Deutsche Leser können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, daß sich auf Taiwan deutsche Klassiker, Unterhaltungs-, Sach- und Kinderbücher allgemeiner Beliebtheit erfreuen und beispielsweise Storms Erzählungen und "Die Buddenbrooks" von Thomas Mann erst vor kurzem in Taipei wieder neu aufgelegt worden sind. Die meisten Käufer erstehen natürlich eine chinesische Übersetzung dieser Werke, aber es gibt auch eine Reihe von Chinesen, die die deutsche Sprache erlernen.
An vier Universitäten hierzulande, nämlich der Soochow-, Tamkang-, Fu Jen- und Kultur-Universität, gibt es Deutschseminare; die beiden letztgenannten haben darüber hinaus Graduierteninstitute im Fach Deutsch. In den ersten zwei Studienjahren ist der Sprachunterricht am wichtigsten, ähnlich wie im Grundstudium an sinologischen Seminaren deutscher Universitäten. Im dritten und vierten Jahr spielt die deutsche Literatur die Hauptrolle, wobei die vier genannten Universitäten allerdings den Anteil unterschiedlich gewichten; die Kultur-Universität bietet die meisten Literaturkurse an.
Am Deutschgraduierteninstitut der Kultur-Universität wurden zwischen 1979 und 1992 52 Magisterstudenten ausgebildet; 38 von ihnen wählten deutschsprachige Dichter und deren Werke als Themen für ihre Abschlußarbeiten. Am Deutschgraduierteninstitut der Fu Jen-Universität, der angesehensten Wiege der Deutschmagister, wurden von 1978 bis 1993 62 Magisterarbeiten geschrieben, von denen sich 55 auf die deutsche Literatur beziehen.
Außerdem wird an den vier Deutschseminaren deutsches Theater gespielt, darunter so bekannte Bühnenstücke wie Lessings "Minna von Barnhelm", Hugo von Hoffmannsthals "Jedermann", Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" und "Das Haus in Montevideo" von Curt Goetz.
Das bedeutet nicht, daß taiwanesische Studenten sich nur für deutsche Literatur interessieren. Der Grund für die Schwerpunktlegung besteht vielmehr darin, daß die meisten Lehrer Germanistik im Hauptfach studiert haben und Literatur interessanter und leichter als Philosophie und Geistesgeschichte zu lesen ist. Ob die Leser wirklich den Inhalt von "Tod in Venedig" oder "Die Buddenbrooks" verstehen, ist fraglich; unleugbar ist jedoch, daß in Taiwan viel mehr deutsche Literatur gelesen wird als taiwanesische Literatur in Deutschland.
Prof. Wagner von der Heidelberger Universität schätzt den Anteil der Taiwan-Studien an sinologischen Seminaren in Deutschland auf zwanzig Prozent.
Zur Zeit gibt es in Deutschland 47 Hochschulen (43 Universitäten und vier Fachhochschulen), an denen in unterschiedlichem Umfang Studiengänge angeboten werden und Lehrangebote bestehen, die eine Beschäftigung mit chinesischer Sprache, Kultur, Gesellschaft und Geschichte ermöglichen. An 19 Universitäten kann in 21 Studiengängen Sinologie studiert und mit einem Magister oder der Promotion abgeschlossen werden.
Im Gegensatz zur amerikanischen Forschung beschäftigt sich die deutsche Sinologie besonders mit der chinesischen Klassik. Folgende Universitäten sind Beispiele dafür:
- Philosophie, Geschichte und chinesische Literatur vor der Ching-Dynastie sind die Hauptlehrangebote des sinologischen Seminars an der Bonner Universität; Literatur aus Taiwan spielt fast keine Rolle. Die Uni verfügt außerdem noch über eine Abteilung für Chinesisch am Seminar für Orientalische Sprachen. Das Ziel der Ausbildung liegt in der Sprachbeherrschung und der Fähigkeit zu übersetzen; die Hauptinhalte des Unterrichts sind Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im modernen China, jedoch so gut wie keine chinesische Literatur, geschweige denn Literatur aus Taiwan.
