Ein Schriftsystem aus dem alten China gewinnt nicht nur in Taipeh immer mehr Anerkennung.
Taipehs erster Tag im Jahr 2009 war nicht wärmer als sonstige Wintertage, doch die Atmosphäre im Huashan-Kulturpark in Taipeh war dafür besonders lebendig. Fast 13 000 Menschen hatten sich versammelt, um nachmittags gegen halb zwei gemeinsam die Kunst der Kalligrafie zu zelebrieren. Ebenfalls anwesend war Staatspräsident Ma Ying-jeou, und er schrieb mit Tusche und Pinsel die chinesischen Schriftzeichen han und an, was jeweils „Chinesisch“ und „Frieden“ bedeutet, auf zwei große quadratische Papierbögen. Das Happening simultanen Schreibens traditioneller chinesischer Schriftzeichen war so groß, dass das Kulturamt der Stadtverwaltung Taipeh, welches die Veranstaltung organisiert hatte, eine Eintragung ins Guiness-Buch der Rekorde beantragt hat.
Trotz des von Taiwan und dem bevölkerungsreichen chinesischen Festland geteilten gemeinsamen Kulturerbes machen sich die Veranstalter keine Sorgen, dass der Rekord in absehbarer Zeit gebrochen werden könnte. „Es wäre eine ziemliche Herausforderung, diesen Rekord zu überbieten, denn im Gegensatz zu den Chinesen auf dem Festland benutzen wir hier alle in unserem Alltagsleben traditionelle chinesische Schriftzeichen“, prahlt Lee Yong-ping, Leiterin des Kulturamts.
Das kalligrafische Pinseln am Neujahrstag ist eines der Ereignisse zum jährlichen Fest der chinesischen Schriftzeichen, das erstmals Ende 2004 stattfand, als Ma Ying-jeou noch Oberbürgermeister von Taipeh war. Die jüngste Festzeit dauerte vom 25. November 2008 bis zum 11. Januar 2009, und die Anhänger der Verwendung traditioneller chinesischer Schriftzeichen begrüßten das Ereignis, da die Schreibform einer wachsenden Bedrohung durch die vereinfachten Schriftzeichen gegenübersteht, wie sie auf dem chinesischen Festland benutzt werden.
Die Herausforderungen an die traditionelle Schreibweise reichen indes schon weit über hundert Jahre zurück. „Tatsächlich wurde die traditionelle chinesische Schrift bereits um 1840 nach dem ersten Opiumkrieg in Frage gestellt, als die Chinesen eine empfindliche Niederlage zu Händen der westlichen imperialistischen Mächte erlitten und sich Anfänge von anti-traditionalistischen Gefühlen regten“, doziert Tsai Ying-chun, Professor für chinesische Sprache und Literatur an der National Tsing Hua University in Hsinchu.
Damals begann man, Traditionen als „schädlich“ zu betrachten, ein Hindernis für die Entwicklung Chinas, und manche Akademiker riefen in den Jahren des Niedergangs der Qing-Dynastie (1644-1911) zur Abschaffung der traditionellen Schriftzeichen auf. Zwar verliefen diese frühen Versuche im Sande, doch die Bedrohung nahm neue Gestalt an, als die chinesischen Kommunisten im Jahre 1956 die erste Runde der Vereinfachung chinesischer Schriftzeichen ankündigten, sieben Jahre, nachdem sie die Macht über Festlandchina gewaltsam an sich gerissen hatten. Die antitraditionalistische Stimmungsmache erreichte später während der „Kulturrevolution“ Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre einen schrillen Höhepunkt, und sie spielte auch eine Rolle bei dem, was die Kommunisten als linguistische Reform betrachten, auch wenn die Hauptabsicht bei dieser Revolution des Schreibsystems war, den Analphabetismus in der festlandchinesischen Bevölkerung zu vermindern, indem man die Schriftzeichen einfacher zu erkennen und leichter zu schreiben machte.
Immer mehr taiwanische Designer haben chinesische Schriftzeichen als geeignete Elemente für ihre kreativen Entwürfe entdeckt.
Taiwan wiederum blieb vom kommunistischen Joch verschont, und so unterblieb auch eine Invasion von vereinfachten Schriftzeichen über die Taiwanstraße. Heute schreiben über 30 Millionen Menschen auf der ganzen Welt die chinesischen Schriftzeichen in ihrer traditionellen Form (die von ihren Anhängern als Standardform bezeichnet wird), überwiegend in Taiwan und Hongkong; die frühere britische Kronkolonie untersteht seit Mitte 1997 festlandchinesischer Regierungsgewalt.
