Die 50jährige Juan Chu-fen(阮菊芬)spielt viele Rollen in ihrer Familie: Sie ist Ehefrau, Mutter zweier Kinder, älteste Schwiegertochter, Schwägerin für die vier jüngeren Brüder und Schwestern ihres Mannes sowie Tante von siebzehn Nichten und Neffen. Auch wenn die Geschwister ihres Gatten alle verheiratet sind und ihre eigenen Haushalte haben, kommen sie doch oft zu Juan auf Besuch. Mit interfamiliären Beziehungen hat sie tatsächlich täglich zu tun. "Weil meine 81jährige Schwiegermutter bei uns lebt, ist mein Haus der Dreh- und Angelpunkt für sieben Familien", berichtet sie. Wenn sie ihre Beziehungen zu den eigenen Eltern und vier Geschwistern hinzurechnet, werden ihre familiären Interaktionen noch komplizierter.
Juan ist ein typischer Fall. Die chinesische Gesellschaft weist seit langer Zeit eine starke Familienorientierung auf. Die durchschnittliche Familiengröße hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten, in denen Taiwan einen Urbanisierungsprozeß erlebte, erheblich verringert. Der enger gewordene Lebensraum in der Stadt bedeutet, daß weniger Verwandte in einem gemeinsamen Haushalt leben können. Aber trotzdem besteht die traditionelle Familieneinstellung und -hierarchie in vieler Hinsicht fort, und ein weites, komplexes Familiennetz spielt nach wie vor eine wichtige Rolle im Leben der Leute.
In der tradilionellen chinesischen Gesellschaft lebten die Mitglieder einer Großfamilie oftmals zusammen in einem rechteckigen Gebäude, welches einen Innenhof umgab. Die Eltern bewohnten den Haupttrakt, und jeder verheiratete Sohn lebte mit seiner Familie in einem der angrenzenden Flügel, wobei der älteste in dem seinen Eltern am nächsten gelegenen Gebäudeteil untergebracht war. Im Idealfall waren es vier bis fünf Generationen, die gemeinsam wohnten, aßen und arbeiteten und denen das Anwesen zusammen gehörte. Wichtige Entscheidungen wurden im Familienrat gefällt. "Von der Geburt an war das neue Familienmitglied von einer großen Gruppe Angehöriger umgeben", sagt Yi Chin-chun(伊慶春), Forschungsstipendiatin am Sun-Yat-sen-Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie der Academia Sinica. "Jeder mußte sich über seinen Rang in der Familienhierarchie im klaren sein. Und es wurde erwartet, daß jeder zur Harmonie in der Familie beitrug."
Heutzutage ist die traditionelle Ordnung des Familienlebens auf Taiwan selten. Bedingt durch die in den letzten drei Jahrzehnten erfolgte Industrialisierung und Urbanisierung sind viele aus den jüngeren Generationen in die Städte gezogen, wo sie eigenständige Haushalte gründeten. "Die Großfamilie verschwindet", erklärt Chang Ying-hwa(章英華), Forschungsstipendiat am Institut für Ethnologie der Academia Sinica.
Die Großfamilie wird zunehmend durch die Kleinfamilie, welche nur aus den Eltern und ihren Kindern besteht, oder durch die "Stammfamilie", in der die Eltern mit einem ihrer verheirateten Kinder zusammenleben, ersetzt. In einer 1967 vom Institut für Familienplanung der Provinz Taiwan durchgeführten Untersuchung gaben 14,6 Prozent der Befragten an, in einer Großfamilie zu leben, während sich 39,4 Prozent einer Stamm- und 45,2 Prozent einer Kleinfamilie zuordneten. Heutzutage enthalten Statistiken nicht einmal mehr die Kategorie der Großfamilie, obwohl Schätzungen sie mit knapp drei Prozent beziffern. Auch der Anteil der Stammfamilien ist beträchtlich zurückgegangen. Laut einer Studie des Innenministeriums von 1992 erklärten 18,5 Prozent der Befragten, in diese Kategorie zu gehören, während 55,5 Prozent sich der Kleinfamilie zuordneten. Neuere Studien beinhalten auch Kategorien, die früher nicht aufgeführt wurden, wie zum Beispiel die der alleinerziehenden Eltern (6 Prozent) und Singles (3,5 Prozent).
