Noch vor zehn Jahren war es in den Vereinigten Staaten für jeden an einer Forschungsarbeit über Taiwan Interessierten schwierig, genug wissenschaftliche Publikationen als Material für sein Thema zu finden. Heute stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Ein amerikanischer Wissenschaftler sprach von einer seit 1985 stattfindenden "Explosion" englischsprachiger Bücher, die sich entweder ausschließlich oder im Rahmen vergleichender Studien mit Taiwan beschäftigen. "Wenn man in Amerika das Stichwortverzeichnis einer Bibliothek durchgeht und unter 'Taiwan' nachschaut, wird man nur wenige Arbeiten finden, die vor den achtziger Jahren veröffentlicht wurden", sagt der Politologe Alan Wachman. "Mittlerweile gibt es viele solcher Arbeiten, wovon die meisten erst kürzlich erschienen sind."
Diese "Explosion" auf dem Gebiet von Büchern und wissenschaftlichen Artikeln spiegelt offensichtlich ein neues Interesse unter Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen an Studien zu Taiwan wider. Obwohl sich die meisten Sinologen noch an Festlandchina als ihr primäres Forschungsgebiet halten, verwenden immer mehr unter ihnen Mühe darauf, Taiwan in ihr Bild von China und seiner Kultur einzupassen. Und für eine kleine, aber wachsende Anzahl werden Taiwan-Studien sogar zu einem sinnvollen und legitimen Forschungsfeld eigener Art.
Wachman gehört zu den neuen Gelehrten, die sich Taiwan zugewandt haben. Er dissertierte 1992 an der Harvard-Universität über Taiwans Demokratisierungsbewegung seit den achtziger Jahren. Aber das Interesse an Taiwan ist nicht auf Akademiker der jüngeren Generation oder Doktorarbeiten beschränkt. Etablierte Wissenschaftler und renommierte Publikationsorgane nehmen ebenfalls von der Insel Notiz. The New York Review of Books veröffentlichte 1992 in ihrer Oktoberausgabe eine Rezension von sechs neuen Büchern über Taiwan. Die fünfseitige Analyse von Jonathan Spence, einem der gegenwärtig führenden China-Kenner, beschäftigte sich mit Büchern verschiedenster Thematik, die sich aber alle um das drehten, was Spence das "andere China" nannte.
Andere Wissenschaftler, die ihr Augenmerk schon seit geraumer Zeit auf Taiwan gerichtet haben, finden durch die neue Exponiertheit ihres Arbeitsgebiets nun mehr Forschungsmöglichkeiten. Einer von ihnen ist Murray Rubinstein, der am Baruch-College der City-Universität von New York (Baruch/CUNY) chinesische Geschichte lehrt und über Volksreligionen in Taiwan forscht. Jetzt kann er jährlich mit finanzieller Unterstützung eines Instituts nach Taiwan fahren. "Ich will nicht nur alte chinesische Volksreligionen verstehen, sondern auch die Volksreligion der Menschen im modernen Taiwan", umreißt er sein Interesse. "Der Ursprung liegt auf dem Festland in der Provinz Fukien."
Das Interesse an Taiwan wird sogar institutionalisiert und führte zur Gründung verschiedener akademischer Vereinigungen. Unter ihnen befinden sich als Teil der Gesellschaft für Asien-Studien (Association for Asian Studies) die Taiwan-Studien-Gruppe (Taiwan Studies Group) und die von der Vereinigung amerikanischer Politologen (American Political Science Association) gegründete Konferenzgruppe Taiwan-Studien (Conference Group on Taiwan Studies). Die jüngste solcher Studiengruppen ist der Taiwan-Studien-Workshop (Taiwan Studies Workshop, TSW), der vor zwei Jahren am John-King-Fairbank-Zentrum für Ostasienforschung (John King Fairbank Center for East Asian Research) in Harvard gegründet wurde. Es handelt sich um den ersten institutionalisierten Zusammenschluß, der sich seit der Gründung des Zentrums im Jahre 1955 mit Taiwan beschäftigt. "Wir haben in Harvard eine wachsende Anzahl von Studenten, die sich für Taiwan und die Beziehungen zwischen Taiwan und Festlandchina interessieren", sagt der Direktor des TSW, William Kirby. "Aber es gab lange keine Einrichtungen oder Kurse, die diese Thematik behandelt hätten."
