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Taiwan Today

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Mobiles Schlemmen

01.09.1994
Was darf's denn heute sein? In Taipei hat man die Qual der Imbiß-Wahl, denn überall bie­ten geschäftstüchtige Klein­unternehmer ihre süßen, salzigen, fetten, klebrigen, duftenden oder auch stinkenden Köstlichkeiten an.
Haben Sie Hunger auf eine Schale Nudeln? Oder lechzen Sie nach einem kühlen Getränk? Was auch immer Sie begehren mögen, Sie werden es sehr wahrscheinlich auf Taipeis Straßen finden. Die kleinen Eßstände entlang der Straßen verbinden die unbegrenzte Vielfalt der chinesischen Küche mit einem ungeheuren Unternehmergeist.

Während die Franzosen sich über den Verfall der Weltgastronomie aufgrund des Vordringens der faden Schnellimbißküche beklagen mögen, wissen die Bewohner von Taipei, daß ein rascher Imbiß genauso gut wie ein Gourmetmenü schmecken kann. Selbst wenn ihnen die Zeit für ein geruhsames Mittagessen oder das Selbstkochen fehlt, können sie trotzdem unter einem weiten Spektrum köstlicher, sowohl chinesischer als auch westlicher Gerichte auswählen, indem sie einfach an einem der zig Eßstände entlang den Straßen der Stadt Halt machen.

Am Morgen bietet sich den Berufstätigen auf dem Weg zur Bushaltestelle ein großes Frühstücksangebot: gedämpfte Brötchen mit Schweinefleischfüllung, dünne Lauchpfannekuchen, Klebreis mit ausgebackenen Brotstangen darin sowie Hamburger und Schinken-Eier-Sandwichs. Zur Mittagszeit reihen sich die Eßstände in den Gassen zwischen Bürogebäuden und in der Nähe von Schulen dicht aneinander und bieten beispielsweise an: gebratene Teigtaschen; ein komplettes Mittagessen in Form eines gebratenen Hühnerschenkels oder eines Schweinekoteletts zusammen mit Reis und Gemüse in der Pappschachtel; Nudeln, die auf Hunderte verschiedener Arten zubereitet werden; oder sogar ausländische Gerichte wie japanisches Tempura oder griechisches Gyros. Nach Büroschluß können Freunde die Straßen in Nähe eines Kaufhauses auf- und abspazieren oder über einen abendlichen Straßenmarkt schlendern auf der Suche nach dem, was ihre Geschmacksnerven reizt. Wie wäre es mit einem einfachen ausgebackenen Rübenkuchen, gerösteten Süßkartoffeln, einem Austernomelett oder einem Salat aus frischem Tintenfisch? Selbst in den frühen Morgenstunden können Ausgehfreudige noch Straßen mit einer Vielzahl kleiner Eßstände finden, die eine Schale Nudeln, einen Beutel gerösteter Erdnüsse oder eine Platte mit geschabtem Wassereis und Früchten offerieren.

Das ist nur eine kurze Bestandsaufnahme des vielfältigen Angebots an Gerichten und Imbissen der Straßeneßstände. Auch die Einrichtungen und Ausstattungen unterscheiden sich erheblich, angefangen von einem einfachen Gasgrill bis hin zu mehreren Kochwägen nebst Kühltheken, die zusammen mit alten Tischen und wackeligen Hockern auf dem Bürgersteig aufgebaut werden, manchmal auch mit einigen an einem Kabel baumelnden Glühbirnen darüber. Ein Imbißstand mag nur eine Leckerei anbieten - beispielsweise waffelähnliche kleine Kuchen oder gepreßten, aufgerollten Tintenfisch - oder Dutzende von Gerichten, die auf Bestellung gekocht oder kurzgebraten werden.

Straßenimbisse sind nicht nur zeitsparend und fast überall anzutreffen, sondern auch billig. Und die lockere Atmosphäre hat ihren besonderen Reiz. Obwohl Taipei auch über eine endlose Liste von Restaurants verfügt, sind und bleiben die Eßstände auf der Straße einer der beliebtesten Verpflegungsplätze - egal ob für Schüler und Studenten, Bauarbeiter oder Büroangestellte. Und wichtiger noch: Sie stellen ein Phänomen des Alltagslebens dar, welches weitreichende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen hat.

