05.05.2025

Taiwan Today

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Goldader Chiufen

01.09.1994
Was geht uns die alte Goldgräberstadt Chiufen an? Auf eine solche Frage gibt es keine richtige oder falsche Antwort. Vielleicht gelingt es uns hier stattdessen, mit einer leicht veränderten Sichtweise in die Vergangenheit zu schauen.

Wir können aus der Geschichte lernen und erkennen, daß wir eine Neigung dazu haben, Ressourcen überzubeanspruchen und eine Art Heuschreckenschwarm-Verhalten an den Tag zu legen. Wenn etwas bekannt und zum "Objekt der Begierde" vieler Menschen wird, kann die Geschichte, genau wie an der Börse, daher leicht tragisch enden.

Wenn dasselbe Ereignis wiederholt geschieht - so wie das fieberhafte Ansteigen des Interesses für einen Ort - wie könnte man dann nicht wissen wollen, wo es als nächstes erscheinen und wie sein Verlauf sein wird?

Vor einigen Jahrzehnten, als sich der Goldrausch in Taiwan legte, versank der Ort Chiufen, der durch seine Goldminen berühmt geworden war, wieder im Schweigen der Geschichte. Das im Zuge des Goldrausches gebaute Städtchen sah seine Einwohnerzahl von 30 000 bis 40 000 in seiner Glanzzeit auf ungefähr eintausend sinken. Auch die überschwengliche Atmosphäre der glorreichen Tage schwand dahin.

Taiwans Ökonomie kam erst später auf Touren und verlieh den Menschen enorme Kaufkraft. Heute hat man manchmal den Eindruck, daß alles - Menschen, Freizeitveranstaltungen, Orte und Objekte - ein Preisschildchen hat. So kam es, daß Chiufen, das schon seit langer Zeit kein Ort mehr war, der selbst Reichtum hervorbrachte, zu neuem Leben erwachen und einen zweiten Frühling erleben konnte, indem es den Menschen eine Konsumentenphantasie erfüllt.

Romantisches Paradies im Fernsehen

Nachdem die Filme "Stadt der Trauer"(悲情城市)und "Der schweigende Hügel"(無言的山丘)in Chiufen gedreht worden waren; nachdem die Medien mit vereinten Kräften jedes noch so geringe Detail von Chiufen enthüllt und übertrieben hatten; und nachdem Gerüchte in Umlauf gesetzt worden waren, daß es immer noch Goldminen in Chiufen gäbe, bekam der Ort einen geheimnisvollen und aufregenden Flair ungeahnter Möglichkeiten. Es war kaum zu glauben! Das verschlafene Chiufen, um das es so lange ruhig gewesen war, kehrte plötzlich als ein Ort voller Dynamik und Lebenskraft in das allgemeine Bewußtsein zurück. Die Illusion, die Vergangenheit einholen zu können, gab vielen Städtern einen Vorwand, der Stadt für eine Weile zu entfliehen, und gleichzeitig schuf sie einen Ort, an dem Risikofreudige und Glücksritter etwas verdienen konnten.

Luo Chi-kun(羅濟昆), ein junger Fotograf, der sich in Chiufens friedliche und stille Atmosphäre verliebt und dort Wurzeln geschlagen hat, beschreibt, wie unterschiedlich das Chiufen von heute zu dem von vor fünf oder sechs Jahren ist: "Wenn ich früher aus dem lärmenden Taipei hier ankam, setzte ich mich auf meinen Koffer und lauschte der Welt, die mit Ausnahme des Winds und des Regens absolut still war." Nur wenige Jahre später wurde Chiufen berühmt; heute kommen an Sonn- und Feiertagen ungezählte Besucher in den Ort. Die Ruhe, die man einst als etwas ganz Natürliches ansah, ist zu einem Luxus geworden. Luo zeigt auf das Fenster im ersten Stock seines Hauses und sagt: "Sie wollen wissen, wie viele Leute hier an Feiertagen oder Wochenenden vorbeikommen? Ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nur, daß, wenn ich aus meinem Fenster schaue, alles entweder ein Auto oder ein Kopf von irgendjemand ist. Nicht ein Stückchen Straße ist dann mehr zu sehen."

