29.04.2025

Taiwan Today

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Ist es eine Sünde, gut zu essen?

01.09.1994
Selbst wenn alles auf dieser bunten Platte eßbar ist, so sind die beiden kunstvoll geschnitzten Drachen zum Verspeisen viel zu schade.
Taiwanesische Geschäftsleute reisen nach Vietnam und genießen ein üppiges Abendessen aus Bärentatzen; Bürokraten und Manager schwelgen in einem ausschweifenden Festmahl und leeren dabei über dreißig Flaschen teuerster Importspirituosen; noch ein kostspieliges, auf Haifischflossen spezialisiertes Restaurant öffnet seine Pforten ...

Heutzutage ein Connaisseur zu sein, ist zu einer Art Sünde, einer Form der Infamie geworden. Es ist, als wären Gourmets gierige Schweine, die das Aussterben der Tierwelt vorantreiben wollen, oder aufgeblasene Geldsäcke, die nichts anderes zu tun haben, als ihren Reichtum durchzubringen. Die wahren Liebhaber kulinarischer Genüsse sehen, was aus ihrem Ansehen wird, und fühlen sich daher veranlaßt, die Eßstäbchen beiseite zu legen und ihre eigene Ansicht über den Wert eines guten Essens zum Ausdruck zu bringen.

"Als wir sahen, daß taiwanesische Geschäftsleute nach Vietnam fahren und dort Bärentatzen essen, waren wir wirklich wütend. Sind Bärentatzen denn das einzige nahrhafte Essen? Wenn man sie aus gesundheitlichen Gründen essen möchte, braucht man nur eine einzige Scheibe mageres Fleisch abzuschneiden. Das ist eine völlig ausreichende Dosis; genug, um eine gute Suppe daraus zuzubereiten, die sowohl köstlich als auch nahrhaft ist", sagt Sarah Cheng(鄭懷超)mit vor Ärger leuchtenden Augen. Sie und ihr Mann sind in den Gourmettempeln Hongkongs und Taiwans regelmäßige Gäste.

Essen um des Gesichtes willen

Viele Menschen in Taiwan sind einfach zu sehr darauf erpicht, herzhaft in eine Haifischflosse zu beißen oder auf Abalonen herumzukauen, oder sich gar auf ein "Bankett der Mandschus und Han" zu stürzen, ein strapaziöses, mehrgängiges Festessen, dessen Genuß angeblich selbst die Kaiserinwitwe geschätzt haben soll. Bei einem solch weitverbreiteten Enthusiasmus für die Haute Cuisine ist die Imagefrage selbst für die vegetarische Küche, deren Vorzüge sich ursprünglich auf ihre Einfachheit gründeten, zu einem allzugroßen Anliegen geworden. "Es geht einfach viel zu weit", seufzt Frank Lin(林福生), ehemaliger Generalsekretär der Chinesischen Vereinigung für Ernährungskultur. Seiner Meinung nach fallen die Menschen von heute, die selbst beim Essen nur auf das äußere Erscheinungsbild Wert legen, allzu leicht auf die Tricks findiger Geschäftsleute herein.

Das traditionelle "Bankett der Mandschus und Han" zum Beispiel war ursprünglich ein Festessen, das die Mandschus aus Respekt gegenüber ihren Han-chinesischen Gästen gaben. Die Han-Chinesen revanchierten sich für die Gunst, indem sie nach dem Mahl eigene, hausgemachte Gerichte anboten. In Wirklichkeit hat am kaiserlichen Hof nie ein "Bankett der Mandschus und Han" stattgefunden. "Dies ist eine Bezeichnung, die sich Geschäftsleute ausgedacht haben. Sie als repräsentativ für die chinesische Küche darzustellen, ist wirklich eine ungeheuerliche Verdrehung der Tatsachen", kommentiert Frank Lin.

In der chinesischen Küche finden sich viele Gerichte mit wohlklingenden Namen - das hier abgebildete hat den Titel "Die Fee streut Blumen" -, deren Verzehr Glück und langes Leben verheißt.

