Möglicherweise ist die Hoffnung auf ein Gelingen größer als die Wahrscheinlichkeit bei den Bemühungen der diversen "China", mittels Investitionen, Handel und Gefühl eine Brücke zwischen Geschichte und Politik zu bauen. Es lassen sich nicht nur drei China (Festlandchina, Taiwan und Hongkong) oder gar vier unter Hinzunahme von Singapur finden, sondern man kann sogar fünf China zählen, wenn man die südostasiatische Diaspora hinzurechnet. Obwohl letztere keine politische Macht hat, ist sie zu einer fast ebenso wichtigen Finanzquelle für Festlandchina geworden wie Hongkong und Taiwan.
Die genannten fünf China werden in dem herrlich vagen Begriff "Großchina" zusammengefaßt. Je nachdem, wer den Begriff in welchem Zusammenhang gebraucht, kann er Ausdruck von Patriotismus und ethnischer Solidarität sein; eine wirtschaftliche Entität beschreiben, die zum weltweit dynamischsten Markt werden könnte; oder die chinesische Nachfolge der großen ostasiatischen, kooperativen Wohlstandszone Japans bezeichnen, die sowohl militärisch als auch kommerziell eine Bedrohung zunächst für Südostasien darstellen und dann auch Japan und die USA erzittern lassen würde.
Bescheidener und realistischer ausgedrückt, bezeichnet Großchina das von Taiwan, Hongkong und dem südchinesischen Küstengebiet gebildete Dreieck. Wie weithin bekannt ist, besteht dieses symbiotische Dreieck bereits. Taiwans und Hongkongs Investitionen sowie ihr Know-how über Herstellung und Exportmärkte haben den Wirtschaftsaufschwung der Küstenprovinzen bestimmt. Die Küstenprovinzen haben durch ihr Beispiel und durch Bereitstellung einer riesigen Devisenmenge für das ganze Land die Öffnung des Festlandes gegenüber dem Ausland unterstützt, und ihre anschauliche Darstellung der Vorzüge einer Marktwirtschaft beschleunigte die wirtschaftlichen Reformen in Festlandchina.
Der Vorgang war auch von direktem Nutzen für Hongkong und besonders für Taiwan. Taiwans Produzenten konnten den Lohnanstieg im eigenen Land und den starken NT-Dollar in den letzten Jahren ausgleichen, indem sie ihre arbeitsintensive Produktion auslagerten. Diese Vorgehensweise hat sie aber nicht davor bewahrt, sich allmählich um bessere Produkte und höhere Produktivität bemühen zu müssen. Hongkong wiederum hat seine Herstellungsindustrien an andere Standorte verlegt und sie durch Unternehmen der Dienstleistungsbranche ersetzt, deren Geschäfte durch den Handel mit Festlandchina blühen. Allerdings sind viele der Unternehmen in dieser Branche qualitativ nicht besser als die Herstellungsbetriebe, die sie ersetzt haben.
Das Handelswachstum war bemerkenswert; jedoch wird es mitunter übertrieben dargestellt, wenn man berücksichtigt, daß der durch den Arbeitsprozeß auf dem Festland zugefügte Mehrwert oft sehr niedrig ist. Bei Waren, für die das Festland lediglich die Produktionsanlagen und Arbeitskräfte stellt, macht er schätzungsweise nicht mehr als dreißig Prozent des Exportwertes aus. Der Handelsumfang wird auch durch Mehrfachzählung desselben Produkts aufgebläht. Zum Beispiel werden Fertigungsteile von Taiwan über Hongkong zum Festland gebracht, dort zusammengesetzt und dann zum Verpacken zurück nach Hongkong gesandt, bevor die fertige Ware zum endgültigen Verkauf nach Amerika verschifft wird. Jedesmal, wenn sie den Zoll passiert, wird sie registriert, während das gleiche, in Taiwan aus taiwanesischen Teilen gefertigte und dann direkt in die USA gelieferte Produkt nur einmal gezählt würde.
