Es war 1986, als der 36jährige Taipeier Chi Chia-wei(祁家威)einer Gruppe von Reportern und Kameraleuten vom Fernsehen verkündete, daß er homosexuell sei und eine Kampagne zur Verhütung der Aidsausbreitung in Taiwan starten werde. Die Zuschauer waren völlig schockiert und dachten zunächst, er sei ein Schwindler. "Viele Leute reagierten mißtrauisch, als sie die Berichte von meiner Presseerklärung zum ersten Mal lasen oder hörten", erinnert sich Chi. "Sie fragten sich: 'Wie ist es nur möglich, daß ein Homosexueller hierzulande bereit ist, sich zu bekennen? Ist er vielleicht ein Regierungsspitzel?'"
Heute zweifelt kaum jemand mehr an Chi's Aufrichtigkeit. Als Taiwans erster hauptberuflicher Aids-Aktivist ist er zu einem Synonym für die Kampagne gegen die Immunschwächekrankheit geworden. Die Probleme, auf die er zu Beginn stieß, verdeutlichen die Herausforderungen, welche sich bei der Bekämpfung von Aids ergeben. Taiwans Gesellschaft meidet die Risikogruppen, wie Homosexuelle, Drogenabhängige und Prostituierte samt deren Kunden. Doch um gegen Aids anzukämpfen, müssen gerade diese Gruppen bereit sein, hervorzutreten und mit Medizinern und der Regierung zusammenzuarbeiten.
Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in Taiwan relativ wenig offiziell gemeldete Aidskranke. Laut Regierungsberichten erkrankte erstmals 1986 ein Bewohner Taiwans daran. Die Gesamtzahl der eingetragenen Fälle stieg bis 1989 auf achtzehn Personen und bis 1992 auf 63 Personen an. Mittlerweile ist die Zahl der bekannten Träger des die Immunschwächekrankheit auslösenden Virus HIV (human immune deficiency virus ) von 128 Fällen im Jahr 1989 bis Februar 1993 auf 424 gestiegen. Wie das Gesundheitsamt (Department of Health, DOH) vermeldet, sind bis zu diesem Zeitpunkt 57 Personen an auf Aids zurückgeführten Ursachen gestorben.
Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) in Genf sind bisher weltweit 1,7 Millionen Menschen der Immunschwächekrankheit erlegen und weitere 10 bis 12 Millionen haben sich mit dem Virus angesteckt. Die Hälfte dieser Menschen lebt im mittleren und südlichen Afrika, daneben verzeichnen Asien und Lateinamerika jeweils 1,5 Millionen Virusträger, Nordamerika 800 000, Europa 500 000 und Nordafrika, der Nahe Osten und Osteuropa zusammen 200 000. Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit variieren von Land zu Land. Die WHO sagt voraus, daß bis zum Jahr 2000 40 Millionen Menschen infiziert sein werden, während andere Fachleute die Zahl sogar auf 110 Millionen schätzen.
Obwohl die Krankheit sich auf Taiwan in kleinem Maßstab hält, sind die Vorhersagen für die Zukunft alarmierend. James Chin, Professor für Epidemiologie an der Universität von Berkeley und ehemaliger leitender Forscher des globalen Aids-Kontrollprogramms (Global AIDS Control Program) der WHO, besuchte 1992 Taiwan, um die Krankheit zu studieren und Vorschläge zu ihrer Bekämpfung zu machen. Unter Anwendung der vom US-amerikanischen Zentrum für Krankheitskontrolle (Center for Disease Control) ausgearbeiteten Methodik schätzte er unter Einbeziehung nichtregistrierter Infizierter die Zahl der bislang von dem Virus Befallenen auf 2500. Bis zum Jahr 2000 prognostiziete er eine Verzehnfachung dieser Zahl.