Antik versus modern

Die Masse der Vergnügungssüchtigen hat das Leben in Chiufen verändert. Die Stadt hat nie eine Phase der "Modernisierung" durchgemacht, sondern ist direkt in die "postmoderne" Zeit gesprungen. In den schmalen Gäßchen reihen sich nostalgische Lädchen, Cafés, Teehäuser, Restaurants und Geschäfte mit zugkräftigen Namen wie "Stadt der Trauer" oder "Das Goldene Zeitalter" aneinander. Die alten Straßen sind zu einer Mischung aus alt und neu geworden. Und dann sind da die sauberen und modisch geschminkten Gesichter, die durch die schmutzigen und dunklen Gassen aus vergangener Zeit wandeln. Die Geschäftigkeit und das Stimmengewirr könnten einen an damals erinnern, aber die Gedankenwelt der Jugendlichen, die mit ihren Gettoblastern ankommen und nur ein bißchen Auslauf suchen, ist äußerst verschieden von jener der Goldsucher der Vergangenheit, die mit der Schaufel in der Hand kamen, um ihr Glück zu probieren.

Onkel Mao-sung(茂松伯)ist 72 Jahre alt. Obwohl er vor vierzig Jahren fortgezogen ist, hat er doch nie vergessen, daß er aus Chiufen stammt; und jedes Jahr kommt er zum Grabpflegetag zurück, um sich um die Gräber seiner Ahnen zu kümmern.

Wie sein Heimatort in den vergangenen Jahren berühmt werden konnte, ist Mao-sung ein Rätsel: "Was ist schön an Chiufen?" Er zeigt auf das Bergnest, das zu drei Seiten von Hängen eingerahmt wird und nur nach Nordosten den Blick auf die Küste freigibt. "Chiufen ist nichts als ein staubiger Fleck, an dem es einfach war, Geld zu machen", konstatiert er. "Aber was schnell kommt, vergeht auch schnell wieder."

Chiufen nimmt ein, Chiufen gibt aus

Onkel Mao-sung wurde in Keelung geboren. Im Alter von zehn Jahren zog er nach Chiufen, wo er bald als Botenjunge für das Goldschürfunternehmen Tai Yang zu arbeiten begann. Als er in seinen Zwanzigerjahren heiratete, war er offizielles Mitglied der Belegschaft. Obwohl er selbst niemals hinunter in die Minen gestiegen ist, verfügt er über einen reichen Schatz an Wissen über die Zeit der Goldsucher.

"Früher, zu Chiufens Blütezeit, gab es hier überall Bars, Bordelle und Billiardhallen. Die Stadt schlief nie, und es waren immer irgendwo Leute unterwegs; gar nicht so verschieden von heute an Feiertagen." Er meint, daß die Leute in jenen Tagen nach Gold gruben, um Geld zu verdienen - um es dann gleich wieder zu verprassen. Es gab damals Leute, die in eine Taverne gingen und eine riesige Portion Hummer oder Muscheln bestellten, ein paar Bissen davon aßen, dann aufstanden und in das nächste Restaurant gingen, wo sie wieder dasselbe bestellten. Oder um es noch extravaganter zu haben, nahmen sie, obwohl in jener Zeit sogar eine Rikscha als Luxus galt, ein Taxi und fuhren damit nach Taipei, um dort ihr Geld in Restaurants auszugeben. Mao-sung erinnert sich: "Die Taipeier Dandys lachten über die dreckigen Goldgräber und nannten sie Bettler; aber die warfen mit Geld nur so um sich, und sie gaben Gold als Trinkgeld. Deshalb waren sie die Lieblinge der Tingeltangelmädchen."

Chiufen war ein Abenteurerparadies. Vielleicht gibt es sogar eine geomantische Bedingung, die Leute anzog, um nach Gold zu graben. Chiufen hat die Form jener Körbe, mit denen man damals den Schutt aus den Minen trug - was suggeriert, daß man dort leicht reich werden kann. Aber am Ende floß der Schatz doch wieder durch die Maschen ab ins Meer. Die Abenteurer kamen nach Chiufen, um Geld zu verdienen - und dort gaben sie es auch wieder aus.