Aber es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Investitionen auf dem Festland künftig nicht im gleichen Ausmaß anwachsen werden. Viele Betriebe, vor allem solche in Hongkong, die leicht umsiedeln konnten, haben das bereits getan. Andere Unternehmer sehen in dem ungeheuren Handelsüberschuß, den Festlandchina gegenüber den USA aufgebaut hat, eine Gefahr. Zwar haben die Vereinigten Staaten schon so oft blinden Alarm geschlagen, daß man verleitet sein könnte, Drohungen über den Entzug des meistbegünstigten Handelspartner-Status oder Handelssanktionen gemäß Artikel 301 nicht ernst zu nehmen. Aber es ist in mehr als einer Hinsicht erstaunlich, daß Peking bisher mit einem Handelsüberschuß von 20 Milliarden US$ pro Jahr gegenüber den USA davongekommen ist.
Gemessen am Verhältnis zwischen Lohn, Produktivität und Infrastruktur sind die zugänglichen Sonderwirtschaftszonen des Festlands für Fertigungsbetriebe immer noch günstiger als rivalisierende Standorte auf den Philippinen, in Indonesien, Vietnam oder anderen Ländern. Aber mögliche Vergeltungsmaßnahmen im USA-Handel stellen für einige Hersteller, insbesondere solche, die zu sehr von ihren Festland-Unternehmungen abhängen, eine ernsthafte Bedrohung dar. Für Taiwan gibt es außerdem noch das Sicherheitsinteresse, nicht zu abhängig vom Handel mit dem Festland zu werden.
Es gibt daher eine Tendenz unter Investoren aus Hongkong, Taiwan und dem nichtchinesischen Ausland, ihre Interessen von der Exportproduktion auf die Herstellung für den festländischen Binnenmarkt zu verlagern. Das ist nur natürlich. Die schnell wachsende Festlandökonomie sollte höhere Gewinne als der reifere Taiwan-Markt einspielen können. Ebenso sind die Möglichkeiten für Hongkonger Bauunternehmer auf dem ärmlich bebauten Festland theoretisch unendlich größer als im modernen und teuren Hongkong.
Jedoch muß die Möglichkeit, daß das Festland weiterhin große Summen Kapitals aus Hongkong, Taiwan und Südostasien anziehen wird, nicht bedeuten, daß diese Ökonomien auch enger mit dem Festland verflochten werden. Im Falle Hongkongs wäre es aus politischen Gründen denkbar. Doch die Struktur und die Interessen der kleinen Wirtschaftsentitäten, die an wichtigen Schiffahrtsrouten liegen und an die höchstentwickelten Ökonomien der Welt, nämlich die Vereinigten Staaten und Japan, angeschlossen sind, haben grundsätzlich wenig mit einer riesigen, unterentwickelten Kontinentalmacht gemein.
Die Investitionen auf dem Festland werden für einzelne Firmen Taiwans wichtig sein und zusätzliche Exporte mit sich bringen. Soweit die Investitionen jedoch Industriezweige betreffen, die sich am einheimischen Markt orientieren und weit von den Seehäfen entfernt liegen, werden sie nicht automatisch zu Integration führen. Brasilien zum Beispiel hat eine weiter entwickelte Industriewirtschaft als China und konnte von großen multinationalen Investitionen profitieren. Trotzdem macht Brasiliens Außenhandel mit Produktionsgütern nur einen winzigen Teil der Wirtschaft aus. Er ist kaum größer als der von Indien, wobei Indien lange Zeit Ausländer ausgeschlossen hat. Die Investitionen der multinationalen Firmen waren für die Unternehmen und das Land profitabel, aber sie haben keine wirtschaftliche Integration mit sich gebracht.