Für die Tausenden von Menschen, die in Taipei einen Imbißstand betreiben, ist es eine Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen - wenn auch meist illegal. Laut einer 1988 vom Amt für Budget, Rechnungswesen und Statistik (DGBAS) durchgeführten Untersuchung sind weniger als 35 Prozent der 17 000 Eßstände im Stadtgebiet angemeldet, und von den 35 000 Ständen im Kreis Taipei, zu dem viele Vorstadtgebiete gehören, sind nur 0,4 Prozent ordnungsgemäß registriert. Die meisten legalen Imbißbetriebe finden sich entlang der abends für Verkaufsstände freigegebenen Straßen, auf den sogenannten Nachtmärkten. Diese Kleinunternehmer betreiben ihren Stand auf einem ihnen zugewiesenen Platz, für den sie Miete zahlen, und werden entsprechend der Größe ihres Geschäfts besteuert. Aber es ist nicht einfach, einen Standplatz auf einem offiziellen Nachtmarkt zu bekommen. "Die Bedingungen, die für eine Imbißstandlizenz erfüllt werden müssen, sind ziemlich rigoros", meint Feng Chiu-huo(馮秋火), der in der Abteilung für Marktaufsicht der Taipeier Stadtverwaltung die Anträge für die Stadt Taipei bearbeitet. Bei der Erteilung von Standgenehmigungen bevorzugt die Regierung Behinderte mit niedrigem Einkommen und Menschen über 50 Jahre, die keine andere Möglichkeit des Lebenserwerbs haben.

Für die Mehrzahl der Imbißstandbetreiber stellen die strengen Bestimmungen jedoch kein Problem dar; sie lassen sich einfach dort nieder, wo sie ein gutes Geschäft vermuten, zahlen keine Steuern und sind jederzeit bereit, sich mitsamt ihren Utensilien aus dem Staub zu machen, sobald die Polizei auftaucht. Sinnigerweise werden sie allgemein "mobile Imbißverkäufer" genannt. Die meisten von ihnen richten sich lieber dauerhaft an einem Ort ein, aber ab und zu ziehen sie um, sowohl um sich den Kunden anzupassen, als auch um die Polizei nicht auf sich aufmerksam zu machen. Solange der Straßenhändler einen guten Standort finden kann, was in der lebendigen, dichtbesiedelten Stadt Taipei kein Problem sein sollte, kann er relativ einfach ein gutes Geschäft machen. Laut Statistiken des DGBAS verdienen rund dreißig Prozent von Taipeis Imbißstandbetreibern über 40 000 US$ im Jahr.

Solch einen Straßenstand aufzumachen, bedarf nur minimaler Investitionen. Die Kosten der Ausstattung richten sich nach Art der Imbisse, die man verkaufen will, aber liegen normalerweise nicht über 2000 US$. Laut Aussage eines Geschäftsmannes, der Imbißstände verkauft, kostet ein einfacher Wagen zusammen mit einem großen Kochtopf rund 230 US$, und ein Wagen mit Kühlschrank oder Gastank zwischen 800 und 1600 US$. Klapptische, Hocker und Kochutensilien mögen sich auf weitere 400 US$ belaufen.

Der fahrbare Imbißwagen, der mitsamt den Hockern irgendwo auf dem Bürgersteig aufgebaut worden ist, sieht zwar sehr provisorisch aus, aber das stört die Kunden nicht. Hauptsache für sie ist, daß die Suppe schmeckt.

Frau Liu verkauft an ihrem zweirädrigen Wagen seit acht Jahren sogenannte "Ochsenzungen-Kuchen"; das sind knusprige, längliche Gebäckstücke mit einer Honig- oder Erdnußbutterfüllung. In den ersten fünf Jahren verkaufte sie ihre Kuchen in der Nähe einer Überlandbusstation in Taipeis Innenstadt und ließ den Wagen abgeschlossen in einer nahegelegenen Seitengasse stehen, wenn sie nicht im Dienst war. Als die Busstation vor einigen Jahren geschlossen wurde, zog sie ein paar Straßen weiter, an ihren jetzigen Standort. Sie betreibt ihr Geschäft nun in einer belebten Gegend nicht weit von zwei großen Kaufhäusern entfernt. Direkt gegenüber liegt der Taipeier Hauptbahnhof, und um die Ecke gibt es eine Straße mit vielen Nachhilfeschulen, wo sich Oberschüler in Extrakursen auf die Universitäts-Aufnahmeprüfung vorbereiten. Der nicht abreißende Strom von Einkäufern, Reisenden und Schülern gibt Liu normalerweise von sieben Uhr morgens bis halb neun abends alle Hände voll zu tun. Pro Tag verkauft sie im Durchschnitt 150 Kuchen zu umgerechnet knapp einer Mark.