- Der Schwerpunkt des sinologischen Seminars an der Frankfurter Universität liegt wie in Bonn auf Philosophie, Geschichte und den chinesischen Klassikern, wie das "Buch der Lieder"(詩經), die "Chu-Lieder"(楚辭)sowie "Tang- und Sung-Gedichte"(唐詩和宋詞); Literatur aus Taiwan ist schwach vertreten.
- An Deutschland ältester Universität in Heidelberg am Neckar haben Taiwaninteressierte Studenten Gelegenheit, sich mit Literatur von der Insel zu beschäftigen, da Lung In-tai(龍應台), eine in Taiwan sehr bekannte Schriftstellerin, hier lehrt. Sie hält Seminare über taiwanesische Literatur in der japanischen Kolonialzeit. Die neugegründete sogenannte "Taiwan-Gruppe", der sieben bis acht Studenten angehören, sammelt Materialien über die Politiklandschaft Taiwans. Weiterhin bietet Heidelberg sowohl Chinesisch-Sprachkurse für Hörer aller Fakultäten an als auch im Rahmen der Sinologie Lehrveranstaltungen über chinesische Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Literatur wie "Die Geschichte der Drei Reiche"(三國演義), Werke von Hsie Ling-yun(謝靈運), Erzählungen aus den letzten Jahren der Ching-Dynastie sowie Forschungen über den festlandchinesischen Autor Lu Xun(魯迅).
- Die Universität Leipzig kann als Heimat der deutschen Sinologie angesehen werden, denn der erste deutsche Sinologe, von der Gabelentz, war einmal hier lehrtätig. Wegen fehlender Finanzmittel in der ehemaligen DDR unterhielt die Uni zwischen 1965 und 1990 kein sinologisches Seminar. Erst nach der Wiedervereinigung konnte es erneut eröffnet werden. Es konzentriert sich besonders auf die Forschung chinesischer Geistesgeschichte, da Prof. Dr. R. Moritz, Leiter des Seminars, sich auf diesen Bereich spezialisiert hat. Er hat "Lun Yu"(論語), eine Sammlung der Gespräche zwischen Konfuzius und seinen Schülern, ins Deutsche übersetzt und plant, in Kürze ein Zentrum zur Forschung über die Neue Konfuzianische Schule zu gründen. Der aus China stammende Dozent He Zhiwei hatte eine Lehrveranstaltung über taiwanesische Heimatliteratur und die Literaturgeschichte Taiwans geplant, aber leider bekundete nur eine Studentin Interesse daran.
-In Verbindung mit Literatur aus Taiwan ist die Universität Bochum besonders erwähnenswert. An ihrer Fakultät für Ostasienwissenschaften gibt es eine eigene Abteilung für Sprache und Literatur Chinas, an der man sich mit der Literatur Taiwans mehr beschäftigt als an den anderen Universitäten. Bochum hat eine Serie von deutschen Übersetzungen taiwanesischer Erzählungen und betreffende Abhandlungen veröffentlicht und gilt als wichtigster Ort für die Erforschung der Taiwanliteratur in Deutschland. Prof. Dr. H. Martin ist Spezialist auf diesem Gebiet.
Die Universität Leipzig kann als Heimat der deutschen Sinologie angesehen werden, denn der erste deutsche Sinologe, von der Gabelenz, war einmal hier lehrtätig.
An den sinologischen Seminaren in Deutschland bemüht man sich um Vermittlung eines umfassenden und vielschichtigen Wissens über China. Da die Schwerpunkte der deutschen Sinologie hauptsächlich in der Geschichte, Philosophie, Geistesgeschichte, Politik, Gesellschaft und Literatur Festlandchinas liegen, sind der Raum und die Möglichkeiten für Taiwan-Studien sehr beschränkt. Prof. Dr. R. G. Wagner an der Heidelberger Universität schätzt den Anteil der Taiwan-Studien an den sinologischen Seminaren auf 20 Prozent des Lehrplans.