Eine andere Angelegenheit ist die Platte mit dekorativ arrangierten Nahrungsmitteln, die auf allen förmlichen Bankettischen erscheint. Die Chinesen sagen oft, daß sich eine vollendete Mahlzeit nicht nur durch Geschmack, sondern auch durch Aroma und Farbe auszeichnet. Daher werden zusätzlich zu den zu verzehrenden Gerichten verschiedene Figuren aus Früchten, Gemüsen und Kuchen geschnitten, um das kulinarische Erlebnis zu bereichern; solche dekorativen Platten sind nur zum Ansehen und nicht zum Essen da. Sie sind jedoch nicht mit den heutigen Festbanketten zu vergleichen, bei denen die Lebensmittel häufig nur als Vorwand dienen, um die geniale Fingerfertigkeit des Kochs zur Schau zu stellen. "Es mag ja gut aussehen, aber ist es auch hygienisch?" fragt sich Frank Lin.

Die legendären "acht Kostbarkeiten"

Seit der Chou-Dynastie haben die Chinesen die Liste der "acht hervorragensten Kostbarkeiten" entwickelt; Gerichte, die feine und exquisite Geschmäcker zufriedenstellen. Von Zeitalter zu Zeitalter bevorzugte man unterschiedliche Delikatessen wie Bärentatzen, Schwalbennester, Affenhirn, Orang-Utan-Lippen und Kamelhöcker. Da die Auswahl an Gerichten immer größer geworden ist, wurde die Liste präziser in vier Kategorien der "acht Kostbarkeiten" aufgeteilt:

Säugetiere, Meeresfrüchte, Geflügel und Gemüse. Heute hat man folgende Liste der "acht modernen Kostbarkeiten", die häufig in Speise-Etablissements zu finden ist, zusammengestellt: Schwalbennester, Abalonen, Haifischflossen, schwarze Seegurke, Hashih-Frosch, gefleckter Seebarsch, Tachia-Krebs und Hummer.

Auf die feinen Geschmacksnerven von Kennern wirken Abalonen und Haifischflossen unbeschreiblich köstlich. Der verstorbene Gelehrte Liang Shih-chou(梁實秋), selbst ein großer Genießer, verfaßte einmal eine Monographie, in der er erklärt, daß der saftige Geschmack der Jioukong-Auster unter allen zarten Weichtieren der beste sei, aber von den Abalonen noch übertroffen werde. Egal, wie sie zubereitet sind - frisch, getrocknet, in Dosen, in dünne Scheiben oder Streifen geschnitten und mit Petersilie gebraten -, Abalonen schmecken großartig. Die Liebhaber dieser Meeresschnecken spießen sie auf eine Gabel, um sie dann ganz im Mund verschwinden zu lassen, wo man von außen nach innen mit ihnen Bekanntschaft schließt und allmählich in einen Zustand geschmacklicher Ekstase eintritt.

Die kunstvollen Kreationen, die dieser Koch stolz der Kamera präsentiert, sind zwar ein Augenschmaus, oftmals jedoch scheinen die Lebensmittel nur als Vorwand zu dienen, um die Geschicklichkeit des Küchenchefs zur Schau zu stellen.

Haifischflossen müssen zunächst zum Aufquellen in Wasser eingelegt werden und werden danach gekocht; für den Durchschnittskoch eine beträchtliche Herausforderung. Die Konsistenz des Fleisches ist zwar gut, aber selbst hat es keinen Geschmack; der feine Geschmack ist in der Suppengrundlage enthalten. Aus diesem Grund kochen die Kantonesen, ihres Zeichens Meister im Zubereiten von Suppen, sie am besten. Zahlreiche Feinschmecker fliegen nach Hongkong, um dort speziell Haifischflossen zu essen. Alle paar Monate fliegen Raymond und Sarah Cheng, ein Ehepaar mit eher durchschnittlichem Ein­kommen, nach Hongkong und leisten sich ab 5000 NT$ (300 DM) aufwärts diese von einem Meisterkoch zubereitete Köstlichkeit.