Was ist schön an Chiufen?

Nach kurzer Zeit waren die Goldvorkommen Chiufens erschöpft, und in die Stadt kehrte wieder Ruhe ein, umgeben von denselben Bergen und demselben Meer.

Das alte Chiufen wurde vom täglichen Lebenskampf beherrscht - Essen, Trinken, Schlafen und Arbeiten - und nur wenige Leute hatten die Muße, sich darüber Gedanken zu machen, ob der Ort, an dem sie lebten, schön war oder nicht. Die alten Leute, die ihr ganzes Leben in Chiufen verbracht haben, verstehen nicht so recht, was es bedeutet, wenn sie hören, daß Taiwanesen von heute die Schönheit von Chiufen "entdeckt" hätten.

Wenn es überhaupt etwas Besonderes an Chiufen gibt, meint Onkel Mao-sung, dann ist es der Regen. Der hört das ganze Jahr über kaum einmal auf. Und noch etwas: Die Quelle des Lebenserwerbs der Menschen ist auch der Grund, warum es keine Moskitos in Chiufen gibt. Die vielen Schmelzöfen stießen so viel Kohlestaub aus, daß keine Mücken überleben konnten.

"Die Städter reden darüber, wie großartig der Regen und der Nebel in Chiufen seien und beschweren sich sogar, wenn es einmal nicht naß und verhangen ist!" wirft Großmutter Lin(林婆婆)ein. Ihr wollen keine Vorteile des Niederschlags einfallen. Für die Menschen, die rund um das Jahr in der nassen Bergstadt wohnen, ist alles, was sie von der Feuchtigkeit haben: Rheumatismus.

Zum Guten oder Schlechten

Oma Lin wird dieses Jahr 65. Ursprünglich kommt sie aus Chiaohsi im Distrikt Ilan. Mit zwanzig Jahren heiratete sie - über einen Heiratsvermittler - nach Chiufen. Im Alter von 38 Jahren hatte sie mit ihrem Mann, einem Goldsucher, elf Kinder. Die ganze Familie wohnte zusammen in einem kleinen Haus von kaum mehr als 33 Quadratmetern. Erst in den letzten Jahren konnten die Kinder, die in der Stadt Karriere gemacht haben, genug Kapital zusammenlegen, um das Haus in die dreistöckige Villa mit Garten zu verwandeln, die es heute ist.

Selbst die Jüngeren unter den Einheimischen von Chiufen haben, sofern sie dort auch tatsächlich leben, dieselbe Haltung zu ihrem Heimatort wie ihre Eltern.

Wang Tien-fu(王添富)ist 31 Jahre alt. Er nennt sich selbst einen arbeitslosen Vagabunden, und er treibt sich in den Straßen von Chiufen herum - was ihm einen tiefen Einblick in die stattgehabten Veränderungen ermöglichte. "Das Chiufen von heute macht mir Angst." Der plötzliche Touristenstrom hat den Bewohnern Wohlstand gebracht; dennoch fürchtet Wang, daß die Leute, die nach Chiufen kommen, ihre Touristendollars auf verkehrte Weise ausgeben und dem Ort dadurch anstelle von Glück Ruin bringen. "Ich erinnere mich noch, als ich klein war", sagt er, "war die Chishan-Straße eine einzige Kaskade von Stufen. Aber jetzt ist sie ein Betonweg, auf dem kleine Autos fahren können." Wenn die Stufen, die das wirklich Einzigartige an dem Bergstädtchen waren, geopfert werden konnten, um sich dem Besucherstrom und den Bedürfnissen der Geschäftswelt anzupassen - was gibt es dann eigentlich noch, was nicht geopfert werden könnte? Wenn eines Tages alles preisgegeben sein wird, wird Chiufen dann immer noch Chiufen sein?

Die Städter haben Geld

Onkel Tieh-ting(鐵釘伯), ein früherer Nachbar von Onkel Mao-sung, ist nun schon seit vielen Jahren tot. Obwohl sein Sohn nicht in Chiufen arbeitet, hat er die Erbschaft des alten Holzhauses angetreten und ist eingezogen. Seine Frau deutet dorthin, wo Mao-sung's altes Haus stand, das sich in ein zweistöckiges Betongebäude verwandelt hat, und sagt; "Die Eigentümer haben schon mehrere Male gewechselt. Ich bin nicht ganz sicher, wer zur Zeit dort wohnt. Sie kommen nur selten zum Übernachten vorbei."