Der Harvard-Workshop findet einmal im Monat statt, wobei ein Gastredner zunächst ein Referat zu einem Taiwanspezifischen Thema hält. Einer der Referenten war Rubinstein, der über heutige religiöse Pilgerfahrten von Taiwan in die Provinz Fukien sprach. Die Teilnehmer des Workshops können das Papier vorher lesen und es dann in verschiedenen Sitzungen diskutieren. "Die Vorträge werden später veröffentlicht, um neue Untersuchungen und einen echten akademischen Austausch anzuregen", erläutert Kirby.
Kirby, der ein renommierter Historiker ist, nahm letzten September in Taipei an der Konferenz über historisches Material zur Geschichte Taiwans (Conference on Historical Materials on Taiwan History) teil, die von der historischen Fakultät der Nationalen Taiwan-Universität (National Taiwan University) veranstaltet worden war. Er ist einer von vielen amerikanischen Wissenschaftlern, die innerhalb der letzten zehn Jahre im Rahmen wissenschaftlicher Austauschprogramme oder Konferenzen auf die Insel eingeladen wurden.
Warum beschäftigt sich die akademische Gemeinschaft in Amerika nun in so viel stärkerem Maße mit der kleinen Insel Taiwan? Ein Hauptgrund sind die vielen Veränderungen, die sich seit den achtziger Jahren auf Taiwan abgespielt haben. Unter diesen ist vor allem die eindrucksvolle ökonomische Entwicklung zu nennen, die Mitte der achtziger Jahre richtig in Gang kam und Taiwan die weltweit zweitgrößten Devisenreserven verschaffte. "Es war, als hätte Taiwan nicht existiert, bevor es reich wurde", blickt Wachman zurück.
Aber gerade als auf der Insel eine Wohlstandsgesellschaft entstand, begann auch ihre Entwicklung hin zu einer Demokratie. Nicht mehr nur die Kuomintang (KMT) dominierte die Politik auf der Insel, wie sie es 40 Jahre lang getan hatte, sondern Oppositionsparteien begannen, eine aktive und einflußreiche Rolle im politischen Entscheidungsprozeß zu spielen. "Diese zwei Faktoren rückten Taiwan ins Blickfeld akademischer Untersuchungen über China", sagt Michael Ying-mao Kau(高英茂), Politologieprofessor an der Brown-Universität.
Laut Kau und anderen Wissenschaftlern in den Vereinigten Staaten waren viele Akademiker, die zuvor kein Interesse an Taiwan hatten, erstaunt über die Art, wie sich die Insel entwickelt hatte. Ein solch beeindruckendes Wachstum war von keiner anderen kleinen Ökonomie bekannt, die lange von äußerer Kontrolle und fremder Hilfe abhängig gewesen war. Der Vorsitzende des Zentrums für Chinastudien (Center for Chinese Studies) an der Universität von Kalifornien in Berkeley, der Soziologe Thomas Gold, erklärt es folgendermaßen: "Taiwans ökonomische Entwicklung paßt einfach nicht in Theorien über die Wirtschaftsentwicklung von Dritte-Welt-Ländern."
Gold war wahrscheinlich der erste, der der Welt mit seinem 1986 veröffentlichten Buch State & Society in the Taiwan Miracle (Staat und Gesellschaft im Taiwan-Wunder) Taiwans einzigartige Erfahrung zugänglich machte. Der Grund, warum Taiwan nicht in die üblichen Modelle paßte, war seiner Meinung nach, daß viele in den sechziger und siebziger Jahren verbreitete Entwicklungstheorien von marxistischen und leninistischen Ideen beeinflußt waren. Diese Theorien behaupteten, daß Dritte-Welt-Länder sich weder ökonomisch noch demokratisch entwickeln könnten, weil sie vom westlichen Imperialismus niedergehalten würden. "Aber auf Taiwan entwickelte sich die Wirtschaft gleichzeitig mit politischen Veränderungen äußerst schnell", konstatiert Gold. "Viele Wissenschaftler stellten sich daher die Frage: 'Warum?'"
