die Teile zusammengefügt und mit Kalkzement an der Wand angebracht. Sie sind wegen der für die Gestaltung eines solchen dreidimensionalen Panels erforderlichen handwerklichen Fähigkeiten recht teuer. Deshalb sieht man chiao-chih nur an den Wänden und Fenstern von Tempeln und Häusern begüterter Leute. Auf Taiwan sind nur wenige dieser Wandverzierungen übrig, doch blieben auf Kinmen viele exquisite Beispiele erhalten.
In der Architektur von Kinmen werden auch bunte Keramikziegel ausgiebig verwendet. Man benutzt sie bei jedem Teil des Gebäudes, sowohl funktional als auch dekorativ. Es gibt Hunderte verschiedenartiger Designs, doch haben die meisten ein geometrisches oder ein Blumenmuster. Einige zeigen sogar Hindu-Gottheiten, zum Beispiel Ganesh oder Krishna. Die meisten dieser Porzellanziegel wurden um 1910 in Japan hergestellt und können an den auf der Rückseite eingestempelten Firmennamen identifiziert werden. Die Verwendung farbiger Porzellanziegel in der Architektur war in Japan zu Anfang des Jahrhunderts beliebt. Auch Taiwan, welches unter japanischer Kontrolle stand, wurde von diesem Modefieber angesteckt, wie auch die Inseln Kinmen und Penghu. Kinmen war die Heimat vieler wohlhabender Händler aus Übersee, und für ihre Domizile bestanden sie auf den besten Materialien, ob importierte oder einheimische.
In vielen Dörfern auf Kinmen gibt es nur einen Familiennamen. Familienschreine spielen deshalb eine wichtige Rolle im dörflichen Umfeld. In einem solchen Schrein werden für gewöhnlich Holztafeln zur Aufzeichnung der Familiengeschichte verwendet. Diese Zentren der Kindespietät sind dem Gedenken der Vorfahren gewidmet, um fortgesetzten Segen für die Sippe sicherzustellen. Und als solche dienen sie als ein Zentrum des Dorflebens.
Der Bau eines Familienschreins ist nicht nur ein bedeutendes Ereignis, sondern auch ein sehr teures. Nur wenn die Familie eine ansehnliche Größe erreicht hat, kann sie genügend Geldmittel dazu aufbringen. Die meisten bestehen aus drei Räumen und liegen im Zentrum des Dorfes. Große Schreine mit mehreren Höfen sind sehr selten. Obgleich einige der neueren okzidentale Architekturelemente einbeziehen, behalten sie doch ihre traditionelle Erscheinung; bei allen findet sich das geschwungene Dach. Die Familie Tsai von Chyonglin auf der Hauptinsel hat sieben Familienschreine gebaut, was einen Rekord für die Insel darstellt.
Kinmen verfügt über eine Fülle von Tempeln, von denen die meisten kleine Gebäude mit einem einzigen Raum sind. Man kann davon ausgehen, daß dort, wo es ein Dorf gibt, auch ein Tempel existiert. Tempel befinden sich gewöhnlich am Rande eines Dorfes, wo sie die schädlichen Einflüsse am besten vom Ort fernhalten können. Sobald Dörfer wachsen und expandieren, werden an den neuen Grenzen Tempel errichtet. Diejenigen auf Kinmen sind fast hundert Göttern und Göttinnen geweiht, das ist etwa ein Drittel der auf Taiwan verehrten. Architektonisch zeichnen sich die Tempel durch ihre geschwungenen Firste sowie durch die oben abgeflachten, stilisierten Giebelprofile aus.
Besucher auf Kinmen werden zweifelsohne von den Statuen der Windlöwen angetan sein, die einmalig für die Insel sind. Es heißt, daß die Verehrung der Windlöwen mit General Cheng Ch'eng-kung bzw. - wie er auch bekannt ist - Koxinga begann, als dieser Mitte des 17. Jh.s auf die Insel kam. Kinmen wurde Koxinga's Operationsbasis bei seinen Bemühungen, die Holländer von Taiwan und die Mandschus vom Festland zu vertreiben. Ihm wird angelastet, die Bäume auf der Insel abgeholzt zu haben, um das Nutzholz für den Bau von Schiffen zur Invasion Chinas und zur Wiedereinsetzung der Ming-Dynastie zu verwenden. In der Folge wurde die karge Insel windig und sandig. Die Leute sagen, daß diese Winde von Geistern verursacht wurden. So stellten die Einwohner Windlöwen an den Zugängen zu ihren Dörfern auf, um die Geister davonzujagen.
Es gibt etwa funfzig solcher Statuen auf der Insel. Sie sind normalerweise aus dem im Überfluß vorhandenen einheimischen Granit gehauen. Für die Windlöwenstatuen gibt es kein Standardmodell. Jedes Dorf hat seinen eigenen Stil, und manche meinen, daß die Windlöwen für den Charakter des Dorfes stehen. Ihre Mienen sind unterschiedlich: streng, lächelnd oder nach innen gewandt. Sie können Glocken um den Hals tragen, Bälle unter ihren Pranken halten und sogar mit Flaggen oder Schreibpinseln ausgestattet sein. In den letzten Jahren haben die Einheimischen begonnen, die ursprünglich grau belassenen Steinlöwen in hellen Farben zu bemalen.
Die Legende will es, daß der 15. Tag des achten Monats im Mondkalender der Geburtstag des Windlöwen ist, doch feiert jedes Dorf das Ereignis an einem anderen Tag, oft in Zusammenhang mit einem weiteren Fest. Windlöwen werden verehrt, indem für sie Umhänge angefertigt oder sie mit Opfergaben wie klebrigen Reisbällen, Kuchen oder Früchten "gefüttert" werden.
Betrachtet man die Architektur und dekorativen Motive eines Orts näher, dann kann man viel über seine Einwohner sagen, unter anderem über ihr Verhältnis zur Umwelt und über weniger greifbare Aspekte von Glauben und Verwandtschaftsbeziehungen. In dieser Hinsicht ist Kinmen eine Fundgrube an Informationen über Geschichte und Kultur Südostchinas. Auf der Insel haben sich aber auch eigenständige architektonische Muster entwickelt, Muster, die von weitreichenden geschichtlichen Verbindungen mit dem übrigen Asien und darüber hinaus sprechen. Heute steht die Weltoffenheit einer vergangenen Epoche in scharfem Kontrast zu der relativen Abgeschnittenheit der Insel.
(Englisch von Jim Hwang, Deutsch von Martin Kaiser)