Der häufige Besitzerwechsel läßt darauf schließen, daß das Haus einen enormen Wert hat. Onkel Mao-sung kann sich nur schwer vorstellen, daß das Land eigentlich der Firma Tai Yang gehört, die ihre Rechte theoretisch jederzeit wieder einfordern könnte. Das Haus, für das immer noch Miete bezahlt werden muß, die in den alten Tagen einige hundert Yuan betrug, könnte jetzt für Millionen von NT-Dollars verkauft werden. "Die Städter haben wirklich viel Geld", schließt Onkel Mao-sung daraus.

Weil die Städter so viel Geld haben, treiben sie die Preise unaufhörlich in die Höhe. Wenn der ursprüngliche Preis für eine Wohnung 10 000 NT$ war, kommt bestimmt irgendwann jemand an und bietet 100 000 NT$; und sobald sich die 100 000 NT$ einmal herumgesprochen haben, bietet ein Dritter 500 000 NT$ und schließlich ist das Preisniveau dann genauso hoch wie in der Stadt. Gegenwärtig beträgt der Preis für nur ein ping (3,31 Quadratmeter) 120 000 NT$.

Die reichen Leute kaufen Häuser in Chiufen, aber sie bleiben Außenseiter. Sie kommen nur an Feiertagen vorbei und wohnen ansonsten in der Stadt, um dort Geld zu machen. Als Folge davon verbreitet sich die frostige städtische Anonymität in Chiufen, und Leute wissen nicht mehr, wer ihre Nachbarn sind.

"Willkommen" in Chiufen?

Man kann sich leicht ausmalen, wie es in Chiufen zugeht, das einfach nicht für eine so große Zahl von kaufwütigen und vergnügungssüchtigen Menschen gebaut wurde und das nun so viel "Interesse" weckt.

An der Mauer um ein Haus in einer der alten Straßen sind 16 rote Plakate mit Schriftzeichen angebracht: "Willkommen in Chiufen! ( ... ) aber der Lärm und der Müll der Touristen haben das Leben der Einwohner ruiniert ... " Dieser Protest, in höflichen und milden Worten ausgedrückt, klingt resigniert. Es scheint, als seien Proteste nur von beschränktem Wert. Die Jugendlichen werfen ihre Getränkedosen immer noch wahllos weg, und sie haben ihre Gettoblaster immer noch voll aufgedreht, wenn sie die Straßen auf und ab wandern, um ihre "coolste" Aufmachung zu präsentieren.

Eine Gruppe älterer Bürger sitzt bei einer erregten Unterhaltung im Ti-Chun-Tempel: "Wenn Leute herkommen wollen, um ihren Spaß zu haben, sollen sie uns willkommen sein. Aber es gibt hier keinen Parkplatz oder öffentliche Toiletten; es ist wirklich ein Problem, wenn die Massen einfallen." Die alten Leute erzählen, daß sich die Besucher an Feiertagen vor der Toilette des Tempels anstellen, und daß die Schlange dann zig Meter lang sein kann. Aber mehr Geld im Spendenkasten des Tempels findet sich nie; im Gegenteil, es gibt nur mehr sauberzumachen im Tempel.

Ein bißchen ernsthafter, bitte!

Wenn die Einwohner von Chiufen als Gegenleistung für den Preis, den sie zah­len, etwas mehr positiven Einstellungen begegnen würden, fühlten sie sich sicher besser. Statt dessen passiert es oft, daß sich Leute, die nach Chiufen kommen, enttäuscht zeigen, weil sie die Berge und das Meer so haben wollen, wie sie es von der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm her kennen. Was sie jedoch schließlich sehen, sind Neubauten, Müllhaufen, dichter Verkehr und Menschenmassen, aber keine Toiletten. Diese Leute werden mit ihren falschen Erwartungen nicht nur enttäuscht, sie beklagen sich dann auch noch über das Treiben.