Trotzdem besteht offensichtlich bei den Studenten Interesse an Taiwan, wie eine Reihe von Magisterarbeiten anzeigt. Studenten an der Frankfurter Universität zum Beispiel wählten die taiwanesischen Schriftsteller Guo Sung-feng(郭松棻), Li Ang(李昂), Chen Ying-zhen(陳映真), Huang Chun-ming(黃春明)und Sang Mau(三毛)als Themen für ihre Magisterarbeiten. An der Heidelberger Universität ist vor kurzem eine Magisterarbeit über den 1947er Februar-Aufstand auf Taiwan im Spiegel der Romane "Huangsu's Lebensgeschichte"(黃素小編年)von Lin Hsiung-bu(林雙不)und "Eine Winternacht"(冬夜)von Lü He-ruo(呂赫若)vorgelegt worden. Die Magisterarbeit einer Studentin an der Freien Berliner Universität befaßt sich mit der Freizeitgestaltung taiwanesischer Jugendlicher. An der Chinesischabteilung in Bonn wurden zwanzig auf Taiwan bezogene Arbeiten verfaßt, deren Themen von den Schriftstellern Wu Zuo-liu(吳濁流)und Yang Qing-chu(楊青矗)bis hin zu Taiwans Außenpolitik und den Handel zwischen Taiwan und Deutschland reichen.
Wenn man sich in den Buchläden auf Taiwan umsieht, wird man möglicherweise überrascht sein über die Auswahl an chinesischen Übersetzungen deutscher Werke. Laut Untersuchungen von Frau Prof. Dr. Luzia Mei-ling Wang(王美玲), Leiterin der Deutschabteilung der Fu Jen-Universität in Taiwan, hat es bis Ende 1992 schon 112 chinesische Übersetzungen deutscher Literaturwerke in Taiwan gegeben; Hermann Hesse gehört zu den beliebtesten Autoren, und von seiner Erzählung "Siddhartha" existieren sechs verschiedene Übersetzungen. Allerdings sind nicht alle Werke original aus dem Deutschen, sondern zum Teil aus dem Japanischen oder Englischen übertragen.
Wer sich hingegen als Deutscher für taiwanesische Literatur interessiert, kann auf eine leider nur relativ kleine Auswahl in deutscher Sprache zurückgreifen. Darunter finden sich zum Beispiel: Li Ang "Gattenmord"(殺夫); Chang Hsi-kuo(張系國)"Der Schachkönig"(棋王); Chen Jo-hsi(陳若曦)"Die Exekution des Landrats Yi"(尹縣長)und "Heimkehr in die Fremde"(歸);"Blick übers Meer"(望海), eine Sammlung von 12 taiwanesischen Erzählungen und "Der Ewige Fluß"(源流), auch eine Sammlung von 14 Erzählungen aus Taiwan.
Außerdem ist die Herausgabe einer deutschen Übersetzung von Chang Ta-chun's(張大春)"Erzählungen" demnächst zu erwarten. Außer "Gattenmord", "Der Schachkönig", "Die Exekution des Landrats Yi" und "Heimkehr in die Fremde" sind die meisten Erzählungen in die deutschen Universitätsbuchkollektionen aufgenommen worden, wo sie allerdings auf den Regalen häufig verstauben. In den Buchhandlungen sind die taiwanesischen Werke nur schwer zu finden und müssen häufig extra bestellt werden, weil sie nicht zu den internationalen Bestsellern gehören und es zu wenig Nachfrage nach diesen Büchern gibt.
Wer sich für die Neuerscheinungen auf Taiwans Büchermarkt interessiert, für den wird die monatlich erscheinende bibliographische Zeitschrift "Bibliogony"(書香)des Regierungsinformationsamtes von großem Interesse sein, denn hier sind alle Neuerscheinungen mit Bezugsquellen übersichtlich aufgelistet.
Der Buchmarkt kann auch das aktuelle Geschehen widerspiegeln. Zum Beispiel tauchten in Taiwans Buchhandlungen nach dem Zerfall des ehemaligen Ostblocks plötzlich Bücher über Länder wie Ungarn und Rußland auf; und nach der deutschen Wiedervereinigung fanden sich sofort eine Reihe von Sachbüchern über Geschichte, Außenpolitik oder innenpolitische Probleme Deutschlands in den Regalen in Taipei.