Ihre Unkosten sind kaum der Rede wert. Sie gibt ungefähr 16 US$ am Tag für Zutaten und Gas für den Grill, auf dem sie die Kuchen aufbäckt, aus. Zusätzlich zahlt sie eine geringe Summe an die Drogerie, vor deren Tür sie ihren Wagen aufstellt. Obwohl die Bürgersteige der Stadt gehören, sind solche Abmachungen zwischen Imbißstandbetreibern und Geschäftsbesitzern üblich. Liu's Einnahmen liegen bei rund 2100 US$ im Monat, auch wenn im Sommer das Geschäft schlechter geht, da die Leute kalte Getränke den warmen Kuchen vorziehen. "Wenn es richtig heiß wird und das Geschäft wirklich schlecht läuft, dann packe ich einfach meine Sachen zusammen und gehe nach Hause", erzählt sie.

Aber Liu fürchtet sich weniger vor dem Wetter als vor unangekündigten Polizeiaktionen. "In den acht Jahren bin ich sieben- oder achtmal erwischt worden", erzählt sie. Jedes Mal mußte sie eine Strafe von 50 US$ zahlen, und einige Male wurde auch ihre Ausstattung beschlagnahmt. Aber die Anschaffung eines neuen Wagens und einer Gasflasche ist leichter zu verkraften als der Geschäftsausfall.

Die mobilen Händler haben zwar unterschiedliche Werdegänge, aber viele von ihnen, einschließlich Liu, werden aus finanziellen Gründen zu dieser Erwerbstätigkeit gezwungen. Sie eröffnete ihren Stand, nachdem ihr Mann durch einen Autounfall querschnittsgelähmt worden war. Da sie fünf Kinder zu ernähren hatte und sich auf keine Arbeitslosen- oder Behindertenversicherung stützen konnte, mußte sie einen schnellen und relativ einfachen Weg finden, den Lebensunterhalt zu verdienen. Zwar sind vier ihrer Kinder mittlerweile erwachsen und können etwas zum Familieneinkommen beitragen, aber sie ist weiterhin verantwortlich für ihre jüngste Tochter, die am Down's Syndrom leidet, und für ihren immer noch im Krankenhaus liegenden Mann. Ihre Last wird noch dadurch verstärkt, daß sie mit ihrem illegalen Betrieb keine Krankenversicherung oder andere Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann.

Tai Po-fan(戴伯芬), Forscherin am Graduierteninstitut für Bau und Planung an der Nationalen Taiwan-Uruversität, ist der Meinung, daß der Straßenverkauf für viele Familien finanzielle Absicherung bietet, gleichzeitig aber auch eine Schwäche in der Sozialpolitik der Regierung aufzeigt. "Ein unzureichendes Sozialsystem ist der Hauptgrund für Arbeiter der unteren Schicht, in das mobile Imbißgeschäft einzusteigen", sagt sie.

Ein anderer Grund liegt im fehlenden Angebot attraktiver Arbeitsstellen. "Lieber machen viele Arbeiter ihr eigenes Geschäft auf, als sich mit niedriger Bezahlung, langen Arbeitszeiten, mageren Gewinnen und anderen Arten der Ausbeutung abzufinden", sagt Tai. Der Straßenhandel ermöglicht einen flexiblen Zeitplan und die Möglichkeit, selbständig zu sein. Herr Lin, ein 40jähriger Austernnudelverkäufer, stimmt dem zu: "Das Beste bei der Betreibung eines eigenen Imbißstands ist, daß man nicht jeden Tag das griesgrämige Gesicht ei­nes Chefs sieht. Und das Einkommen ist mit Sicherheit höher als in einer normalen Stelle." Zuvor hat Lin als Assistent des Küchenchefs in einem großen Restaurant gearbeitet. Jetzt betreibt er seinen Imbißstand gegenüber einer Jungen-Mittelschule morgens von sechs bis halb zehn Uhr und nachmittags von halb vier bis neun Uhr abends. Zwischen seinen Geschäftszeiten bereitet er das Essen vor und ruht sich aus.