Es stimmt! Die Leute beschweren sich, weil sie nach Chiufen fahren, um sich zu "amüsieren"; also sind sie enttäuscht. Und die Leute von Chiufen beklagen umgekehrt, daß diese Leute überhaupt nach Chiufen kommen, wenn sie sich nur "amüsieren" wollen.

Auch wenn Wang Tien-fu es nicht ganz wörtlich so gesagt hat, so meint er doch, daß die Besucher ein wenig ernsthafter sein sollten. "Wer sagt, daß man nach Chiufen soll, um sich das Meer anzusehen? Man sollte eher nach Chiufen kommen, um einen Blick in die Geschichte zu werfen!" Er öffnet seine Augen ganz weit und sagt mit bewegter Stimme, daß Menschen hier verstehen lernen könnten, unter welchen Mühen die Goldgräber den Ort an den Berg bauten und was es bedeutete, sich auf eine Goldmine als Einkommensquelle zu verlassen; oder wie sie ihre Leben in den Minen wagten, um mit nichts weiter als ein paar Schaufeln einen Schacht zu graben. "Nur so läßt sich die wirkliche Bedeutung des Lebens in Chiufen verstehen."

Wenn man die Geschichte von Chiufen ignoriert, macht man aus dem Platz nur einen weiteren Ort, an den die Menschen fliehen, um aus der Stadt rauszukommen. Die Leute haben keinerlei psychologische oder intellektuelle Vorbereitung; und so ist es kein Wunder, daß sie enttäuscht sind. Und während sie enttäuscht werden, zertrampeln sie gleichzeitig die Spuren der Geschichte in Chiufen.

Kultur kann Chiufen retten

Während einige schon das Klagelied "Chiufen stirbt einen zweiten Tod" anstimmten, kam eine Gruppe von Kulturarbeitern in das Städtchen, um sich zu erholen. Sie beschlossen, nicht danebenzustehen und zuzusehen, wie die Seele der ehemaligen Goldgräberstadt derart dahinschwindet. Sie gründeten einen Kulturverein, dessen Ziel es ist, das Heimatgefühl der Einheimischen anzusprechen und die kulturellen Aspekte des Lebens in Chiufen zu fördern. Der Verein hofft, daß der Ort zu echter Lebenskraft zurückfinden kann.

Die Vereinsarbeit war bisher sehr praktisch orientiert, und es gibt kein leeres Gerede, wie man es oft mit Gelehrtenzirkeln verbindet. Der Verein veranstaltete eine Aufräumaktion, um die Bewohner zur Müllbeseitigung anzuhalten. "Die erste Reaktion war, daß die Leute über uns lachten und meinten, wir seien verrückt geworden", erzählt Hung Chih-sheng(洪志勝), einer der Vereinsgründer und zugleich Besitzer des bekannten "Chiufen"-Teehauses. Die Vereinsmitglieder fegten dennoch die Straßen und halfen sogar den Leuten, die sich über sie lustig machten. Am Ende lachte keiner mehr; stattdessen nahm jeder einen Besen in die Hand und begann ebenfalls zu fegen. "Wenn wir so auf das Bewußtsein der Bewohner von Chiufen wirken und sie zur Selbsthilfe anregen können, dann gibt es eine große Hoffnung für den Ort", sagt er.

Hung Chih-shen erläutert seine Vorstellung, nach der Chiufen Tourismus und Geschäft sich auf eine rationale Weise entwickeln lassen sollte, um den Bewohnern eine Möglichkeit zu verschaffen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dadurch würde das natürliche Wachstum des Städtchens gefördert, ohne daß es dadurch zu einer "Feriensonderzone" für Reiche oder zu einer ganz gewöhnlichen Touristenfalle würde. "Aber das kann nur auf Basis einer fest verwurzelten Kultur gelingen."

Die Geschichte würdigen und ihr Recht wahren

Vom 12. bis zum 27. März veranstaltete der Verein eine gutbesuchte Ausstellung unter dem Titel "Vergangenheit und Gegenwart von Chiufen" in einem bekannten Taipeier Warenhaus. Viele Besucher konnten den Fotos, Texten und Erklärungen entnehmen, daß es in Chiufen nicht nur Berge und Meer gibt, sondern daß es darüber hinaus eine noch viel wertvollere Geschichte in sich trägt.