Laut Berichten des hiesigen Gesundheitsamtes sind 95 Prozent der zwischen 1984 und 1992 Infizierten Männer, davon 73 Prozent im Alter zwischen 20 und 39 Jahren. Homo- und Bisexuelle machen 41 Prozent, Heterosexuelle 30 Prozent, Bluter 11 Prozent und Drogensüchtige 5 Prozent aus, während über die verbleibenden 13 Prozent keine Informationen zur Verfügung stehen. Obschon sich die Krankheit anfangs auf Taipei konzentrierte, wurden mittlerweile auch Fälle aus Zentral- und Südtaiwan vermeldet.
Mediziner sind besonders besorgt über den Anstieg bei Heterosexuellen. Zwischen 1988 und 1992 verdreifachte sich die Zahl der HIV-Fälle bei Homosexuellen, derweil die Zahl von heterosexuell veranlagten Infizierten um ein Mehrfaches stieg. "Die Homosexuellen machen nur fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung aus, und die Ansteckungsrate bei dieser Gruppe flacht allmählich ab", vermerkt Twu Shiing-jer(凃醒哲), ein auf Aids spezialisierter Arzt an der Nationalen Taiwan-Universitätsklinik. "Der heterosexuelle 'Markt' ist viel größer. Die Sex-Industrie ist sehr ausgeprägt in Taiwan. Wenn da Aids eingeführt wird, wird die Situation sehr sehr gefährlich." Bis Ende letzten Jahres waren zwei einheimische Prostituierte an der Immunschwäche gestorben, und weitere zwölf Frauen hatten sich mit dem Virus angesteckt.
Die größte Schwierigkeit für die im Kampf gegen Aids Tätigen ist der gesellschaftliche Druck, welcher die Kontaktaufnahme zu Risikogruppen erschwert. Beispielsweise scheiterten die anfänglichen, 1985 begonnenen Versuche der Regierung, Blutuntersuchungen für Homosexuelle anzubieten. Chi Chia-wei erklärt, daß die Regierung nicht vertraut war mit der Einstellung der Schwulen in Taiwan. "Sie dachten, sie könnten einfach ihre Dienste anbieten und wir würden uns alle hintereinander aufreihen, gerade wie zum Kartenkauf vor der Kinokasse", kritisiert Chi. Er meint, daß in Anbetracht der völligen Tabuisierung von Homosexualität in Taiwan die Ärzte und Beamten in ihrem Glauben, Schwule würden sich bereitwillig offenbaren, naiv gewesen seien. "Die kamen mit einigen ziemlich unzumutbaren Ideen an, wie sie den Homosexuellen helfen wollten", bemerkt Chi.
Twu Shiing-jer, ein auf Aids spezialisierter Arzt an der Nationalen Taiwan-Universitätsklinik, versucht durch Freiwilligengruppen nicht nur die Öffentlichkeit zu erreichen, sondern auch den Aidspatienten bei der Bewältigung ihrer Ängste und Probleme zu helfen.
Nachdem die Blutuntersuchungsaktion einen Monat lang lief, ohne daß sich Interessenten dafür gefunden hatten, setzte sich Chi mit der Einsatzgruppe in Verbindung und bot seine Hilfe als Vermittler zwischen der offiziellen Seite und der homosexuellen Gemeinde an. Er begann, Informationen über geschützten Sex unter hiesigen Homosexuellen zu verteilen und half ihnen, Blutuntersuchungen anonym durchführen zu lassen - Aufgaben, mit denen er bis heute noch beschäftigt ist. Einzelne Personen können sich ohne Namensangabe in kleineren Krankenhäusern Blut abnehmen lassen, das Chi dann wöchentlich zur Überprüfung an die Nationale Taiwan-Universitätsklinik weiterleitet. Zur Identifizierung der Proben benutzt Chi Pseudonyme, und wenn das Krankenhaus ihn über die Testergebnisse informiert, setzt er sich telefonisch mit den entsprechenden Personen in Verbindung.