Chinesische Schriftzeichen werden in anderen Teilen Asiens ebenfalls benutzt, freilich in unterschiedlicher Form und Verbreitung. Ethnische Chinesen in Singapur und Malaysia (die dort einen Anteil von jeweils 77 Prozent und 26 Prozent an der Gesamtbevölkerung haben) schreiben vereinfachte Schriftzeichen, allerdings mit leichten Unterschieden zu denen auf dem chinesischen Festland. In Japan und auf der koreanischen Halbinsel nennt man chinesische Schriftzeichen Kanji bzw. Hanja, und in Japan machen die Kanji weiterhin einen wesentlichen Teil des Schriftsystems aus. In Vietnam wurde chinesische Schrift bis ins 20. Jahrhundert hinein benutzt und war in der Vergangenheit dominant, ist mittlerweile dort aber komplett abgeschafft. „Je weiter man in diesen asiatischen Kulturen zurückgeht, desto engere Verbindungen haben sie mit chinesischen Schriftzeichen“, weiß Hsu Hsueh-jen, Professor für chinesische Sprache und Literatur an der National Hualien University of Education.
Vereinfachte Bildung
Daneben gibt es neue Bedrohungen für die traditionellen chinesischen Schriftzeichen. Lange Zeit brachte man den meisten Menschen, welche die chinesische Sprache in aller Welt erlernen wollten, traditionelle Schriftzeichen bei. Die Lage änderte sich mit dem Aufstieg Festlandchinas, wo ein anderes Schriftsystem gilt. Außerdem startete die festlandchinesische Regierung im Jahre 2004 mit der Eröffnung des ersten Konfuzius-Instituts in Südkoreas Hauptstadt Seoul eine Kampagne, die chinesische Sprache in aller Welt aktiv zu fördern. Heute sind weltweit etwa 250 dieser Einrichtungen in Betrieb.
Unterdessen kamen auch aus Taiwan selbst manche Herausforderungen für den Gebrauch traditioneller chinesischer Schriftzeichen. Als die für eine Unabhängigkeit Taiwans eintretende Demokratische Progressive Partei (DPP) im Mai 2000 die Macht in der Republik China übernahm, propagierten laut Tsai Ying-chun manche Befürworter der DPP-Parteiideologie die Unterbrechung der kulturellen Bande mit Festlandchina, indem man die chinesischen Schriftzeichen komplett durch ein phonetisches Schriftsystem ersetzte. Außerdem wird befürchtet, dass wegen der hohen Entwicklung und Verbreitung der Computertechnologie in der jüngeren Generation Taiwans die Gefahr besteht, die Fertigkeit zu verlieren, traditionelle Schriftzeichen von Hand zu schreiben. „Sie nehmen es mit den Schriftzeichen nicht so genau und sind weniger mit ihnen vertraut als die älteren Generationen“, lamentiert Tsai.
Zwar sind traditionelle Schriftzeichen nach wie vor weithin in Taiwan in Gebrauch und bleiben das Mittel für schriftliche Kommunikation in der ganzen Gesellschaft, doch es ist kein Wunder, dass die Anhänger trotzdem Handlungsbedarf sehen. „Anders als die meisten Schriftsysteme der Welt auf der Grundlage phonetischer Schreibung sind chinesische Schriftzeichen Ideogramme und in sich selbst interessante Abbilder, die Ideen oder Dinge darstellen“, beschreibt Liedtexter Vincent Fang, der für seine feinen Texte bekannt ist, die an chinesische Dichtkunst erinnern und vom taiwanischen Pop-Superstar Jay Chou gesungen werden. „Je mehr ich die Sprachen der Welt erforsche, desto mehr liebe ich die chinesischen Schriftzeichen“, bekennt Fang. „Viele Leute hängen sich chinesische Schriftzeichen als Dekoration an die Wand. Bei dem norwegischen Alphabet zum Beispiel käme das wohl nicht vor.“
Die Einsatzmöglichkeiten von kalligrafischen Schriftzeichen zu Dekorationszwecken sind praktisch unbegrenzt.