Doch auch wenn Familien nicht länger auf einem Anwesen zusammenwohnen, ist das Konzept der Großfamilie noch nicht verschwunden. Familienmitglieder, darunter vor allem die Eltern, üben immer noch großen Einfluß auf die eigenständigen Kleinhaushalte der Angehörigen aus. Und die meiten erwarten von der Großfamilie, daß sie die Versorgung der älteren Familienmitglieder übernimmt. In einer typischen Situation werden die Großeltern mit ihrem ältesten Sohn und seiner Familie zusammenleben und hauptsächlich von der Schwiegertochter versorgt. Wie im Fall von Juan wird diese Familie der Dreh- und Angelpunkt für die anderen Kleinfamilien des Klans sein.
Die Rolle, welche die Familie des ältesten Sohns spielt, beruht nach wie vor auf Traditionen. Früher war er derjenige, der den größten Teil des väterlichen Vermögens erbte. Als Gegenleistung wurde von ihm erwartet, daß er seine kindliche Pietät bewies, indem er seine Eltern im Alter versorgte. Heutzutage schreibt das Gesetz vor, daß der Besitz unter allen Kindern gleich verteilt wird, solange ein Testament es nicht anders verfügt. Diese neue Regelung bringt es mit sich, daß die anderen Kinder ebenfalls ihren Teil zur Versorgung der Eltern beitragen. Es kommt auch immer häufiger vor, daß die Eltern von Haus zu Haus ziehen und jeweils einige Wochen oder Monate in der Familie eines Sohns verbringen. Laut einer Untersuchung des Amts für Budget, Rechnungswesen und Statistik (Directorate General of Budget, Accounting and Statistics, DGBAS) haben vier Prozent der Befragten diesen Lebensstil angenommen. In den meisten Fällen jedoch werden die Senioren ständig mit dem ältesten Sohn zusammenleben.
Aus eben diesem Grund hat die chinesische Gesellschaft traditionellerweise so großen Wert darauf gelegt, eher Söhne als Töchter zu haben. Während eine Tochter in eine andere Familie einheiraten und möglicherweise dort die Schwiegereltern versorgen wird, stellt das Aufziehen eines Sohns eine Art der Altersvorsorge dar.
Die Eltern revanchieren sich, indem sie oftmals Verantwortungen für ihre Kinder bis in deren Erwachsenenjahre hinein tragen. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß unverheiratete Kinder weiterhin bei ihren Eltern leben und von ihnen finanziell versorgt werden, wenn sie noch in der Ausbildung sind. Sogar jungverheiratete Ehepaare bleiben im Haus der Eltern des Bräutigams, jedenfalls solange bis sie eigene Kinder haben. In einigen Fällen kann es passieren, daß diese jüngeren Familienmitglieder sich zusammen mit den Eltern im Haus des älteren Bruders und seiner Familie wiederfinden.
Juan erinnert sich, daß im ersten Jahr nach ihrer Hochzeit die Schwiegereltern sowie ein Schwager und eine Schwägerin, die beide noch das College besuchten, bei ihr zu Hause einzogen. "Ich war gerade dabei, mich an das Eheleben zu gewöhnen", erzählt sie, "als plötzlich die Verwandten einzogen. Ich war schockiert, aber ich konnte nicht nein sagen."
Selbst wenn die jüngeren Geschwister ihre eigenen Familien haben, wird das Haus des ältesten Sohns und der Eltern oft zum Mittelpunkt für die gesamte Familie. Juan's Schwager und Schwägerin zogen schließlich nach ihrer Heirat aus, aber sie kommen regelmäßig zu Besuch. "Sie kommen zirka einmal pro Woche zu mir nach Hause, um ihre Mutter zu sehen", erzählt sie.
