02.05.2025

Taiwan Today

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Die Vergangenheit in Erinnerung rufen

01.01.1994
Ein Museum des chinesischen Lebens

Im Gegensatz zu vielen bekannten Museen bewahrt die Einrichtung, welche wir hier vorstellen, ihre Ausstellungsstücke nicht in Glaskästen auf, in denen die Besucher sie nur aus der Distanz betrachten können, sondern man kann die Dinge anfassen und aus der Nähe ansehen. Das Kam-Wah-Chung-Museum bewahrt ein Bild vom Leben, welches Chinesen vor hundert Jahren in Amerika führten. Nicht nur Dekorationen, Möbel und Küchenutensilien aus jenen Tagen sind zu sehen, sondern auch eine Mausefalle, ein Spucknapf und eine vollständige chinesische Apotheke in bestem Zustand. Für Amerikaner mit chinesischen Vorfahren ist das Museum eine Schatzkammer, in der sie ihre Wurzeln zurück­verfolgen und studieren können.

Die Fahrt beginnt in der Stadt Portland im dichtbewaldeten, westlichen Teil des amerikanischen Bundesstaates Oregon und führt über die verschneiten Pässe des zentralen Hochlands bis in das felsige, öde Gebiet im Osten des Bundesstaats. In der Abenddämmerung erreicht man die kleine Stadt John Day, welche vor über hundert Jahren das Zentrum chinesischer Besiedlung in dieser Gegend war. Man kann die kristallklaren Wassertropfen sehen, welche von den Bewässerungsmaschinen auf die Felder entlang der Straße gesprüht werden und die sich in der untergehenden Sonne in eine lange, scheinbar vergangene Geschichten erzählende Regenbogenallee verwandeln. Tatsächlich hat der Ort John Day das Schicksal vieler Städte im amerikanischen Westen geteilt - von seiner Blütezeit bis zu seinem Niedergang. Glücklicherweise nahm sich der Staat des kleinen Städtchens an, als es nach Abwanderung der Chinesen allmählich verfiel, und restaurierte den Sitz der ursprünglich von zwei Chinesen betriebenen Kam-Wah-Chung-Gesellschaft. Damit will man an die Taten und Beiträge chinesischer Bürger erinnern und gleichzeitig den Besuchern einen Eindruck von der Vergangenheit vermitteln, indem man ihnen einen Einblick in das Leben der Chinesen in zurückliegenden Tagen gewährt.

Eine Stadt, die aus dem Goldrausch entstand

Dr. Jeffrey Barlow, Lehrer an der Abteilung für asiatische Geschichte am Lewis-und-Clarke-College von Oregon, untersucht seit vielen Jahren die Geschichte der Chinesen in Amerika. Er erzählt, wie der Goldrausch im Jahr 1848 in Kalifornien begann und sich später bis in den Bundesstaat Idaho im Nordwesten ausdehnte. 1862 fand man in der Nähe des Creek Canyon im Osten Oregons das kostbare Metall. Als sich die Nachricht von dem Fund verbreitete, lockte sie viele vom Reichtum träumende Goldsucher an.

In jenen Tagen lebten die weißen Goldsucher größtenteils im Gebiet von Canyon City. Die Regierung der Vereinigten Staaten erlaubte damals keine Gründung eines chinesischen Viertels in der Stadt, und darum ließen sich die rund sechshundert chinesischen Goldsucher einige Meilen außerhalb der Stadt am John-Day-Fluß nieder. Zunächst war die Siedlung unter dem Namen "Unterstadt" bekannt, wurde jedoch später nach dem Fluß in John Day umbenannt.