Im Falle Taiwans spiegelt das Fehlen von Werken über die Insel seinen internationalen Status, besser gesagt: "Nicht-Status" im Schatten des riesigen Nachbarn Festlandchina wider. Festlandchina ist nicht nur die Wiege der chinesischen Kultur, Kunst und Literatur; es ist außerdem in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des internationalen wirtschaftlichen Interesses gerückt, denn Pekings liberalere Wirtschaftspolitik, das große Entwicklungspotential sowie der riesige Markt von über einer Milliarde Menschen bieten vielversprechende Möglichkeiten für ausländische Investoren und Unternehmen.
Prof. Moritz hat sich auf den Bereich chinesischer Geistesgeschichte spezialisiert. Er hat das "Lun Yu" ins Deutsche übersetzt.
Diese Faktoren haben dazu beigetragen, daß sich das allgemeine sowie das akademische Interesse auf Festlandchina konzentrieren. An den deutschen Universitäten werden beispielsweise im Sprachunterricht für modernes Chinesisch hauptsächlich die auf dem Festland üblichen sogenannten Kurzzeichen gelehrt und vom Festland stammendes Lehrmaterial, bzw. auf Festlandchina bezogene Texte verwendet. Das auf Taiwan übliche Umgangschinesisch unterscheidet sich in Stil und Schreibweise aber erheblich davon, und die deutschen Studenten, die sich mit Texten aus Taiwan beschäftigen wollen, werden sich erst einmal darin einarbeiten müssen - wahrscheinlich in eigener Regie.
Die Regierung der Republik China bemüht sich, mehr Aufmerksamkeit in akademischen Kreisen zu wecken und hat einige Initiativen ergriffen. Das Regierungsinformationsamt hat beispielsweise bekannte deutsche Politikwissenschaftler wie Prof. Dr. G. K. Kindermann, Prof. J. Domes und Dr. D. Herz gebeten, das Problem und den Status Taiwans in der Frage einer möglichen Wiedervereinigung Chinas zu begutachten. Das Nationale Kompilations-und Übersetzungsinstitut der Republik China hat mit dem britischen Oxford-Verlag zusammengearbeitet und vor kurzem die "Erzählungen zeitgenössischer Schriftsteller Taiwans" in Englisch herausgegeben.
Das Ziel der im Jahr 1989 gegründeten Chiang-Ching-kuo-Stiftung ist es, durch finanzielle Unterstützung das Studium chinesischer Kultur zu fördern. Obwohl ihre Finanzhilfen nicht auf Taiwan-bezogene Themen beschränkt sind, ist es unleugbar, daß seit ihrer Gründung mehr Forschungsprojekte als früher entstehen, die mit Taiwan zu tun haben. Unter den von der Stiftung unterstützten Projekten aus Deutschland, die sich mit Taiwan beschäftigen, finden sich Untersuchungen wie: "The Austronesian Arrival. Research Project to Study the Connections between Taiwan and the Papua New Guinean" der Max-Planck-Gesellschaft; "Distinguished Lectureship: Culture and Society in Contemporary Taiwan" der Universität Heidelberg; "20th Century Literary History Project (Taiwan and its Cultural Links with China)" an der Universität Bochum; und "Das Andere China" an der Universität München.
Weiterhin hat der Rat für kulturelle Entwicklung ein Förderprojekt für Übersetzungen chinesischer Literatur aufgestellt mit einem Budget von 3,6 Millionen US-Dollar. Bis jetzt sind 25 taiwanesische Werke im Rahmen dieses Projekts in verschiedene Sprachen übersetzt worden, unter anderem vier ins Deutsche.
Aber Geld ist nicht das einzige, was die Republik China Sinologen und anderen interessierten Akademikern bieten kann. Durch ihre Entwicklung hin zu Demokratie, gesellschaftlicher Pluralität und wirtschaftlichem Erfolg, stellen sich nun eine ganze Reihe von Themen, die der Untersuchung wert sind. Die Volkserhebung vom 28. Februar 1947, erfolgreiche Landreformen, Taiwan als Außenseiter der internationalen Gesellschaft, Heimatliteratur, Taiwans Wirtschaftswunder, der friedliche Demokratisierungsprozeß, flexible Außenpolitik, Wiedervereinigung contra Unabhängigkeit und Taiwans komplexe Beziehungen zu Festlandchina sind nur einige davon. Die hiesigen Forscher haben darüber viel geschrieben, dennoch sind ausländische Standpunkte um so wertvoller.