"Wenn das Ergebnis positiv ausfällt, verständige ich den Betroffenen so schnell wie möglich und vereinbare ein dreistündiges Treffen mit ihm", erzählt Chi. Bei diesem Zusammenkommen informiert er den Infizierten über die Krankheit und berät, welche Maßnahmen er bezüglich seiner körperlichen Verfassung treffen sollte oder welche Ärzte und Medikamente in Frage kommen. "Wenn es ihm oder ihr schon sehr schlecht geht", sagt Chi, "empfehlen wir die Einlieferung in ein Krankenhaus."
Aber es gibt viele soziale Randgruppen, die entweder keine Informationen zum Selbstschutz erhalten oder sich die Warnungen nicht zu Herzen nehmen. Laut Hsu Hsu-mei(許須美), stellvertretende Direktorin der Abteilung zur Kontrolle von ansteckenden Krankheiten im Gesundheitsamt, hätten sich zwar Kommunikationswege mit Homosexuellen geöffnet, jedoch sei es nach wie vor schwierig, Prostituierte und Geschlechtskranke zu erreichen - die beiden Gruppen mit dem größten Potential einer Aidsübertragung. Bei den rund zweihundert in Taiwan registrierten Prostituierten wird alle zwei Wochen ein Bluttest durchgeführt, was bei den ohne Kenntnis der Behörden arbeitenden, deren Zahl ein Sozialarbeiter auf ungefähr 200 000 allein in Taipei schätzte, nicht der Fall ist. Da diese illegal ihrem Gewerbe nachgehen, ist es äußerst schwierig, ohne eine Vertrauensperson als Vermittler an sie heranzutreten. Hsu argumentiert: "Erziehung durch seinesgleichen ist sehr wichtig." Derzeit versuchen sie und andere Mitarbeiter vom Gesundheitsamt, diese Frauen durch Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Organisationen anzusprechen.
Diejenigen mit dem höchsten Risikofaktor sind Personen, die bereits an anderen durch Geschlechtsverkehr übertragenen Erkrankungen litten. Innerhalb dieser Gruppe liegt das Risiko zehnmal höher als bei der übrigen Bevölkerung. Hsu wendet sich an private Krankenhäuser und Ärzte für Geschlechtskrankheiten mit der Bitte um Hilfe bei Aufklärung und Erziehung der Patienten über Aids und mit der Aufforderung, Tests anzubieten, indem die Krankenhäuser und Arztpraxen Blutproben an die größeren Kliniken senden.
1986 richtete das Gesundheitsamt einen ausschließlich für die Aidsverhütung bestimmten Etat ein. Seitdem hat das Amt öffentliche Aufrufe und Sendungen in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen gebracht und Tausende von Broschüren veröffentlicht, die über die Krankheit informieren und aufzeigen, wie man geschützten Sex praktiziert. 1991 formte das Gesundheitsamt eine 6köpfige Aids-Sondergruppe, die sich um die Aufklärung der Öffentlichkeit, medizinische Behandlungen, Fortbildungsprogramme für medizinisches Personal sowie die Überwachung der Krankheitsausbreitung kümmert. Die Gruppe finanzierte in Verbindung mit dem Weltaidstag am 1. Dezember 1992 mehrere 30sekündige Aufklärungsspots im Fernsehen, und in diesem Frühjahr stellte sie einen Vierjahresplan über 773 Millionen NT$ (31 Millionen US$) auf, mit dem sie sich an unter Geschlechtskrankheiten leidende Personen wendet. Daneben erarbeitete das Gesundheitsamt gemeinsam mit dem Erziehungsministerium eine Anti-Aids-, Anti-Drogen- und Anti-Raucher-Kampagne, welche während des Schuljahrs 1992/93 in fünfzig Junior-Highschools durchgeführt wurde. Weitere Aids-Aufklärungsprogramme liefen in Grundschulen, Highschools und Colleges.