Aber dürfen wir so optimistisch sein zu glauben, Kultur könne Chiufen retten? Nicht so ohne weiteres, scheint es.

Fast alle Geschäfte in Chiufen legen Wert auf "kulturelles Flair". Ihre Wände werden von notorischen Kunstgegenständen oder historischen Fotos geschmückt. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Ambiente kommerziellen Erwägungen entspringt und daß damit lediglich der Konsumentengeschmack getroffen werden soll. Genau­ so sicher, wie es Kunstfälschungen gibt, gibt es auch Fälschungen "historischer Gegenstände", die nur aus Profitgründen entworfen wurden. Onkel Mao-sung zeigt auf einige mit hunderten oder tausenden von NT-Dollars ausgepreiste "Goldnuggets" in einem Schaufenster und meint, daß man schon vom bloßen Ansehen wissen könne, daß es sich um angemalte Imitationen handele. Hung Chih-sheng fügt lachend hinzu, daß den Leuten aus Chiufen die Lust am Risiko angeboren sei und daß sie sich keine Chance entgehen lassen würden, Geld zu machen.

Aus diesem Grund finden es auch einige Leute komisch, daß sich noch keine Spielhallen und Karaoke-Bars nach Chiufen verirrt haben. Dafür gibt es Gründe. Tatsächlich tauchten bereits welche auf, aber sie wurden von Freunden des Kulturvereins "gewarnt", so daß sie zur Zeit wieder geschlossen haben. "Aber sie warten nur darauf, wiederzukommen", sagt Hung. Es wird der gemeinsamen Anstrengung aller Bewohner und Freunde von Chiufen bedürfen, den Ort zu retten; und es wird nicht gelingen, wenn nur ein paar Leute es versuchen.

Einheimische Hunde und gesalzener Fisch

Ein pensionierter älterer Herr zeigt einigen Freunden stolz seinen neu erworbenen Welpen. "Er ist drei Monate alt. Ich habe ihn für 100 000 NT$ gekauft." Nachdem Leute entdeckt hatten, daß taiwanesische Hunde eine Menge Geld wert sind, wurden die kleinen Geschöpfe, die zuvor durch die Dörfer von Taiwan gestreunt waren, zu gehätschelten Lieblingen der Wohlhabenden. Plötzlich war ein altes chinesisches Sprichwort wahr geworden: die Billigware "gesalzener Fisch" war auf einmal zu einem Wertgegenstand geworden.

Nachdem sie ihren wirtschaftlichen Höhepunkt überschritten hatte, war die alte Goldgräberstadt Chiufen wieder zu gewöhnlichem, billigem "gesalzenen Fisch" geworden. Aber heute ist sie so beliebt wie ein einheimischer Hund. Wird sich wieder alles umkehren, und wird der heute so unerwartet teuer veranschlagte gesalzene Fisch morgen schon wieder eine Billigware sein?

Wenn Menschen der Geschichte und Kultur nicht den gebührenden Respekt zollen, zahlen sie als Folge davon einen hohen Preis. Artefakte werden wie Müll behandelt und historische Stätten in Freizeitparks verwandelt. Es gibt keine wirklichen Erinnerungen an die Vergangenheit mehr, weder für den reflektierenden Verstand noch für nostalgische Gefühle. Gibt es außerdem Geldverdienen zur zukünftigen Realisierung von Wünschen noch etwas anderes, womit sich die Menschen beschäftigen können?

Chiufen war ein "gesalzener Fisch", und auf wundersame Weise hat es sich in etwas Beliebtes und Geschätztes verwandelt. Werden wir es schützen können? Oder werden wir es verbraten, verspeisen und vergessen? Getestet wird hier nicht nur unser gegenwärtiger Kulturstand; es könnte sich auch um einen symbolischen Wegweiser für die kulturelle Entwicklung auf Taiwan handeln. Wir sind gespannt.

(Aus dem Chinesischen von Phil Newell; Deutsch von Christian Unverzagt)

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