„Chinesische Schriftzeichen haben sich über einen langen Zeitraum hinweg nicht verändert“, fährt Fang voller Bewunderung für das Schriftsystem fort. „Ein Oberschüler kann den größten Teil eines Textes lesen, der auf einem 2000 Jahre alten Kunstgegenstand eingraviert ist. Das ist einfach irre.“ Natürlich bezieht er sich damit auf die traditionellen Schriftzeichen, ein lebendiges linguistisches Fossil, welches das alte China mit der modernen Welt verbindet. „Die vereinfachten Schriftzeichen haben keinen so großen ästhetischen Wert. Ein traditionelles Schriftzeichen sieht wegen der Symmetrie und Ausgewogenheit in seiner organischen Struktur besser aus.“
Während manche die vereinfachten Schriftzeichen im ästhetischen Sinne als unbefriedigend betrachten, finden andere sie auch semantisch verwirrend. Gerechterweise muss man dazu sagen, dass das kommunistische Regime auf dem chinesischen Festland die Vereinfachung der chinesischen Schriftzeichen nicht vollkommen aufs Geratewohl durchführte, bemerkt Hsu Hsueh-jen. Zum Beispiel wurden manche der vereinfachten Schriftzeichen in der Regelschrift so gestaltet, dass sie aussehen wie die ursprünglichen traditionellen Schriftzeichen in kursiver Schreibweise. Andere vereinfachte Schriftzeichen waren vorher schon in alten Texten aufgetaucht. In manchen Fällen erscheint die Vereinfachung jedoch unerträglich, und zuweilen wurden zwei verschiedene traditionelle Schriftzeichen zum gleichen vereinfachten Schriftzeichen zwangsvereint. Infolgedessen könne man nach den Worten des Gelehrten bei solchen vereinfachten Schriftzeichen nicht eindeutig wissen, was es bedeute, wenn man es nicht im Zusammenhang sehe.
All dies unterstreicht die Bedeutung, traditionelle chinesische Schriftzeichen zu fördern, und die Pflege der Kalligrafiekunst ist dabei sicherlich ein guter Weg, die Schönheit dieses Kulturerbes vorzuführen. „Beim Üben von Kalligrafie muss man sich konzentrieren, damit man die Schönheit der Schriftzeichen besser zu schätzen weiß“, meint Tsai Ying-chun. „Die Zeit, die man braucht, Schriftzeichen Pinselstrich für Pinselstrich zu malen, erzeugt ein Gefühl der Distanz, aber auch einen Sinn für Schönheit.“
Bis 2003 war Kalligrafie für alle Grundschulkinder in Taiwan Pflichtfach, doch heute genießen die Schulen höhere Autonomie und können selbst entscheiden, ob sie solche Kurse einrichten oder nicht. Angesichts dieser Lage ist der Versuch des Kalligrafiefestes in Taipeh, die Kunstform wiederzubeleben, besonders sinnvoll. „Uns geht es darum, der ästhetischen Bildung Schub zu geben und dadurch Taiwans Kreativität zu erhöhen, und genau das tut Kalligrafie“, wirbt Tsai.
Geschriebene Kultur
Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für chinesische Schriftzeichen als Kulturgut zu steigern, bemüht sich das Kalligrafiefest auch darum, Verbindungen zu Mitgliedern der kulturellen und kreativen Gewerbe aufzubauen, die seit sieben Jahren von der Regierung besonders gefördert werden. Designer aus verschiedenen Bereichen wurden eingeladen, über ihre Erfahrungen bei der Verwendung traditioneller chinesischer Schriftzeichen in ihren Entwürfen zu sprechen, unter ihnen der Modedesigner Goji Lin.
Die Schönheit chinesischer Schriftzeichen kommt bei der Kunst der Kalligrafie am trefflichsten zur Geltung.
„Die Japaner haben die Kunst der Kalligrafie schon seit langem erfolgreich mit Produkten verbunden, indem sie beispielsweise auf Geschenkpapier aufgedruckt wird“, erläutert Lin. „Ich denke aber, wir [ethnische Chinesen] sind in einer besseren Position, Kalligrafie auf dem Markt zu präsentieren, weil die Kalligrafie ihre Wurzeln in China hat. Das Problem ist, dass wir das nicht gut kommerzialisiert haben.“
Lin verwendet chinesische Kulturelemente bereits seit einer Weile in seiner Arbeit, und er entwarf eigens über 20 Gewänder für eine Modenschau auf dem Fest. Manche zeigen großformatige chinesische Schriftzeichen in Kursivschrift auf Gewebe, bei anderen Designs sieht man Tuschemalerei mit ein paar Zeilen aus Schriftzeichen. „Traditionelle chinesische Gemälde und Schriftzeichen sind gemeinsam zu sehen“, beschreibt Lin.
Andererseits entfernte sich der Designer aufgrund Marketing-Erwägungen von den schwarzen Schriftzeichen auf weißem Papier traditioneller Kalligrafie, abgesehen von ein paar Arbeiten, die das künstlerische Konzept hinter der Modekollektion auf dem Fest hervorheben sollten. „Zu viele solcher Kleider mit nichts als diesen beiden Farben erinnern stark an die Gewänder in Beerdigungsprozessionen“, warnt er und erklärt damit die Notwendigkeit, bei der Anpassung einer alten Tradition praktische Fragen zu berücksichtigen.