Die Aids-Sondergruppe zielt in erster Linie auf Kontrolle, um herauszufinden, an welche gesellschaftlichen Gruppen sich die Aufklärungsprogramme richten sollten. "Es sollte unser vorrangiges Ziel sein, ein effektiveres Überwachungssystem einzurichten", meint Shih Yaw-tang(石曜堂), stellvertretender Generaldirektor des Gesundheitsamtes. "Dann können wir die Risikogruppen identifizieren und wirkungsvollere Erziehungsprogramme aufstellen." Aber das wird keine einfache Aufgabe sein. Zur Zeit werden lediglich die jungen Männer, die ihren zweijährigen verpflichtenden Wehrdienst ableisten, regelmäßig auf Aids untersucht.
Dieses Comic propagiert die Verwendung von Kondomen sowohl als Mittel der Schwangerschaftsverhütung als auch zum Schutz vor Aids und anderen Geschlechtskrankheiten.
Unter Patienten, Sozialarbeitern und Regierungsvertretern herrscht Übereinstimmung darüber, daß die medizinischen Einrichtungen und finanzielle Abdeckung der Behandlungskosten von Aidsinfizierten in Taiwan erstklassig sind. Es gibt zwölf Krankenhäuser hierzulande, die für die Behandlung von Aidspatienten ausgerüstet sind. Die Regierung kommt für sämtliche medizinischen Kosten auf, einschließlich der Medikamente, was 1992 eine Ausgabe von durchschnittlich 210 000 NT$ (8400 US$) pro Patient bedeutete. In den Vereinigten Staaten werden die Behandlungen mit AZT, dem hauptsächlich zur Verlangsamung der Krankheit eingesetzten Medikament, nur dann von der Regierung übernommen, wenn der Patient bereits Aidssymptome entwickelt hat. In Taiwan wird die AZT-Behandlung jedem HIV-Träger zugestanden.
Allerdings halten viele Mediziner die psychologische Betreuung dieser Patienten in Taiwan für unzureichend. "Die große Schwierigkeit ergibt sich aus der Beschämung, die mit der Krankheit einhergeht", äußert sich Wu Hsiu-chen(吳秀禎), Sozialarbeiterin am Allgemeinen Veteranen-Krankenhaus (Veteran General Hospital). Sie fügt hinzu, daß viele Infizierte aus Angst vor Zurückweisung keinen Trost und emotionalen Beistand suchen können. "Es ist für Aidspatienten nicht einfach, sich zu öffnen und über ihre Probleme zu reden", stellt sie fest. "Sie wollen nicht mit Freunden oder Verwandten sprechen." Wu arbeitete mit zwölf Aidskranken und meint, daß diese einige ihrer herausfordernsten Fälle darstellten. "Es ist schwierig, die Probleme zu lösen", gibt sie zu bedenken. "Aufgrund der Art dieser Krankheit reden sie normalerweise nicht über ihre Sorgen. Manchmal gehen sie in die Defensive."
Das größte Problem, so ein 24jähriger HIV-Träger in Taipei, seien die Gefühle von Depression und Angst, welche durch das der Krankheit anlastende gesellschaftliche Stigma ausgelöst würden. Der Bibelschulen-Besucher, der um Anonymität bat, erklärt, daß viele Infizierte sich von der Gesellschaft ausgestoßen fühlen. Laut seiner Aussage leiden viele Betroffene auch darunter, die Krankheit nicht richtig zu verstehen, wodurch sie glaubten, auf der Stelle sterben zu müssen. Außerdem haben sie Angst, von ihrer Familie abgelehnt zu werden. Um gegen seine eigenen Depressionen anzukämpfen, schloß er sich einigen Selbsthilfegruppen und freiwilligen Hilfsprogrammen an, wo er mit Aidspatienten und -infizierten zusammenarbeitet. Derzeit gibt es einige Kirchen, die Selbsthilfegruppen organisieren, und die Nationale Taiwan-Universitätsklinik hat eine Hilfsgruppe sowie ein Netzwerk von Freiwilligen eingerichtet. Der Haupterfolg dieser Gruppen ist seiner Meinung nach, "Freundschaften aufzubauen" und "Schmerz und Frust mit Leuten zu teilen, die in der gleichen Situation sind".