Wie ein starker Magnet zog der Goldrausch im amerikanischen Westen Chinesen über den Pazifik, wo sie neue Wege erproben wollten. In China neigte sich die Ch'ing-Dynastie ihrem Ende zu. Viele Bewohner der Provinzen Kanton und Fukien kamen nach John Day, die meisten aus Kanton. Auch die ursprünglichen Besitzer des Hauses, welches heute das Kam-Wah-Chung-Museum darstellt, Wang Liang und Hai Ying, traten die lange Reise nach Amerika in jenen Tagen des Goldrausches an. Professor Barlow verbrachte einige Jahre damit, persönlich Interviews mit den Bewohnern von John Day durchzuführen, ehe er das Buch "Der chinesische Arzt von John Day" schrieb, welches die Geschichte der beiden Eigentümer der Kam-Wah-Chung-Gesellschaft und der Chinesen in der Gemeinde erzählt. Das Buch enthält lebensnahe Beschreibungen von Wang Liang und Hai Ying.

Weit und breit bekannt

Viele Mitglieder von Hai Ying's Klan waren empört über die Tyrannei der Ch'ing-Regierung, und während der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wanderten fünf seiner Onkel auf der Suche nach einem neuen Leben nach Amerika aus. In einem 1880 nach Hause geschickten Brief erklärten sie, daß es ihnen bestens ginge und daß noch Männer für die Erschließung des Westens benötigt würden. Darum schlugen sie vor, daß Hai Ying ebenfalls nach Amerika kommen solle.

Zu jener Zeit hatte Hai Ying bereits einen Sohn und eine Tochter. 1883 reisten sie alle gemeinsam in den amerikanischen Bundesstaat Washington und von dort aus im Jahr 1887 nach John Day. Aufgrund fehlender Aufzeichnungen wissen wir nicht, wie Hai Ying sich die diagnostischen Fähigkeiten der chinesischen Heilkunde und das Wissen über die Zubereitung chinesischer Medizin aneignete. Einige Stimmen behaupten, er habe chinesische Medizin bereits in China studiert, während andere überzeugt sind, daß er die Kunst erst von einem alten chinesischen Arzt in Amerika erlernte.

In jenen Jahren arbeiteten Chinesen im Ausland im Schweiße ihres Angesichts, und das Leben gestaltete sich nicht einfach für sie. Sie konnten sich nicht erlauben, auch nur einen Tag krank zu werden, aus Angst, ihre Familie oder sich selbst nicht mehr ernähren zu können. In den Anfängen der chinesischen Immigration nach Amerika wurden sehr viele chinesische Arbeiter bei Tunneleinbrüchen oder anderen Unfällen verletzt und blieben verkrüppelt. Es gab niemanden, der sich um sie hätte kümmern können, und viele, die nicht zur Last für andere werden wollten, begingen Selbstmord durch die Einnahme von Gift. Den Chinesen von John Day muß das Erscheinen des chinesischen Arztes Hai Ying wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen sein.

Wang Liang gelangte 1882 nach John Day. Mit einer schnellen Auffassungsgabe und einer freundlichen Art gesegnet, beherrschte er fünf Jahre später das Englische fließend. In seiner Hinterlassenschaft fand man neben einem englischen Wörterbuch eine Reihe berühmter klassischer Literaturwerke in Englisch, darunter Romane von Dickens, Maupassant und anderen. Weil er gesellig und sprachbegabt war sowie bereitwillig seinen Landsleuten bei ihrer englischen Korrespondenz half, konnte sich Wang Liang rasch einen guten Ruf in der Gegend erwerben, was sich förderlich auf seine Geschäfte auswirkte. Er wurde tatsächlich der erste Autohändler in Ost-Oregon.

Als Wang Liang und Hai Ying sich kennenlernten, verstanden sie sich auf Anhieb so gut, daß sie beschlossen, gemeinsam Geschäfte zu betreiben. Hai Ying's Englischkenntnisse waren sehr schlecht, und er konnte weder reiten noch ein Auto steuern. Darum fuhr Wang Liang ihn immer entweder mit der Pferdekutsche oder dem Auto, wenn er zu einem Kranken gerufen wurde. Wenn es sich dabei um einen weißen Patienten handelte, sprang Wang Liang gleichzeitig als Dolmetscher ein.