Der Politologieprofessor Andrew Nathan sagt, daß sein Interesse an Taiwan erst 1986 mit der fortschreitenden Demokratisierung auf der Insel geweckt wurde.
Angeregt durch diese dramatischen Veränderungen in Taiwan, begannen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre einige China-Experten, Taiwan in ihre Untersuchungen einzubeziehen. Andrew Nathan, Politologieprofessor und Leiter des Ostasieninstituts an der Columbia-Universität, gesteht, daß sein Interesse an Taiwan erst 1986, als der Demokratisierungsprozeß Fortschritte machte, geweckt wurde. Sein Interesse hat sich mittlerweile auf die wachsende Beziehung zwischen Taiwan und Festlandchina ausgedehnt, die er als "subtil" bezeichnet. Andere Wissenschaftler fühlten sich von Taiwans technologischer Entwicklung angezogen; unter ihnen befindet sich Denis Fred Simon, Leiter des Zentrums für Technologie und Internationale Beziehungen (Center for Technology and International Affairs) am Fletcher-Institut für Recht und Diplomatie (Fletcher School of Law & Diplomacy) der Tufts-Universität.
Taiwans Entwicklung ist auch als Vergleichsmodell für Untersuchungen in anderen Entwicklungsregionen interessant. Golds Darlegungen über Taiwans sozioökonomische Entwicklung veranlaßten einen Lateinamerika-Experten in Berkeley, seine vergleichenden Studien auszuweiten. "Jetzt untersucht er nicht nur Taiwan", sagt Gold, "sondern auch andere Gegenden in Asien, wie Korea, Hongkong und Singapur."
Ein weiterer Grund für das neue Interesse an Taiwan-Studien ist eine allgemein veränderte Haltung gegenüber sowohl Taiwan als auch Festlandchina. Früher flößte der enorme Einfluß des Festlandes vielen Gelehrten Respekt ein. Sie akzeptierten auch die Sicht des Festlandes, wonach Taiwan lediglich ein Teil Chinas ist. Michael Kau erklärt es so: "Viele Amerikaner hielten Taiwan einfach für zu klein, um irgendeine, verglichen mit dem großen China, relevante Macht auszuüben."
Andere Gelehrte sehen einen direkten Zusammenhang zwischen Taiwan-Studien und den vorherrschenden politischen Anschauungen. "Amerikanische China-Forscher werden stark von Politik beeinflußt", meint Alan Wachman. Während der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre waren Taiwan-Studien politisch - und daher auch akademisch - unakzeptabel. Amerikanische Intellektuelle waren im allgemeinen vom kommunistischen China begeistert und betrachteten die KMT als eine korrupte Regierung. Gold erinnert sich noch der ironischen Kommentare, die er damals von Kollegen für seine Beschäftigung mit Taiwan einstecken mußte. "Taiwan zu untersuchen, galt als akademischer Selbstmord", blickt er zurück. "Innerhalb der Forschergemeinschaft wurde man als verrückter Außenseiter betrachtet. Wer sich mit Taiwan beschäftigte, galt meist als Rechtsextremist, wahrscheinlich von der KMT bezahlt, oder als Propagandist der Regierung auf Taiwan."