Viele von denen, die im Imbißgeschäft tätig sind, stammen aus ländlichen Gegenden Taiwans. Dazu gehören auch Liu und Lin. Sie kommen auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten in die Stadt und probieren häufig erst einmal eine Reihe von Jobs aus, ehe sie letztendlich einen Wagen kaufen und ihr Geschäft auf der Straße eröffnen. Vielen lassen mangelhafte Ausbildung und fehlende Fähigkeiten keine große Wahl. Laut DGBAS-Zahlen sind 23 Prozent der Straßenhändler in das Geschäft eingestiegen, weil sie für andere Arbeitsstellen nicht qualifiziert waren, und 16 Prozent, weil sie entlassen worden waren. Von dieser Seite aus betrachtet hilft der Straßenhandel denjenigen, die sonst zu gesellschaftlichen Außenseitern in den Städten würden.

Das dreißigjährige Fräulein Wang, das Teemixgetränke auf der Straße verkauft, verließ die im Süden gelegene, ländliche Stadt Tainan nach der Mittelschule. Zunächst hatte sie eine Stelle als Friseuse in Taoyuan, südlich von Taipei. Daraufhin zog sie in der Hoffnung auf eine bes­sere Arbeitsstelle nach Taipei um, mußte jedoch entdecken, daß die einzigen Möglichkeiten im Straßenverkauf lagen. "Was hätte ich denn anderes tun sollen, als ich nach Taipei kam - so weit weg von zu Hause, ohne Dach über dem Kopf, ohne Freunde und ohne richtige Ausbildung?" fragt sie. Wang betreibt ihren Stand von elf Uhr vormittags bis Mitternacht und kann achtzig bis neunzig Becher Tee zu je rund 1,20 US$ verkaufen. Ihr Nettoeinkommen in der Hochsaison liegt bei 1800 US$ pro Monat.

Aber die Imbißbranche ist nicht nur für Leute in finanziellen Nöten oder ohne Arbeitsstelle geeignet. Für viele ist es tatsächlich eine Tätigkeit ihrer Wahl. Die DGBAS-Umfrage ergab, daß sich 45 Prozent der Befragten für den Essensverkauf entschieden hatten, weil er ihnen mehr Selbstbestimmung über ihr Leben gewährte, und zwölf Prozent gaben die hohen Gewinnspannen als Grund an.

Geregelter Arbeitszeiten erfreuen sich viele Imbißstandbetreiber nicht. Sie müssen arbeiten, wenn andere sich vergnügen, wie z.B. auf einem von Taipeis ständigen Nachtmärkten, wo man bis in die frühen Morgenstunden noch seinen lukullischen Gelüsten frönen kann.

Für die elfköpfige Lin-Familie ist die Imbißbranche ein sicheres und einträgliches Geschäft. Vor zirka sieben Jahren beschlossen die älteste Lin-Tochter und ihre beiden Brüder, daß die Betreibung ihrer damaligen Fabrik für Klimaanlagenteile zu viel Ärger bereitete. "Es ist kein Vergnügen, Chef zu sein, wenn deine Angestellten ständig höhere Löhne verlangen", sagt sie. "Aber selbst wenn man sie gut bezahlen kann, ist es noch nicht gesagt, daß man auch immer gelernte Arbeiter findet." Sie hatten weiterhin mit einem ständigen Bargeldproblem zu kämpfen, da nach Taiwans Bankgesetz ein auf das Konto gutgeschriebener Scheck zunächst auf seine Deckung hin überprüft werden muß, ehe über das Geld verfügt werden kann. "Wir konnten das Geld ungefähr drei Monate lang nicht abheben", erzählt Lin. Das Einkommen eines Imbißverkäufers jedoch fließt als Bargeld in die Tasche.

Lin und ihre Brüder eröffneten ihren Imbißstand, der in Wirklichkeit eher ein kleines Restaurant ist, auf dem Bürgersteig hinter dem Tonlin-Kaufhaus auf der Chunghsiao-Oststraße, einer der Hauptverkehrsadern Taipeis. Ihre Kusinen gaben ebenfalls ihre Boutique auf und schlossen sich dem neuen Geschäft an, und auch andere Familienmitglieder begannen mitzuhelfen. Jetzt sind es ihrer zehn, die in zwei Schichten, von 10 Uhr 30 vormittags bis 5 Uhr früh arbeiten, sowie eine Schwester, die zu Hause bleibt, dort anfallende Arbeiten verrichtet und Zutaten vorbereitet. Sie verkaufen Rindfleisch-Nudelsuppe, eingelegte Innereien, Schmorfleisch, Gemüse und zirka dreißig weitere Gerichte. Neben ihrer Anfangsinvestition haben sie 4000 US$ für die Erweiterung, d.h. für die Installation von Spülbecken, einen Herd, Gastanks, Tische und Stühle ausgegeben. Das Geschäft bringt täglich rund 2000 US$ ein; der Nettoverdienst liegt zwischen 35 und 40 Prozent.