Der heutige Zugang zur Telekommunikation und bessere Transportmöglichkeiten helfen den Familien, in engem Kontakt zu bleiben. Wenn Juan's Verwandte ihre Mutter nicht besuchen können, rufen sie auf jeden Fall an. Und wenn die erwachsenen Kinder nicht in derselben Stadt wie ihre Eltern wohnen, werden sie die Eltern häufig an Feiertagen und Wochenenden aufsuchen. Taipei, die größte Stadt auf Taiwan mit einem Fünftel der hierzulande lebenden Bevölkerung, ist erstaunlich ruhig an durch Feiertage verlängerten Wochenenden, da viele Bewohner zu ihren Eltern in ländliche Gebiete fahren.
Die zentrale Rolle, welche das Elternhaus spielt, beruht auf einer viele Generationen zurückreichenden Tradition. Als die Einwanderer vom chinesischen Festland im neunzehnten Jahrhundert und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hierherkamen, blieb das Elternhaus die Wurzel der gesamten Familie, weiß der Ethnologe Chang Ying-hwa. "Ihre Frauen und Kinder blieben im Heimatort auf dem chinesischen Festland (bei den Eltern des Ehemanns), und die Auswanderer schickten regelmäßig Geld nach Hause." Im heutigen Taiwan ist es nach wie vor möglich, daß junge Eheleute ihre Kinder bei den Großeltern lassen, wenn sie zum Studium ins Ausland gehen.
Aber auch wenn ein Ehepaar auf Taiwan lebt, werden die Eltern sehr wahrscheinlich einen Großteil der täglichen Betreuung der Enkelkinder übernehmen. Dieses Arrangement, welches noch aus der traditionellen Großfamilie stammt, veranschaulicht die enge Abhängigkeit der einzelnen Generationen in einer Familie. Laut DGBAS sind in 4,4 von zehn Haushalten beide Ehepartner berufstätig. Und rund zwanzig Prozent dieser arbeitenden Paare verlassen sich bei der Betreuung ihrer Kinder auf die eigenen Eltern oder Verwandte. Chiang Tai-lin(蔣台林), Zahnarzt in der südlich von Taipei gelegenen Stadt Taoyuan, beschreibt seine Situation: "Meine Mutter hat meinen Sohn versorgt, und meine Schwiegermutter kümmert sich um meine Tochter. Ich vertraue ihnen, weil wir uns so gut kennen." Selbst wenn die Großeltern nicht in der gleichen Stadt wohnen, kümmern sie sich manchmal um ihre Enkel. In dem Fall besuchen die Eltern ihre Kinder einmal pro Woche oder pro Monat, je nach Entfernung.
Finanzielle Interdependenz bleibt weiterhin ein wichtiger Aspekt der heutigen Familien. Das Geld wandert manchmal von Hand zu Hand, je nachdem wer es gerade braucht. Ein Ehepaar mit kleinen Kindern beispielsweise wird möglicherweise Geld von den Eltern des Mannes erhalten. Viele Eltern werden dem Ehepaar sogar bei einem Hauskauf finanziell helfen, indem sie die Anzahlung übernehmen. Auf Taipeis Immobilienmarkt mit seinen himmelhohen Preisen kann dieser Betrag irgendwo zwischen 200 000 NT$ (7400 US$) und 1 Million NT$ (37 000 US$) liegen. "Das ist eine ganze Menge Geld für die Eltern. Sie haben möglicherweise ihr ganzes Leben dafür gespart", bemerkt Chang Ying-hwa. "Aber chinesische Eltern sind bereit, ihren Kindern zu helfen."