Der Aktivist Chi Chia-wei stellt heraus, daß die ersten Monate, nachdem jemand von ihrer oder seiner Aidsinfektion erfährt, die kritischste Zeit sei. Wenn Chi jemandem die schlechte Nachricht eröffnen muß, sagt er, gehe er so vor: "Ich bitte den Betroffenen, in den folgenden zwei Monaten mit mir in enger Verbindung zu bleiben. Ein lebensbejahender Mensch, der HIV-infiziert ist, mag vielleicht dreimal einen Selbstmord in Betracht ziehen; ein Pessimist dagegen wird wahrscheinlich dreihundertmal darüber nachdenken. In diesen Monaten biete ich ihnen an, daß sie mich jederzeit anrufen können, wenn sie mich brauchen."
"Nach meiner Erfahrung machen die Patienten normalerweise eine besonders schwierige Phase durch, die länger als ein halbes Jahr andauern kann", stellt Twu Shiing-jer, Mediziner an der Nationalen Taiwan-Universitätsklinik, fest. "Gewöhnlich fühlen sie sich nach zwölf- bis achtzehnmonatiger Beratung besser und glücklicher. Diese Zeit möchten wir verkürzen." Zu diesem Zweck hat er einige Hilfsgruppen initiiert und rund hundert geschulte Freiwillige angeworben, die Interesse an öffentlicher Aufklärungsarbeit oder der Beratung von Infizierten haben.
Es ist schwierig, finanzielle Abdeckung für diese Hilfsgruppen des Krankenhauses zu finden. Für das Jahr 1992 konnten die Gruppen 150 000 NT$ (6000 US$) hauptsächlich durch kleine private Spenden sammeln. "Es fällt den Leuten immer noch schwer, Aidsprogramme finanziell zu unterstützen", meint Twu. "Sie mögen für die Kinderheilkunde, die Herzvereinigung oder die Krebsforschung spenden - aber Aids? Manche Leute denken immer noch, daß die Aidspatienten die Krankheit verdienen, daß sie eine Strafe Gottes ist. Es ist für uns nicht einfach, Geld aufzutreiben."
Chi Chia-wei glaubt, daß die öffentliche Einstellung zu der Krankheit in den vergangenen fünf Jahren besser geworden ist. Er müßte es eigentlich wissen, da er die Aufklärung der Bevölkerung über Aids zu seiner Vollzeitbeschäftigung gemacht hat. Chi verbringt jede Woche viele Stunden damit, Geld zu sammeln, meistens durch Spendenaufrufe auf der Straße. Das Bild des großen, schlaksigen jungen Mannes, der Kondome verteilt und Kleingeld von den Passanten einsammelt, ist zu einem vertrauten Anblick vor dem Taipeier Hauptbahnhof und anderen belebten öffentlichen Plätzen der Stadt geworden. An den meisten Tagen bekommt er ungefähr 5000 NT$ zusammen, die er für Aufklärungskampagnen, den Druck von Broschüren über geschützten Sex oder direkt für finanziell bedürftige Patienten aufwendet. Derzeit ist er dabei, Geld für ein Heim für Aidskranke zu sammeln.
Obgleich, wie er sagt, die Leute nun mit der Sache vertrauter sind als noch vor sieben Jahren, als er mit seinen Bemühungen begann, ist die der Krankheit anhaftende Beschämung nach wie vor sehr stark. Er unterhält zu Hause eine Art 24-Stunden-Telefonservice, erklärt aber, daß er die meisten Anrufe in den späten Nachtstunden erhält, wenn die Familienmitglieder des Anrufers möglicherweise schlafen.
Obwohl Aidsinfizierte durch das Gesetz vor Diskriminierung geschützt sind, haben diese Bestimmungen in der Praxis geringe Relevanz, legt Twu Shiing-jer dar. Beispiele direkter und indirekter Diskriminierung sind zahlreich. Er erzählt von einem aidsinfizierten Studenten an der Nationalen Taiwan-Universität, der die Einrichtung verlassen mußte, und von einem Lehrer, der zur Pensionierung gezwungen wurde. Die Patienten reagieren oftmals bereits früher als tatsächliche Diskriminierung einsetzt; beispielsweise kündigen einige ihre Arbeitsstelle, wenn sie befürchten, daß ihre Erkrankung bei den Kollegen oder Angestellten bekannt ist.