Um sich Konkurrenten vom Leib zu halten, hat Lin auch das Erdgeschoß im Gebäude neben ihrem Standort gemietet und vermietet es an ein Spielautomatenunternehmen weiter. Einmal versuchten die Lins, ihr Imbißrestaurant in das Erdgeschoß nebenan zu verlegen, aber der Umsatz ging sofort schlagartig zurück. "Die Kunden sagten, ihnen würde die besondere Atmosphäre, auf der Straße zu essen, fehlen", erzählt die älteste Lin-Schwester.

Auch wenn die Lins keine Betreiberlizenz besitzen, kann man sie nicht zu den mobilen Händlern rechnen, da sie am gleichen Ort bleiben. Nach Geschäftsschluß schließen sie einfach alles ab und lassen es auf dem Gehsteig stehen. Sie wurden einige Male von der Polizei zur Kasse gebeten und mußten jeweils rund hundert US-Dollar zahlen, aber dadurch, daß sie so lange am gleichen Ort sind, sind sie gewissermaßen legitim. "Wir sind schon eine ganze Weile hier", sagt der jüngere Lin-Bruder. "Die Polizei wird uns nicht vertreiben." Und selbst wenn das jemals passieren sollte, dann nehmen die Lins es nicht so tragisch. Die älteste Schwester sagt zuversichtlich: "Wir machen das Geschäft einfach für eine Weile zu."

Für die meisten Imbißverkäufer ist die Polizei nur ein geringfügiges Übel. Für solche wie Teeverkäuferin Wang, die einen mobilen Wagen haben, mit dem man sich rasch aus dem Staub machen kann, ist die Polizei nur eine Frage der Wachsamkeit. "Sobald ich eine blaue Uniform sehe, laufe ich", sagt sie. Andere haben ausgefeiltere Strategien, wie ein Imbißstandbesitzer, der hinter dem Mingyao-Kaufhaus Nudeln und Ente verkauft, erzählt. "Sie richten ihren Stand gerade auf der Grenze zwischen zwei oder drei Polizeirevieren ein", erklärt er. "Wenn ein Polizist kommt, wandern sie mit ihrem Stand einfach über die Grenze in das andere Revier."

Viele Straßenhändler halten die Polizei auf Abstand, indem sie sich großen Gruppen anschließen, die als sogenannte "mobile Nachtmärkte" bekannt sind. Laut Tai Po-fan, die im letzten Jahr eine Arbeit über die Imbißverkäufer schrieb, läßt sich dieses Phänomen bis in die späten siebziger Jahre zurückverfolgen. Es können einhundert oder zweihundert Straßenverkäufer sein, die gemeinsam jeden Abend an einen anderen Ort ziehen, wobei die Sachen auf privaten Kleintransportern oder Lkws befördert werden. Sie folgen gewöhnlich einer festgelegten Reiseroute, die sie zirka alle acht Tage an den gleichen Ort bringt. Viele dieser Gruppen betreiben ihren Verkauf in kleinen Städten, doch es gibt auch acht von ihnen in Taipeis Vorstädten.

Ein Händler kann sich jederzeit einer solchen Gruppe anschließen, indem er einfach die abendliche Gebühr von drei US-Dollar bezahlt. Die Anführer der Gruppen verwenden das Geld, um neue Orte auszukundschaften, Wasser- und Stromversorgung zu organisieren, Werbung zu machen und manchmal auch, um Bestechungsgelder zu zahlen. Sie werden möglicherweise der Polizei und auch Verwaltungsbeamten Geschenke machen, um sich mit den Behörden gut zu stellen. Wenn die Polizei eine Razzia durchführt, werden die Anführer als Vermittler der Standbesitzer auftreten. Die Führer müssen auch ab und zu die Anführer von lokalen Unterweltgangs zum Essen und Trinken einladen - als Zeichen dafür, daß die Händler wissen, in wessen Territorium sie sich aufhalten.