Während die Eltern ihren jüngeren Kindern unter die Arme greifen, empfangen sie möglicherweise gleichzeitig Geld von den älteren Nachkommen, wodurch das wirtschaftliche Gleichgewicht der gesamten Familie erhalten bleibt. Selbst wenn die Eltern keinen finanziellen Bedarf haben, geben die Kinder ihnen in vielen Fällen eine Art "Taschengeld". Juan und ihr Mann allerdings geben seiner Mutter selten Geld, da sie bei ihnen zu Hause wohnt. Aber ihre Schwäger und Schwägerinnen zahlen aus Gewohnheit zwischen 1000 NT$ (37 US$) und 15 000 NT$ (555 US$) pro Monat, je nach den finanziellen Möglichkeiten des oder der Betreffenden. "Ich flachse immer, daß meine Schwiegermutter die Reichste in der Familie ist", lacht Juan.
Finanzielle Sicherheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl sind die Vorteile, wenn man zu einer traditionellen chinesischen Familie gehört. Doch der Einfluß, den die Großfamilie weiterhin ausübt - selbst wenn die Familienmitglieder nicht zusammenleben - kann auch Anlaß für Konflikte sein. Während die Jüngeren in den Genuß der Unterstützung durch eine große Familie kommen, stehen sie gleichzeitig unter dem Druck, den Erwartungen ihrer Eltern gerecht zu werden. Viele Eltern beispielsweise fühlen sich berechtigt, bei wichtigen Entscheidungen ihrer Kinder, wie die Wahl des Ehepartners oder des Berufes, ein Wörtchen mitzureden. Die Eltern geben in solchen Fragen oft Ratschläge und versuchen, die Kinder in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Ein anderer traditioneller Konfliktbereich, der auch noch in den heutigen Familien Probleme aufwirft, ist die Beziehung zwischen der Frau und ihrer Schwiegermutter. Ein Drittel der auf Taiwan verheirateten Frauen lebt mit den Eltern ihres Ehemannes zusammen, wenngleich die Rate in Taipei sehr viel niedriger, nämlich bei 13 Prozent liegt. Aber selbst wenn die Familien nicht im gleichen Haus wohnen, kommt eine verheiratete Frau doch häufig in Kontakt mit ihrer Schwiegermutter. Im alten chinesischen Patriarchat wurde die Schwiegertochter als Eindringling in die Familie des Gatten betrachtet. Es wurde erwartet, daß sie sich zurückhaltend verhielt und schwieg. Die meisten heutigen Frauen im Alter über sechzig hatten früher keine andere Wahl, als in der Rolle der Ehefrau gehorsam zu sein, es jedem in der Familie recht zu machen und sich nicht zu beklagen. Als sie selber Schwiegermutter wurden, neigten sie dazu, die gleichen Anforderungen an die Ehefrauen ihrer Söhne zu stellen. Doch die jungen Schwiegertochter, welche im allgemeinen eine bessere Ausbildung erfahren haben und an eine offenere gesellschaftliche Atmosphäre gewöhnt sind, haben oftmals eine andere Einstellung. Darum werden sie sich im Fall einer Auseinandersetzung mit größerer Wahrscheinlichkeit verteidigen. "Man sagt im Spaß, daß eine Familie das Schlachtfeld zweier Frauen ist", erzählt Yi Chin-chun.
Die meisten Gründe für Auseinandersetzungen fallen in drei Kategorien: Hausarbeiten, Geldangelegenheiten und Kindererziehung. "Ich muß der Kochweise meiner Schwiegermutter folgen", bemerkt Juan, "weil sie darauf besteht, daß ihr Sohn an ihren Stil gewöhnt ist." Eltern der älteren Generation, die in den Jahren der Kriegsarmut aufwuchsen, sehen im Essen außer Haus verschwenderischen Luxus, während die heutigen Hausfrauen darin eine wohlverdiente Form der Erholung sehen. Chen Hsiu-hsun(陳修勳), Telefonvermittlerin bei der Internationalen Telekommunikationsverwaltung, lebt mit den Eltern ihres Mannes zusammen und erklärt, daß die Anforderungen, die an sie gestellt werden, unfair seien. "Manchmal bin ich nach der Arbeit müde, aber ich muß trotzdem gleich nach Hause hetzen, um das Essen zu kochen. Ich habe nicht die Freiheit, außer Haus zu essen."