Das vielleicht größte Problem, vor welchem die Aidspatienten stehen, ist die Tatsache, daß viele Mitglieder des medizinischen Personals nicht mit ihnen arbeiten wollen. Matthew Wong(王永衛), Arzt in der Abteilung für ansteckende Krankheiten am Allgemeinen Veteranen-Krankenhaus in Taipei, weiß von einem kürzlichen Fall, als eine werdende Mutter von einem Krankenhaus abgewiesen wurde, nachdem man sie fälschlicherweise Aids-positiv diagnostiziert hatte. Er verdeutlicht, daß die Krankenhäuser auch dem Druck der Verwaltung ausgesetzt sind, die Angst hat, die Aufnahme von Aidsfällen könnte andere Patienten vertreiben. "Das Problem ist die Einstellung und nicht das Aufklärungs- oder Informationsniveau", äußert sich Shih Yaw-tang vom Gesundheitsamt. Er gibt an, daß sein Amt sowie Krankenhäuser versucht haben, Unwissenheit und Angst durch Erziehungsprogramme zu bekämpfen.
Das Allgemeine Veteranen-Krankenhaus fing 1992 an, Aids-Schulungskurse für sämtliche Ärzte und das Pflegepersonal abzuhalten, aber die Angestellten der Station für ansteckende Krankheiten sind vom Ergebnis enttäuscht. "Wir zeigen an Hand von Unterlagen, daß die HIV-Infektion und Aids sich nicht sehr von Hepatitis A oder B unterscheiden - daß also kein Grund zur Panik besteht", bemerkt Matthew Wong. Doch als das Krankenhaus eine nachträgliche Umfrage durchführte, zeigte sich kaum eine Veränderung der Einstellung. Wong meint: "Jeder weiß über die Fakten Bescheid, und trotzdem reagiert man panisch."
Abgesehen von der Berührungsangst mit der tödlichen Krankheit werden viele Krankenhausangestellte zusätzlich durch ihre Familie und Freunde entmutigt, Aidspatienten zu versorgen. Twu Shiing-jer weist darauf hin: "Ärzte und Schwestern müssen informiert werden, aber das genügt nicht, - wir müssen die Öffentlichkeit aufklären." Er macht klar, daß Ärzte, die sich mit schweren Krankheiten wie Krebs beschäftigen, als edel und mutig angesehen werden, während jene, die sich mit Aids befassen, manchmal komisch angeschaut werden. "Obwohl ich weiß, daß keine Gefahr für mich besteht, hat es mich viel Energie gekostet, meiner Familie und meinen Freunden zu erklären, warum ich mich den Bemühungen angeschlossen habe", erzählt Twu. "Aus diesem Grund will niemand auf dem Gebiet arbeiten."
Um mehr Krankenhäuser zur Einrichtung von Aidsstationen zu ermuntern, drängt Twu auf die Erstellung einer Liste von Krankenschwestern, die zur Arbeit mit Aidspatienten bereit sind und die von Krankenhäusern im Bedarfsfall abgerufen werden können. "Auf diesem Weg", meint er, "können wir, sobald sich ein Krankenhaus zur Einrichtung einer Aidsstation entscheidet, zeigen, daß uns schon Krankenschwestern zur Verfügung stehen. Dann kann die Verwaltung nicht mehr mit dem Argument kommen, daß keine Schwester bereit sei, auf solch einer Station zu arbeiten." Twu erwartet, daß sich dieses Jahr rund fünfzig Schwestern melden werden.