Das Fest im Huashan-Kulturpark sollte die traditionellen chinesischen Schriftzeichen gemeinsam mit der chinesischen Sprache insgesamt fördern. Es fand auch eine xiangsheng-Show statt, eine traditionelle komische Dialogvorstellung, bei der die Schausteller im rasanten Zwiegespräch wie beim Pingpong Scherze austauschen, in diesem Fall auf der Grundlage von Wortspielen, die mit chinesischen Schriftzeichen zu tun haben. Vincent Fang und Akademiker wie Tsai Ying-chung und Hsu Hsueh-jen hielten Vorträge über die chinesische Sprache und Schrift. Außerdem gab es ein Online-Quiz über chinesische Schriftzeichen, mit Fragen wie welche der liushu -- also der sechs Methoden zur Schaffung eines chinesischen Schriftzeichens -- bei dem fraglichen Zeichen zur Anwendung gekommen war, oder die korrekte Schreibweise von Schriftzeichen, die häufig falsch geschrieben werden. Rund 750 Teilnehmer absolvierten die Quizprüfung mit Erfolg und erhielten ein Zertifikat von der Stadtverwaltung Taipeh.
Es wurde sogar eine Führung zu den drei Pavillons für Wortverehrung in der Region Taipeh angeboten. Diese sind Cang Jie gewidmet, dem gemäß der Legende die Erfindung der chinesischen Schriftzeichen zugeschrieben wird. Am Hof des gleichfalls legendären Gelben Kaisers (Huangdi), traditionell als gemeinsamer Ahne des chinesischen Volkes betrachtet, diente Cang Jie als Beamter, und er wird auch heute noch an mehreren Stätten in Taiwan als Schöpfer der chinesischen Schrift verehrt. Die Cangjie-Eingabemethode, eines der Hauptsysteme zum Tippen chinesischer Schriftzeichen auf einem Computer, ist nach dieser mythologischen Gestalt benannt.
Beim Festival in Taipeh wurde auf der Goji-Modenschau offenbar, wie sehr chinesische Schrift die Anmut und Anziehungskraft eleganter Gewänder erhöhen kann.
Ein Schatz der ganzen Welt
Es wird erwartet, dass das Festival an Einfluss gewinnen wird, da die Bemühungen zur Förderung und Bewahrung traditioneller chinesischer Schriftzeichen in jüngster Zeit verstärkt wurden. Zu diesen Anstrengungen zählt der Versuch, die traditionelle Schreibweise in die UNESCO-Liste des mündlichen und ungreifbaren Kulturerbes der Menschheit aufzunehmen. Diese Idee wurde erstmals im Jahre 2003, ein Jahr vor dem ersten Fest der chinesischen Schriftzeichen, innerhalb der vom damaligen Bürgermeister Ma Ying-jeou geleiteten Stadtverwaltung Taipeh besprochen. Tatsächlich hat das Festival auch das Ziel, dieser breiteren Kulturkampagne größeren Schwung zu verleihen.
Taiwans internationaler Status und die Nichtbeteiligung in den Vereinten Nationen (United Nations, UN) stellen jedoch beim Streben nach diesem Ziel die größten Hindernisse dar. Trotzdem ist Kulturamtsleiterin Lee Yong-ping zuversichtlich, dass die traditionellen chinesischen Schriftzeichen letzten Endes von der UNESCO anerkannt werden. „In Festlandchina feiern sie ein Comeback, zumindest im privaten Sektor und in akademischen Kreisen“, verrät sie.
In diesem Punkt äußert sich Professor Tsai Ying-chun von der National Tsing Hua University ähnlich mit der Feststellung, Festlandchina erlebe gegenwärtig einen Umschwung bei den Einstellungen gegenüber Kulturerbe, was ein günstiger Trend für die Beschützer traditioneller chinesischer Schriftzeichen sei.
Laut Lee könnten zukünftige Festivals eine gute Methode sein, für das UNESCO-Gesuch zu werben. „Wir denken darüber nach, UNESCO-Beamte zu kommenden Festivals einzuladen“, kolportiert sie. „Wir verlassen uns auch auf Taiwans Vertretungsbüros in Paris [wo die UNESCO ihren Sitz hat], um Meinungen einzuholen und Wege zu finden, traditionelle chinesische Schriftzeichen für die Weltkulturerbeliste zu fördern.“
Vielleicht ist der Tag einer offiziellen Anerkennung und Bewahrung traditioneller chinesischer Schriftzeichen durch die UN noch fern, doch das Festival in Taipeh ist ein Ausgangspunkt auf dem langen Weg, die ganze Welt über dieses wertvolle Kulturgut zu informieren und Wertschätzung dafür zu erzeugen.
(Deutsch von Tilman Aretz)