Obwohl es ein Segen sein kann, wenn man Eltern hat, die bei der Betreuung der Kinder helfen, kann es sich genausogut als weitere Konfliktquelle herausstellen. Die Einstellung der heutigen Mütter zur Kindererziehung unterscheidet sich oftmals grundlegend von der Einstellung der Schwiegermütter. Chen beispielsweise gefällt es nicht, daß ihre Schwiegermutter ihre Kinder verwöhnt und sich weigert, sie zu bestrafen. Doch wenn sie selbst die Kinder vor der Schwiegermutter maßregelt, setzt sie sich ihrer Kritik aus. Um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, bestraft Chen ihre Kinder hinter verschlossenen Türen in ihrem eigenen Zimmer.
Wie in früheren Zeiten obliegt es meistens dem Ehemann, Probleme zwischen seiner Frau und seiner Mutter zu schlichten. Zahnarzt Chiang Tai-lin erzählt: "Der Hintergrund, die Erziehung und die alltäglichen Gewohnheiten meiner Frau und meiner Eltern sind völlig verschieden. Es gibt ganz klar eine Kluft zwischen ihnen. Ich glaube, daß das grundlegende Prinzip der kindlichen Pietät darin besteht, immer gehorsam zu sein. Ich habe meiner Frau erklärt, daß sie sich nicht mit meinen Eltern streiten soll, auch wenn sie eine andere Meinung hat. Ich hoffe, ich kann als Brücke zwischen ihnen fungieren."
Auch wenn sich das Leben in chinesischen Familien im allgemeinen hauptsächlich um die Betreuung der Kinder und Großeltern dreht, existiert normalerweise daneben ein ausgedehntes Netz von Interaktionen zwischen den erwachsenen Brüdern und Schwestern. Auch wenn die Meinung herrscht, daß eine Frau bei ihrer Heirat die eigene Familie zurückläßt, hält sie normalerweise enge Beziehungen zu ihren leiblichen Geschwistern aufrecht. "Ich rufe immer meine Schwester an, wenn ich Probleme bei der Kindererziehung habe", bemerkt Sanny Chiu(邱顯香), eine berufstätige Mutter mit zwei Töchtern.
In der chinesischen Gesellschaft ist die Liebe zwischen Bruder und Schwester so stark wie die Beziehung zwischen Händen und Füßen. Wenn ein Geschwisterteil Hilfe braucht, sind die anderen verpflichtet zu helfen. Folglich ist gegenseitige finanzielle Hilfe unter verheirateten Brüdern und Schwestern unvermeidlich. Kurzfristige zinslose Kredite sind üblich. "Wenn ich in Not bin, frage ich meine Schwester um Hilfe", sagt Chiu. "Das Geld gebe ich immer so bald wie möglich zurück, meistens im darauffolgenden Monat."
Es ist nichts Ungewöhnliches, daß sich Geschwister untereinander besonders großzügig zeigen. Als Chiang Tai-lin's Bruder sich mit dem Gedanken an einen Autokauf trug, bot Chiang zur Hilfe an, ihm 150 000 NT$ (5500 US$) zu schenken. "Natürlich habe ich mich, bevor ich die Entscheidung traf, mit meiner Frau beraten", betont Chiang.
Das geschwisterliche Netzwerk, welches sich auch auf Schwäger und Schwägerinnen ausdehnt, kann sich z.B. bei der Arbeitssuche als wichtig erweisen. In der chinesischen Gesellschaft können die richtigen Beziehungen und die korrekte Form der Vorstellung essentiell für den Aufstieg auf der Karriereleiter sein. Das traf für Chiu zu, die durch Vermittlung des älteren Bruders ihres Gatten, eines erfolgreichen Geschäftsmannes mit guten Beziehungen, zu einem Vortellungsgespräch für eine Sekretärinnenstelle eingeladen wurde.