Su Yiet-ling(蘇逸玲), Oberschwester am Allgemeinen Veteranen-Krankenhaus, sagt, daß sie die Folgen von Diskriminierung mit eigenen Augen gesehen hat, nämlich in den ängstlichen Gesichtern der neuankommenden HIV-Infizierten. "Kürzlich fragte mich ein Patient, 'Sind Sie bereit für mich zu sorgen? Können Sie mich als Infizierten akzeptieren?'" erinnert sie sich. "Die Patienten treffen uns als erstes an. Sie betrachten unsere Gesichter, und wenn wir lächeln, d. h. wenn wir sie annehmen, dann sind sie sichtlich erleichtert." Su bemüht sich, daß alle Schwestern in ihrem Stab mit den Aidskranken genauso umgehen, wie sie Patienten mit einer anderen ansteckenden Krankheit versorgen würden. Das Krankenhaus hat bislang 37 Infizierte behandelt und genießt unter den Patienten den Ruf des besten Pflegeplatzes. Wenn eine ihrer Krankenschwestern Angst hat, dann "helfen wir ihr, das Problem zu lösen", sagt Su.
Sie betont, daß die Schwestern in dieser nervlich besonders angespannten Stationsatmosphäre intensiven emotionalen und professionellen Zuspruchs bedürfen. "Wir kümmern uns um die Aidspatienten, aber wer kümmert sich um die Krankenschwestern?" fragt Su. "Die Krankenhausverwaltung muß uns unterstützen. Unsere Familien müssen uns unterstützen. Wir müssen uns gegenseitig Halt geben."
Das Gesundheitsamt berät über Wege, wie man mit Aidspatienten arbeitenden Ärzten und Schwestern helfen kann. "Ich denke, wir sollten dem medizinischen Personal Anreize geben", äußert Shih Yaw-tang. Das Amt bemüht sich weiter um die Absicherung durch eine besondere Krankenversicherung für jene, die auf dem Gebiet tätig sind.
Wird in Taiwan genug im Kampf gegen die Aidsausbreitung getan? Einige Mediziner glauben, daß es zu langsam vor sich gehe. Twu Shiing-jer beklagt, daß das Regierungsbudget für die Erforschung der Krankheit - 9,9 Millionen NT$ (395 000 US$) im Finanzjahr 1993 - "zu klein und unbedeutend ist". Er zeigt auf, daß die Aidsforschung in den Vereinigten Staaten mehr Geld erhält, als für jede andere Krankheit aufgewendet wird, nämlich rund zehn Prozent des Budgets des Nationalen Gesundheitsinstituts plus privater Spenden. Er ist der Überzeugung, daß das Aidsthema von der Regierung in Bevorzugung anderer Prioritäten wie der Transportprojekte übersehen wird. "Der Exekutiv-Yüan macht sich nicht bewußt, daß es sich bei Aids nun um eine Epidemie handelt", gibt Twu zu Bedenken. "Wenn wir jetzt kein Geld für die Forschung und Verhütung aufwenden, wird es in drei Jahren vielleicht das Zehn- bis Hundertfache kosten."
Andere beziehen eine zuversichtlichere Position angesichts der derzeit niedrigen Zahlen von Aidsfällen. "Ich bin optimistisch, daß sich dies zu keiner schwerwiegenden Problematik für Taiwan entwickeln wird", erklärt Shih Yaw-tang vom Gesundheitsamt. "Wir sollten uns aber trotzdem verstärkt bemühen. Es gibt zwar ein potentielles Risiko, aber ich glaube nicht, daß wir jemals ein Problem wie die USA oder Thailand haben werden. Nein. Niemals. Dieses Vertrauen haben wir." Jedoch die Botschaft, welche man von den um die Aidsverhütung bemühten Leuten immer und immer wieder hört, lautet: Je mehr Arbeit jetzt getan wird, während die Krankheit sich noch in kleinem Rahmen hält, umso größer sind die Chancen Taiwans zur Vermeidung eines Schicksals, welches andere Regionen der Welt bereits getroffen hat.
(Deutsch von Jessika Steckenborn)