Vor 1980 bot die US-Regierung auch eher Anreize für Untersuchungen über das kommunistische China als über Taiwan. Zum Beispiel rief die Regierung zur Bereitstellung von Forschungsgeldern in den sechziger Jahren das Komitee für geistigen Austausch mit der Volksrepublik China (Committee for Scholarly Communication with the PRC, CSCP) ins Leben, das später in das Komitee für geistigen Austausch mit China (Committee for Scholarly Communication with China, CSCC) umbenannt wurde. "Sämtliche (vom CSCP finanzierten) Studien über China wurden im Namen nationaler Verteidigungsinteressen getätigt", führt Michael Kau aus, "da China und die Sowjetunion eine Bedrohung für Amerika darstellten."
Aber da das Festland der Außenwelt nur schwer zugänglich war, benutzten selbst in jener Zeit viele amerikanische oder europäische Wissenschaftler Taiwan als Ausgangspunkt für ihre Studien über Festlandchina und die chinesische Kultur. Viele von ihnen studierten am Gemeinschaftlichen Universitätsprogramm für chinesische Sprachstudien (Inter-University Program for Chinese Language Studies) in Taipei, das 1963 von der Stanford-Universität gegründet worden war. Andere machten Untersuchungen oder betrieben Feldforschung in Taiwan, einfach weil sie keinen Zugang zum Festland hatten. "Sie hielten Forschungen in Taiwan nicht für das Verständnis von Taiwan selbst relevant, sondern für das Verständnis des traditionellen China", erklärt der Anthropologe Myron Cohen von der Columbia-Universität. "Indem sie sich auf chinesische Traditionen in Taiwan konzentrierten, glaubten sie, etwas über China als Ganzes sagen zu können."
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen bekannter Untersuchungen dieser Art. Der Stanford-Anthropologe Arthur Wolf zum Beispiel benutzte Taiwan für Studien über die traditionelle chinesische Familie und Heiratsbräuche. Taiwan war auch Ausgangsbasis für Rubinstein, der auf die Insel kam, um Informationen über die Entwicklung des chinesischen Christentum zu sammeln. Und Andrew Nathan unternahm seine Materialforschungen für eine Dissertation über Regierungen von 1910 bis 1930 im China der warlord-Zeit ebenfalls in Taiwan. "Hätte ich gekonnt, wäre ich für meine Studien sicher auf das Festland statt nach Taiwan gegangen", erklärt er.
Taiwan spielte mehr als zwanzig Jahre lang den Lückenbüßer für Festlandchina. 1979 nahmen Washington und Peking offiziell Beziehungen auf, wodurch es für Wissenschaftler möglich wurde, Studien in Peking, Nanking, Schanghai und Xian anzustellen. Daraufhin ging die Zahl der in Taiwan forschenden Amerikaner drastisch zurück. Die Insel verblaßte in US-amerikanischen Akademikerkreisen zu einem Schattendasein. Das blieb 15 Jahre lang so, bis ihre ökonomische und politische Verwandlung dann Mitte der achtziger Jahre die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf sich zog.
Aber sobald die amerikanischen Wissenschaftler einmal auf das Festland konnten, ließ die anfängliche Begeisterung schnell nach. Einige entdeckten eine Diskrepanz zwischen ihren Theorien und der Realität des kommunistischen Systems in China. Die Ereignisse von 1989 auf dem Tiananmen-Platz taten ein Übriges zur allgemeinen Ernüchterung. "Der Vorfall verdeutlichte den Kontrast zwischen dem Festland und Taiwan zu einer Zeit, als Amerikaner aufgrund der demokratischen Bewegung in Taiwan ihre Ansichten über die Insel zu ändern begannen", führt Thomas Metzger aus, der als postgraduierter Forschungsstipendiat am Hoover-Institut der Stanford-Universität arbeitet. Ramon Myers, wissenschaftlicher Leiter der Ostasien-Sammlung des Instituts, glaubt auch, daß der Tiananmen-Zwischenfall zum Aufschwung der Taiwan-Studien in jüngster Zeit beigetragen hat.