Auch wenn sich die Rolle der Großfamilie wenig verändert hat, beeinflußt der Trend hin zu kleineren, städtischen Haushalten die Beziehungen zwischen Mann und Frau. In den letzten Jahren haben immer mehr Frauen angefangen, außer Haus zu arbeiten. Laut DGBAS-Statistiken sind 44 Prozent der Frauen über 15 Jahre angestellt. Und bei den verheirateten Frauen mit einem College-Abschluß sind 70 Prozent berufstätig. Die Veränderung von der Hausfrau hin zur werktätigen Frau hat sich als Herausforderung an die traditionelle Rollenverteilung erwiesen. Vor allem beteiligen sich Frauen nun mehr an Familienentscheidungen. Eine Untersuchung von Yi Chin-chun von der Academia Sinica zeigt, daß annähernd sechzig Prozent der 480 befragten Ehepaare wichtige Entscheidungen - vor allem über Kindererziehung oder größere Anschaffungen - gemeinsam treffen.
Doch wie in der traditionellen Gesellschaft üblich, wird nach wie vor von den Frauen erwartet, daß sie sich ums Kochen und die Hausarbeit kümmern und ihren Mann versorgen. "Meine Schwiegermutter erinnert mich immer daran, daß eine Ehefrau wie eine Mutter ist und sich auch um ihren Mann kümmern muß", erzählt Juan Chu-fen. "Deshalb habe ich nie im Traum daran gedacht, daß mein Mann mir bei der Hausarbeit helfen würde." Sanny Chiu erklärt, daß ihr Gatte einige wenige Hausarbeiten übernehmen würde, nämlich Boden wischen, Blumen gießen und das Auto waschen. Nur wenn sie ihn bittet, hilft er ihr auch anderweitig. "Sowohl im Büro als auch zu Hause muß ich Superfrau sein", meint sie.
Frauen wie Juan und Chiu werden zweifelsohne weiterhin ihr ganzes Leben lang traditionelle Rollen spielen und Teil einer weitverzweigten Großfamilie bleiben. Unterschiedliche Generationen allerdings haben andere Meinungen darüber, was die angenehmste Familiensituation ist. Laut einer 1992 vom DGBAS durchgeführten nationalen Untersuchung halten 73 Prozent der über 65jährigen es für ideal, wenn die Älteren mit ihren erwachsenen Kindern zusammenleben. Eine Untersuchung von 1991 jedoch zeigte, daß nur 61 Prozent der Befragten bereit waren, ihre Eltern bei sich zu Hause aufzunehmen, obwohl 88 Prozent große Bereitwilligkeit ausdrückten, ihre Eltern finanziell zu unterstützen. Tatsächlich leben 66 Prozent der Senioren mit ihren erwachsenen Kindern zusammen.
Laut Chang Ying-hwa werden die heutigen jungen Ehepaare und solche mittleren Alters finanziell unabhängiger und eher zu einem eigenständigen Leben bereit sein, wenn sie sich zur Ruhe gesetzt haben. Viele von ihnen setzen auch weniger Erwartungen in ihre Kinder und legen mehr Wert auf die Achtung der Privatsphäre, sowohl der ihrer Kinder als auch ihrer eigenen. "Ich will nicht mit meinen Kindern zusammenleben, nachdem sie geheiratet haben", betont Juan. Aber wie viele andere auch, erwartet Juan die Beibehaltung starker Familienbande, selbst wenn die Mitglieder ihre eigenen Haushalte haben. "Ich würde gerne in der Nachbarschaft wohnen, damit sie mich am Wochenende besuchen können", erklärt sie. "Und wenn sie Hilfe brauchen, bin ich jederzeit für sie da."
(Deutsch von Jessika Steckenborn)