Qualität vor Quantität

Man kann Lin Chuen-fang(林春芳)und einige ihrer Feinschmeckerfreunde oft die einfachste taiwanesische Nudelsuppe essen sehen, wofür vier bis fünf Personen zusammen nicht einmal 500 NT$ (30 DM) ausgeben. Manchmal jedoch gehen sie aus und zahlen 30 000 NT$ (1818 DM) für einen mit den "acht modernen Kostbarkeiten" gedeckten Tisch. Es ist nicht so, als würden sie Abalonen und Haifischflossen täglich zu jeder Mahlzeit essen.

"Leute, die mehrmals im Monat Haifischflossen und Abalonen essen, genießen es nicht unbedingt mehr als andere. Wenn man statt dessen fettes Schweinefleisch oder Schweinefüße ißt, nimmt man nicht unbedingt etwas Schlimmeres zu sich", sagt Chen Ching(陳靖), der in Taiwan, Hongkong, Festlandchina und der ganzen Welt gespeist hat. Was Essen anbetrifft, hat er schon immer seine eigenen Vorstellungen gehabt und ist nie blind der Masse gefolgt.

Der verstorbene Künstler Chang Ta-chien(張大千), der für seine Liebe zum Essen genauso berühmt war wie für seine Bilder, wurde von seinen Freunden oft lachend als ein "gefräßiges Monster, das es liebt, sich mit Essen vollzustopfen" bezeichnet. Er war überhaupt nicht beleidigt, sondern erkärte triumphierend: "Diese alten Augen haben so manches Buch über die Lehren der Weisen gelesen. Die einzige Doktrin, die ich wirklich erfüllen konnte, waren zwei Sätze von Konfuzius: 'Kein Essen ist zu vornehm' und 'Keine Küche ist zu fein.'" Wenn Chang Ta-chien jedoch ein Essen gab, hing die Anzahl der servierten Gerichte von der Zahl seiner Gäste ab. Selbst wenn er Gast war, bat er den Gastgeber, bei der Anzahl der Gerichte das Prinzip "Weder zuviel noch zuwenig" zugrunde zu legen.

Ein Kenner guten Essens ist niemals gierig, da Völlerei nur zu einer Desensibilisierung der Zunge führt. Chen Ching findet die konventionelle chinesische Art, an einem großen Tisch mit mehr als zehn verschiedenen Gerichten zu dinieren, einfach unangenehm. Er erklärt: "Wir sagen immer, daß hausgemachtes Essen am besten schmeckt. Seine beste Eigenschaft ist, daß man nur ein oder zwei leckere Gerichte ißt, so daß man deren essentielle Aromen eingehender genießen kann." Wenn er Zeit hat, geht Chen Ching lieber nach Hause und verbringt zwei oder drei Stunden damit, zwei der besten Gerichte, die er kochen kann, zuzubereiten und verwendet einen Tag harter Arbeit auf eine wundervolle Geschmackserfahrung.

Gutes Essen wirkt wie gute Musik erbauend auf die menschliche Seele. Gutes Essen ist nichts Sündhaftes. Diejenigen, welche gutes Essen zu schätzen wissen, sollten keinen unersättlichen Appetit propagieren. Liu An(劉安), König von Huai Nan während der Han-Dynastie, erklärte in seiner "Abhandlung des Königs von Huai Nan über die Küche" (淮南王食經): "Die Menschen des Altertums zogen den Geschmack der Gier vor; die modernen Menschen ziehen die Gier dem Geschmack vor." Auf die heutige Eßkultur bezogen kann dieser Satz als Kriterium dienen, das den Gourmet vom Gourmand unterscheidet.

(Englisch von Brent Heinrich; Deutsch von Christiane Gesell)

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