Einige der mobilen Nachtmärkte sind bestens durchorganisiert und haben rund ein Dutzend Kernmitglieder, die über die Aufrechterhaltung des Verkehrsbetriebs wachen, die Verständigung unter den einzelnen Händlern fördern und die Benutzung von Lautsprecheranlagen sowie die nächtliche Aufräumaktion überwachen. Nach Meinung von Tai hängt der Erfolg jedoch weniger von der selbstauferlegten Disziplin einer Gruppe als vielmehr von den Beziehungen der Anführer zu den Verwaltungsbeamten und Polizisten ab.

Das Schlimmste, was den Straßenhändlern passieren kann, wenn sie wirklich einmal bei einer Polizeirazzia erwischt werden, ist die Konfiszierung ihrer Ausstattung. Hin und wieder kommt es vor, daß die Polizei mit einem Lastwagen die Straßen entlangfährt und alles einpackt, obwohl sie aus praktischen Gründen keine Lebensmittel mitnehmen darf. Aber diese Praxis bringt normalerweise Ärger mit sich. "Die Händler beschuldigen die Polizei häufig der unlauteren Beschlagnahmung, und es kommt zu Handgreiflichkeiten", erzählt der Soziologe Yu Shuenn-der(余舜德), der seit zwei Jahren eine Studie über den Straßenverkauf durchführt. "Weil die Polizei Konfrontationen vermeiden will, greift sie nur ungerne zur Maßnahme der Konfiszierung." Stattdessen klagen sie die Händler wegen Verkehrsbehinderung an und lassen sie eine geringe Geldstrafe zahlen.

Die Polizei ist außerdem so nachlässig in der Strafverfolgung, weil die Zahl der Straßenhändler, mit denen sie sich abgeben muß, so riesig ist. Vor al­lem in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Händler in die Höhe geschossen. Im letzten vom DGBAS mit Zahlen belegten Zeitraum von 1982 bis 1988 hat sich die Zahl der Imbißstände in ganz Taiwan fast verdoppelt, d.h. ist auf 174 000 angestiegen. Rechnet man zu dieser Zahl die Straßenverkaufsstände, die Kleider oder andere Waren feilbieten, hinzu, ergibt sich eine Gesamtzahl von 234 000, was mindestens ein Viertel der gesamten Einzelhandelsunternehmen ist.

Die steigende Zahl der Straßenverkäufer hat auch zu wachsendem Unmut bei der Bevölkerung geführt. Die Leute beschweren sich, daß diese Händler oftmals die Gehsteige und manchmal sogar ganze Straßen blockieren und daß sie Taipeis Verkehrs-, Müll- und Lärmproblem verschlimmern. Ordentliche Geschäftsbesitzer beschweren sich, daß sie ihnen die Kunden wegschnappen, und einige Geschäftsleute sagen, daß die Leichtigkeit, mit dem man seinen eigenen mobilen Stand aufziehen kann, zum Mangel an Arbeitern hierzulande beiträgt. Und einige bringen sogar das Argument vor, daß der Straßenverkauf hilft, das Arbeitslosenproblem zu erleichtern. Auch Yu Shuenn-der weist darauf hin, daß der Straßenverkauf eines Tages seine Funktion als wirtschaftliches Sicherheitsventil für benachteiligte Gesellschaftsgruppen verlieren wird, weil immer mehr Stadtbürger in das Straßengeschäft einsteigen, einfach weil sie damit mehr Geld verdienen können.

Aber die Regierung scheint der Verfolgung der illegalen Straßenverkäufer immer noch keine besondere Wichtigkeit beizumessen. Trotz der Probleme, die sie verursachen - und der verlorenen Steuereinnahmen - würden Regierungsbeamte noch größere Kopfschmerzen davontragen, wenn sie versuchten, das Straßengeschäft abzuschaffen. "Das grundlegende Problem ist, daß die Verantwortlichen gegenüber der Existenz der Straßenverkäufer eine ambivalente Haltung einnehmen", sagt Yu. Aber die Öffentlichkeit ist ebenfalls unentschlossen. Obwohl sie sich einerseits über die Straßenhändler beschweren, sind sie andererseits deren beste Kunden. Betrachtet man es nüchtern, kann man nämlich schlecht leugnen, daß die mobilen Imbißverkäufer der Öffentlichkeit einen praktischen und köstlichen Dienst erweisen.

(Deutsch von Jessika Steckenborn)

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