Peking hat wiederholt versprochen, Handelsbarrieren abzubauen, um die Vereinigten Staaten zu beschwichtigen und in GATT aufgenommen zu werden. Aber es bedarf einer gehörigen Portion Phantasie, um sich vorzustellen, daß eine Nation wie China mit einer autarken kaiserlichen Vergangenheit, kommunistischen Strukturen sowie einer gegen Außenhandel sprechenden Geographie und Infrastruktur ihre Wirtschaftswachstumsstrategie so hauptsächlich auf den Außenhandel legen wird. Für die kleineren, überschaubaren, an der Küste gelegenen Ökonomien Südostasiens hat sich diese Strategie bewährt, da sie auf langjährige Außenhandelsbeziehungen zurückblicken konnten, Zugang zu ausländischem Kapital und ausländischer Technologie hatten, ein (sogar vor dreißig Jahren) weitaus besseres Erziehungswesen und kaum Rohstoffe besaßen. Aber wie sehr die festlandchinesischen Führer Singapur, Südkorea und ihresgleichen auch bewundern mögen, sie wissen, daß die Umstände in Festlandchina völlig anders gelagert sind und die Lehren der kleineren Länder nur am Rand von Nutzen sind.
Ein schnellwachsendes Festlandchina bringt für Taiwan Möglichkeiten im Handel mit spezialisierten, hochtechnischen Produkten mit sich, mit denen sich Taiwan verstärkt hervortun wird. Aber die globale Ausrichtung - die den Wunsch ausdrückt, mit den höchstentwickelten Ländern in hochentwickelten Produkten zu konkurrieren - wird weiterhin die Hauptrichtung von Taiwans Wirtschaft sein. Taiwans Wachstum mag verglichen mit dem Festland langsam sein, aber die Unterschiede sind so groß und die Prioritäten so verschieden, daß zunehmende Verbindungen nicht unbedingt vermieden werden können.
Für Taiwans Kapitalüberschuß mag die Vermehrung der Anlagemöglichkeiten auf dem Festland eine weitaus profitträchtigere wenn auch riskantere Alternative bedeuten als der Erwerb von US-amerikanischen und japanischen Regierungsanleihen im großen Rahmen. Die mögliche Einrichtung von direkten Kommunikationskanälen zwischen Taiwan und dem Festland würde den Vorgang erleichtern. Doch wenn Festlandchinas Wachstum anhält, wird sein Kapitalbedarf so groß sein, daß Taiwan, Hongkong und die Auslandschinesen, die in der Anfangsphase der Marktöffnung so wichtig waren, nur noch eine unbedeutende Rolle spielen werden. Im Fall südostasiatischen Geldes könnte die Arroganz einiger Überseechinesen in ihren Gastländern sogar zu Reaktionen seitens der Regierungen führen, wodurch der Geldfluß gestoppt würde. Der Kapitalbedarf von Indonesien, Malaysia und Thailand ist nämlich kaum geringer als der Festlandchinas.
Ein weiterer Faktor, der gegen ein Großchina spricht, ist die auf dem Festland möglicherweise stattfindende Wirtschaftsverlagerung weg von den Küstenprovinzen. Einige Führer sind jetzt schon besorgt über die ungleiche Einkommenssteigerung zwischen Küsten- und Inlandsgebieten sowie Stadt und Land. Ohne Eingreifen in den Markt wird die Diskrepanz sicherlich noch größer werden. Die Küstengebiete haben Zugang zu Kapital und Märkten, und der Süden verfügt immer noch über ein großes Potential zur Steigerung des Landwirtschaftsertrags. Der überwiegende Teil des Landes jedoch hat weder das eine noch das andere. Wie lange der gegenwärtige Zustand noch tragbar ist, bleibt der Vermutung überlassen. Doch man darf größere Anstrengungen seitens der Zentralregierung erwarten, die Kontrolle über die Wirtschaft zurückzugewinnen und dadurch einen Ausgleich der Einkommen zu fördern, beispielsweise durch höhere Besteuerung. Das könnte dazu führen, daß einige der Investitionsvorteile auf dem Festland entfallen.