Veränderungen in Taiwans politischem Klima verschafften Gelehrten größere Freiheit bei Studien über die Insel. Jene, die vielleicht auch zuvor interessiert gewesen wären, waren auf zu viele politisch heikle Themen gestoßen. Das ist auch der Grund, warum viele der vor 1980 in Taiwan angestellten Untersuchungen in den weniger kontroversen Bereichen der Anthropologie stattfanden. "In den siebziger Jahren mußte man aufpassen, was man sagte", erklärt Rubinstein. "Und man hatte immer das Gefühl, beobachtet zu werden." Als der Harvard-Politologieprofessor William Kirby in den siebziger Jahren seine Dissertation in Taipei schrieb, erhielt er mehrfach unangekündigten Besuch von Leuten, die sich als Polizisten ausgaben und großes Interesse für seine Arbeit in Taiwan vorgaben. "Aber ihr Englisch war für taiwanesische Polizisten zu gut", meint er lachend.
Zu jener Zeit wäre es auch für Edwin Winckler, einen Forschungsstipendiaten am Ostasien-Institut der Columbia-Universität, äußerst schwierig gewesen, Informationen für seine Studie über Taiwans politische Entwicklung, einschließlich Informationen über die Opposition, zu bekommen. "In den siebziger Jahren", sagt er, "konnte ich mit niemandem über Taiwan reden, da es keine taiwanesischen Politologen gab, die die Freiheit gehabt hätten, irgendetwas zu äußern."
Diese Zustände fanden 1987 mit der Aufhebung des Kriegsrechts und dem darauffolgenden Demokratisierungsprozeß ihr Ende. Ein gutes Beispiel für die stattgehabten Veränderungen stellen Untersuchungen über den Zwischenfall vom 28. Februar 1947 dar, als die vom Festland auf die Insel gekommenen nationalchinesischen Truppen mit der einheimischen chinesischen Bevölkerung zusammenprallten, woraufhin etliche Menschen exekutiert oder inhaftiert wurden. Über viele Jahre waren Untersuchungen oder auch nur Diskussionen des sogenannten 2-28-Zwischenfalls verboten, besonders hinsichtlich der Zahl der von den nationalchinesischen Truppen umgebrachten Menschen. Erst kürzlich gestattete die Regierung der Republik China Wissenschaftlern erstmals Einblick in Dokumente zu dem Vorfall; und bis vor kurzem wäre es auch nicht möglich gewesen, daß die aus Taiwan stammende Fu-mei Chang Chen(陳張富美), eine Forschungsstipendiatin am Hoover-Institut, ihre Untersuchung zu dem Vorfall in Taiwan unter ihrem richtigen Namen veröffentlicht hätte.
Kirby, der nicht glaubt, daß er im heutigen Taiwan wieder von "Polizei" besucht würde, wüßte nicht, welches Thema noch zu heikel sein könnte, um von Wissenschaftlern angegangen zu werden. Einige Forscher haben inzwischen Untersuchungen, die früher unter ungünstigeren Umständen angestellt worden waren, vervollständigen können. Hill Gates, eine Anthropologie-Professorin an der Stanford-Universität, begann in den sechziger Jahren Untersuchungen über kleine Gemeinschaften und Gemeinden in Taiwan. Sie sagt, daß viele Regierungsmaßnahmen auf Gemeindeebene viel klarer geworden seien, seit die Menschen sich in Taiwan frei äußern können.
Auch Andrew Nathan von der Columbia-Universität findet, daß es wesentlich einfacher geworden ist, Studienmaterial zu sammeln. "Jetzt kann man in fast allen Regierungsarchiven oder -bibliotheken Informationen bekommen", erklärt er. Thomas Gold hat das veränderte Klima ausgenutzt und hunderte von Interviews über den Wandel der Sozialstruktur als Folge politischer und ökonomischer Veränderungen auf der Insel geführt. "Taiwan hat mittlerweile den Ruf einer leicht zugänglichen Informationsquelle für wissenschaftliche Untersuchungen", sagt er.