Die Rassenschranken einreißen

Da der Beruf des Mediziners in den Staaten zu jener Zeit nicht sehr weit entwickelt war, hatten viele Ärzte eine nur oberflächliche Ausbildung oder ihr Wissen sogar gänzlich Büchern entnommen, so daß eine Behandlung bei einern westlichen Arzt ein Risiko darstellte. Professor Barlow ist der Ansicht, daß es Dr. Hai's größter Verdienst gewesen ist, die Schranken von Mißtrauen und Unverständnis zwischen Chinesen und Weißen abzubauen. In einem Fall hatte sich der Sohn eines Farmers durch eine entzündete Wunde am Oberarm eine Blutvergiftung zugezogen; infolge der falschen Diagnose eines westlichen Arztes verschlimmerte sich der Zustand des Jungen. Als der weiße Farmer sah, daß das Leben seines geliebten Sohnes in Gefahr war, rief er Hai Ying, von dessen Fähigkeiten er gehört hatte, zu Hilfe. Er verschwendete keinen Gedanken daran, daß es sich bei Hai Ying um einen Chinesen handelte. Dr. Hai verbrachte sechs Tage und Nächte auf der Farm, bis sein Patient außer Lebensgefahr war.

In einem ähnlichen Fall heilte er die Besitzerin einer anderen Farm. Diese Beispiele festigten Hai Ying's Ruf, schwierige Krankheitsfälle heilen zu können, und von da an kamen nicht nur Chinesen, sondern auch Weiße Rat und Behandlung suchend zu ihm. Dadurch veränderte sich die stereotype Einstellung der Weißen gegenüber den chinesischen Bewohnern. In späterer Zeit, als eine Welle des gegen Chinesen gerichteten Rassenhasses durch die Vereinigten Staaten ging, blieb der Osten Oregons davon verschont, und Chinesen aus Nordkalifornien suchten sogar Zuflucht in diesem Gebiet.

Niedergang der Stadt, als das Gold ausblieb

Gerade als das Geschäft von Wang und Hai blühte, begannen die chinesischen Bewohner von John Day allmählich, in größere Städte wie Portland zu ziehen, da die Goldfunde ausblieben und Arbeit immer schwerer zu finden war. Im Jahr 1896 erreichte die Union Pacific Railroad die nahegelegene Stadt Prairie City und es hätte nur noch des Übergangs der Gebirgskette Blue Mountains bedurft, um John Day zu erreichen. Aber für diese Strecke hätte man Tunnel und Brücken bauen müssen. Die Kosten wären enorm gewesen, und so entschied man sich schließlich für eine andere Streckenverlegung, wodurch die Hoffnung, das Glück der Stadt wieder aufleben zu lassen, endgültig zerschlagen wurde.

Bis zu den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts waren nur 20 Chinesen in der Stadt verblieben. Wang Liang starb 1940 und hinterließ ein Vermögen im Wert von annähernd 90 000 US$. Dr. Hai verschied im Jahr 1952, und obwohl er in Festlandchina lebende Kinder hatte, waren diese aufgrund der damaligen schlechten Beziehungen zwischen dem kommunistischen China und den Vereinigten Staaten nicht in der Lage, ihr Erbe anzutreten, welches schließlich an den Staat Oregon fiel. Die Regierung des Bundesstaates ließ Dr. Hai' s Heimstatt renovieren und öffnete sie 1977 als Museum für Besucher.

Wie eine Burg

Die vier Mauern des Kam-Wah-Chung-Museums sind massiv aus Steinblöcken errichtet, zirka dreißig Zentimeter dick und nur mit einem schmalen Eingang und kleinen Fenstern ausgestattet, weswegen die Anlage von außen wie ein uneinnehmbares Fort aussieht.

Warum wurde das Haus so wehrhaft gebaut? Laut Professor Barlow liegt der Grund, abgesehen vom Schutz vor Räubern und Dieben, auch möglicherweise darin, daß Wang und Hai zu jener Zeit noch die neu angekommenen Einwanderer bei sich aufnahmen und mit Proviant versorgten; nach dem Erlaß eines Einwanderungsstopps für Chinesen wurde das Haus besonders trutzig konstruiert, um den Beamten der Einwanderungsbehörde und Rechtsvollziehern den Zutritt zum Zwecke von Verhaftungen zu verwehren.