Probleme mit ausländischen Währungen könnten eine andere Einschränkung darstellen. Investoren werden zögern, wenn sie befürchten müssen, ihr Geld nicht wieder ausführen zu können. Der Handelsüberschuß des Festlands und der Kapitalzustrom haben den Zugang zu Devisen recht einfach gemacht, wenn auch unter ständig steigenden Kosten, die durch eine kontinuierliche Abwertung des Renminbi verursacht werden. Trotzdem könnte der festlandchinesische Importbedarf an Öl und möglicherweise auch an Getreide zu einer strikten Devisenbeschränkung führen und es für die mit ausländischem Kapital finanzierten Unternehmen schwierig machen, Gewinne auszuführen, es sei denn sie stammten aus Exportgeschäften. Die Betrachtung des riesigen festlandchinesischen Binnenmarktes muß immer unter dem Aspekt des Devisenproblems erfolgen.
Derweil könnte Hongkong mit anderen Beschränkungen konfrontiert werden. Aufgrund der Unvorhersehbarkeit der festlandchinesischen Politik ist es riskant, eine Zukunftsprognose für das Gebiet zu machen. Zur Zeit agiert Hongkong als äußerst effizienter Kanal für Kapital nach Festlandchina, weil in der Kolonie ansässige Unternehmen ihre etablierten Namen benutzen, um auf internationalen Finanzmärkten billig an Geld zu kommen, von dem ein großer Teil in Investitionen auf dem Festland fließt. Hongkongs eigener Boom ist zu einem erheblichen Teil durch aus Festlandchina in die Kolonie fließendes Kapital finanziert worden; der Kapitalabfluß hat zum einen politische Gründe, zum anderen handelt es sich um Kapitalflucht, da Chinas Neureiche - bei denen es sich zumeist um die Nutznießer von Nepotismus und Korruption handelt - einen sicheren Hafen suchen.
Dieser Vorgang wird sich wahrscheinlich verlangsamen, da Kapital und Devisen auf dem Festland knapper werden. Wenn man weiter als 1997 vorausschaut, stellt sich auch die Frage, ob Festlandchinesen sich sicher fühlen, wenn sie ihr Geld in Hongkong untergebracht haben. Die Schweiz könnte sicherer erscheinen. Die Zukunft des Hongkong-Dollars mag sich in der Zukunft ebenfalls verdunkeln. Auch wenn Hongkong große Reserven hat, hängt das Überleben einer separaten Währung letztendlich davon ab, ob die örtliche Verwaltung ausreichend politisches Gewicht hat, um Hongkongs Interessen zu wahren, wenn diese mit Pekings Interessen in Konflikt geraten - was in einzelnen Fällen unvermeidlich sein wird.
Internationale politische Konstellationen sind so schwierig vorherzusagen wie die Innenpolitik Festlandchinas. Letztendlich bedarf ein Großchina sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Stabilität. Beinahe jede Verbindung von Festlandchina mit Taiwan, Japan, Korea, Rußland oder den langsam an Einfluß verlierenden Vereinigten Staaten ist möglich. Die Ära der friedlichen Koexistenz ist von wachsendem Wohlstand und interregionalem Handel gekennzeichnet, bei dem die fünf China zunehmend eine Nebenrolle spielen würden, während sich Festlandchina mehr um die eigene Entwicklung kümmerte als um die Einnahme einer hegemonialen Haltung gegenüber seinen kleineren Nachbarn wie Korea, Vietnam und den nicht-chinesischen Nationen, welche an das Südchinesische Meer grenzen. Dieser letzte Punkt mag der Prüfstein sein. Auch wenn Peking und Taipei ähnliche Ansprüche auf das Südchinesische Meer und seine Inseln erheben, würde ein aggressives Verhalten Festlandchinas wahrscheinlich andere Staaten mit den gleichen Sicherheitsinteressen wie Taiwan veranlassen, eine Allianz einzugehen.
Vielleicht ist das Wort Großchina nur einer dieser gutklingenden Begriffe, deren Realisation zwar möglich ist, aber - wie das Ziel eines Großdeutschland in früherer Zeit - nur mit Gewalt und auf Kosten seiner Bestandteile.
(Deutsch von Jessika Steckenborn)
Philip Bowring, ehemals Chefredakteur der Wirtschaftszeitschrift Far Eastern Economic Review in Hongkong, ist Kolumnist für die Zeitung International Herald Tribune.