Auch in amerikanischen Universitätsbibliotheken sind Informationen über Taiwan leichter verfügbar. Dazu gehören chinesischsprachige Zeitungen und Zeitschriften (sowohl in den USA als auch in Taiwan veröffentlichte), Bildarchive, Landkarten und sogar Regierungsdokumente der Republik China. Harvard rühmt sich, mehr als dreihundert in Taiwan herausgegebene Zeitungen zu führen. Und Ramon Myers behauptet, das Hoover-Institut der Stanford-Universität habe die kompletteste Sammlung von Daten über Taiwan von der Ming-Dynastie (1386-1644) bis zur Gegenwart. Mit Hilfe der Forschungsstipendiatin Fu-mei Chang Chen sammelte das Institut zahlreiche Grundbesitz-, Heirats- und Adoptionsurkunden aus der Ching-Dynastie (1644-1911). Chen hat auch Daten zum 2-28-Zwischenfall gesammelt.
Ein Hauptgrund für den Zuwachs an Informationen über Taiwan sind die Bemühungen der Insel selbst, Taiwan-Studien zu fördern. Tatsächlich war ein Hauptanreiz für Akademiker, Untersuchungen auf diesem Gebiet anzustrengen, der deutliche Zuwachs an Geldern aus taiwanesischen Quellen, vor allem von der Chiang-Ching-kuo-Stiftung für internationalen wissenschaftlichen Austausch (Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange). Die Republik China hat außerdem in acht größeren amerikanischen Städten Informationsbüros eingerichtet, um Studenten und Wissenschaftlern bei ihren Forschungen zu helfen. Edwin Winckler gehört zu denen, die über die Einrichtung der Bibliothek des Chinesischen Informations- und Kulturzentrums (Chinese Information and Culture Center Library) in New York erfreut sind. "Das hätte die Regierung der Republik China schon vor langer Zeit tun sollen", sagt er.
Dennoch halten viele Forschungstreibenden die auf englisch zugänglichen Informationen über Taiwan immer noch für unzureichend. Winckler bemängelt, daß die Bibliothek der Republik China in New York, obwohl sie eine wertvolle Materialquelle sei, nicht alle Zeitungen oder größeren Zeitschriften aus Taiwan führt und keine zulänglichen Informationen über die oppositionelle Demokratische Fortschrittspartei (Democratic Progressive Party, DPP) bereitstellt. Andere würden gerne mehr englische Übersetzungen von Berichten und Büchern taiwanesischer Gelehrter sehen. Obwohl viele amerikanische China-Forscher Chinesisch lesen können, ziehen sie Materialien in ihrer eigenen Sprache vor. Thomas Gold schlägt daher vor, daß taiwanesische Wissenschaftler mit amerikanischen Verlegern wie M.E. Sharpe, der bereits eine Reihe von Büchern zu Taiwan veröffentlicht hat, zusammenarbeiten.
Auch wenn es in den letzten Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Taiwan-Studien gegeben hat, ist es immer noch ein weiter Weg zur Erlangung eines legitimen Status in der internationalen akademischen Gemeinschaft. Nur wenige amerikanische Gelehrte konzentrieren sich auf Taiwan, und nur wenige graduierte Studenten schreiben ihre Dissertationen über Taiwan. Auch die Sprache ist ein Hinderungsgrund für China-Forscher, sich mit Taiwan zu beschäftigen. "Wir brauchen mehr Wissenschaftler, die nicht nur Mandarin-Chinesisch, sondern auch Taiwanesisch sprechen können", sagt William Kirby vom Taiwan-Studien-Workshop. "Wenn man mehr über Taiwan erfahren will, sollte man besser den lokalen Dialekt sprechen."
Winckler weist darauf hin, daß die meisten China-Experten immer noch die alte Einstellung haben, daß Taiwan an sich nicht viel Aufmerksamkeit verdient. Warum? "Wegen des Groß-China-Chauvinismus", sagt er. "Sie wollen nicht aufwachen." Aber selbst Winckler glaubt, daß die Notwendigkeit für mehr Aufmerksamkeit auf Taiwan nicht die Einrichtung eines eigenen Forschungsgebiets außerhalb des breiteren Rahmens von China-Studien bedeutet. "Den Begriff 'Taiwan-Studien' sollte es überhaupt nicht geben", meint er.