Eine erlesene Medikamentensammlung

Im ersten Raum auf der linken Seite des Hauses befindet sich linker Hand die Küche, während an der rechten Wand ein Bett steht. In den vielen Jahren sind die vier Wände, die Decke und die Möbel fast schwarz vom Rauch geworden und geben dem Raum eine ernste, geheimnisvolle und mittelalterliche Atmosphäre. Auf dem schweren eisernen Küchenherd steht eine Tafel zu Ehren des Küchengotts, was beweist, daß die Chinesen auch ihren Glauben aus dem Heimatland mit nach Amerika gebracht haben. Hier braute Dr. Hai gewöhnlich seine Medizin. Ein Seufzer des Bedauerns wird laut, wenn man den Herd heute kalt und unbenutzt dastehen sieht und gleichzeitig an die Vergangenheit denkt, als die Arzneimittelzubereitung für den nicht enden wollenden Strom von Patienten das Herdfeuer in Gang hielt.

Der Eßtisch ist mit Reisschalen und Eßstäbchen gedeckt, aber wer soll sich zur Mahlzeit niedersetzen? Außerdem stehen auf dem Tisch noch Töpfe und Schüsseln sowie eine von 1920 stammende Flasche Weinbrand, deren Inhalt mittlerweile zu einem besonders guten Tropfen herangereift sein dürfte. Die Wände neben dem Bett sind mit amerikanischen Modebildern tapeziert, die aus Zeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre ausgeschnitten wurden, während am Fußende eine Mausefalle auf dem Boden steht.

Der angrenzende Raum ist der Stolz des Kam-Wah-Chung-Museums: linker Hand befindet sich die Kräuterapotheke, rechts ist der Auslagenbereich für die zum Verkauf angebotenen Waren. Genau wie in einem Pfandhaus betrat der Arzt die Apotheke durch eine schmale Seitentür, während der Fronteingang zugemauert war und nur durch eine kleine Öffnung Medikamente ausgegeben wurden. Auf dem Tisch liegt ein Paar Bärentatzen, die auf den ersten Blick schauerlich wirken. Vielleicht sollen sie uns etwas über die Bedeutung erzählen, welche die chinesische Kultur dem Verzehr stärkender oder heilender Speisen für den Gesundheitszustand zuschreibt. Die Gläser und Pakete mit Medikamenten auf den Regalen sind mit Zeichen beschriftet, die Aufschluß über den Inhalt geben. Es finden sich ungefähr fünfhundert verschiedene Grundstoffe, von denen die Hälfte identifiziert und in ihrer Anwendung bekannt ist. In jenen Tagen fühlte der Arzt zunächst den Puls eines Patienten, stellte daraufhin die Diagnose und verschrieb ein Medikament, was er dann sogleich zubereitete - alles während einer einzigen Behandlung.

Im gegenüberliegenden Verkaufsbereich füllen Lebensmittel in Dosen und Gläsern sowie andere Waren die Regale, darunter auch Weine und Spirituosen. In dem angrenzenden Lagerraum stehen Warenkisten, die in den dreißiger Jahren vom chinesischen Festland und von Japan aus verschifft worden waren. Einige von ihnen sind nie geöffnet worden. Das letzte Zimmer ist Dr. Hai's Schlafzimmer, welches nicht renoviert worden ist und mit sämtlichen Orginalmöbeln und Gebrauchsgegenständen so wie früher aussieht. Wenn man auf der Türschwelle mit geschlossenen Augen verharrt, kann man sich fast vorstellen, wie der chinesische Arzt hier ein- und ausging.

Eine Führung durch das Museum informiert die Besucher über die harte Arbeit der beiden ehemaligen Besitzer. Schade, daß alle chinesischen Bewohner John Day verlassen haben; hier könnten ihre Kinder und Enkel viel lernen. Es gibt mit Sicherheit in den Vereinigten Staaten kein zweites Museum über das Leben der Chinesen, welches die vergangenen Zeiten so gut rekonstruiert.

(Aus dem Chinesischen von Robert Taylor; Deutsch von Jessika Steckenborn)

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