Die Konzentration auf Taiwan-Studien öffnet nur wenigen Akademikern Karrieremöglichkeiten. "Die meisten Universitäten können es sich nicht leisten, eine Professur ausschließlich für Taiwan einzurichten", erklärt Alan Wachman. "Hinsichtlich des Berufsbildes macht eine Identität als Taiwan-Experte keinen Sinn. Man muß sich immer noch als China-Wissenschaftler ausweisen." Statt zu lehren, ist Wachman jetzt in der Leitung des auf dem Festland eingerichteten Hopkins-Nanking-Zentrums tätig, eines gemeinsamen Projekts der Schule für Fortgeschrittene Internationale Studien (School of Advanced International Studies) der John-Hopkins-Universität und der Nanking-Universität.
Andere Wissenschaftler sind nicht so pessimistisch. Michael Ying-mao Kau glaubt, daß sich Gelehrte mit einer Konzentration auf Taiwan-Studien über Wasser halten können. "Nur der Blickwinkel und die Lehrperspektive müssen breiter werden", sagt er. Thomas Gold zum Beispiel hat sich in den Vereinigten Staaten einen Namen als Taiwan-Experte machen können. Da er aber der einzige China-Experte der soziologischen Fakultät der Universität Berkeley ist, muß er für ein breiteres Themenspektrum offenbleiben. Seine Kurse beschäftigen sich nur teilweise mit Taiwan. "Wir hätten Personalschwierigkeiten, wenn wir Kurse ausschließlich zu Taiwan anbieten wollten", erklärt er.
Murray Rubinstein hingegen hat das Glück, von Baruch/CUNY finanziell unterstützt zu werden, so daß er seine Studien über Taiwan fortsetzen kann; dennoch zieht er es vor, sich "in erster Linie als Historiker Chinas" zu beschreiben.
Aber selbst wenn es für Taiwan noch schwer ist, einen eigenen Platz in der akademischen Welt zu finden, erkennen viele Wissenschaftler die Notwendigkeit an, die Insel in ihre allgemeineren Studien über Festlandchina einzubeziehen. Der wachsende Einfluß der Insel sowohl in Festlandchina als auch in der gesamten asiatischen Region, zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. "Es gibt immer mehr ökonomische, politische und kulturelle Verbindungen zwischen Taiwan und Festlandchina", konstatiert Andrew Nathan. "Selbst wenn man sich nicht für Taiwan interessiert, sollte man etwas darüber wissen, da das Festland von Taiwan beeinflußt wird."
Michael Ying-mao Kau hält es für immer nötiger, Taiwan in vergleichende Studien mit dem Rest Asiens oder auch nur Südostasiens einzubeziehen. Er weist darauf hin, daß Taiwan durch den außerordentlichen Umfang seiner Investitionen in Indonesien, Thailand und Vietnam zu einem wichtigen Akteur in einer immer wichtiger werdenden Region geworden ist. "Was in diesem Teil der Welt geschieht, wird zunehmend wichtig für die ganze Welt", meint er.
Und natürlich ist es für Taiwan selbst wichtig, eine erkennbare Rolle in der Welt der Gelehrsamkeit einzunehmen, wenn es weitergehende internationale politische Anerkennung finden will. Ein Interesse an Taiwan-Studien könnte der Insel bei seinen Bemühungen helfen, Mitglied der Vereinten Nationen, von GATT und anderen weltweiten Organisationen zu werden. Tatsächlich ähnelt Taiwans unbestimmter diplomatischer Status der Situation der Taiwan-Studien in vielerlei Hinsicht. "Taiwan ist ökonomisch wichtig", sagt Kau, "aber auf der geistigen Karte der akademischen Welt ist es immer noch nicht verzeichnet."
(Deutsch von Christian Unverzagt)