10.05.2025

Taiwan Today

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"Hier spielt die Musik"

01.07.1995
Seit 15 Jahren findet im Welthandelszentrum Taipei alljährlich die Computermesse "Computex Taipei" statt. Aussteller aus aller Welt kommen hier zusammen, um die neuesten Entwicklungen in der Computerherstellun zu präsentieren.
Taiwan: Die Inselchinesen streben mit ihrer Computerindustrie an die Weltspitze

Die aus Berlin stammende Dr. Gabriele Venzky promovierte 1964 an der Universität München. Nach einem Aufenthalt an der Stanford Universität in den USA 1965/66 arbeitete sie als Politikredakteurin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT. Seit 1981 ist sie Asienkorrespondentin für elf namhafte deutsche Zeitungen, darunter DIE ZEIT, die Frankfurter Rundschau, der Kölner Stadtanzeiger und die Hannoversche Allgemeine. Der hier vorgestellte Artikel "Hier spielt die Musik" erschien erstmals am 31. März 1995 in DIE ZEIT. Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Wang Yan-jang strotzt vor Selbstbewußtsein. Unverständlich ist das nicht. Der 44jährige arbeitet in einer Branche, die wie keine andere explodiert in Taiwan - der Computerindustrie - und er ist Vizepräsident einer Gesellschaft, die nur drei Jahre nach ihrer Gründung bereits zwanzig Millionen Dollar Umsatz erreicht und schwarze Zahlen schreibt. Hinter Ambit, so heißt das junge Unternehmen, stehen allerdings auch potente Eigentümer. Mit je fünfzig Prozent an Ambit beteiligt sind Acer, Taiwans größter Computerhersteller, der vor sechzehn Jahren in einer Art Garage begann und nun einen Umsatz von drei Milliarden Dollar macht, und Temic, eine Tochter des größten deutschen Industriekonzerns Daimler-Benz. Acer und Ambit sind Beispiele dafür, daß Taiwan dabei ist, sich in der Computerindustrie an die Weltspitze durchzuboxen. Das Land hat einen entscheidenden Standortvorteil. Der riesige, gewinnträchtige Markt Chinas liegt direkt vor der Haustür.

Ambit legte einen Schnellstart hin. Nur sechs Monate nach Baubeginn wurde in der neuen Fabrik die Massenproduktion von High-Tech-Mikroelektronik aufgenommen, ein Jahr später waren die Anlaufverluste getilgt. Heute ist Ambit in Taiwan ein führender Hersteller der auf winzige Größen geschrumpften "Nervenzentren" von Computern, von Multi-Chip-Modulen und Motherboards.

Solch atemberaubendes Tempo ist typisch für Taiwan. Manager und Politiker des kleinen Inselstaates glauben nur so eine Chance zu haben gegen die ebenfalls keineswegs schlafende Konkurrenz in der Region und den mächtigen Giganten auf dem Festland mit seinen 1,3 Milliarden Menschen, der das "andere China" mit seinen 21 Millionen Einwohnern lediglich als abtrünnige Provinz betrachtet. Neunzig Tage vom Reißbrett bis zur Produktion, das ist die Norm, Hochtechnologie die Formel fürs Überleben. Auf den Lorbeeren des ersten Wirtschaftswunders, das Taiwan vom Hungerleider zum nach Japan zweitgrößten Wirtschaftsfaktor in Asien gemacht hat, ruht sich hier niemand aus. Systematisch und entschlossen wird nun das zweite Wirtschaftswunder geplant.

Vom Hsinchu-Wissenschaftspark außerhalb von Taipei, einer staatlich finanzierten Kopie von Silicon Valley, soll es seinen Ausgang nehmen: Es bietet Bauplätze an und fertige Fabriken, Forschungslabors und nahe gelegene Universitäten für die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte, Lebensqualität für Wohnen und Leben im Grünen samt Schulen und Krankenhäusern. Bis vor zwei, drei Jahren kümmerte das ehrgeizige Projekt vor sich hin, doch dann kam plötzlich Leben ins Gelände. Aus dem rezessionsgeplagten Amerika mit seinen hohen Arbeitslosenraten kehrten über 20 000 hochqualifizierte Techniker und Wissenschaftler zurück und brachten nicht nur Geld, sondern vor allem Know-how mit, besonders im Bereich Informationstechnologie. Mehr als tausend von ihnen kamen in den Wissenschaftspark, der ihnen die besten Startmöglichkeiten bot. Der Staat ist mit billigen Krediten, modernsten Forschungslabors und steuerlichen Anreizen generös zur Stelle. Teure Hochtechnologie als Exportgut statt billiger Massenprodukte - das wird mit viel Aufwand gefördert. Weit über die Hälfte der 160 im Park operierenden Firmen werden von Amerika-Rückkehrern betrieben, und da der Park nun voll ist, plant man jetzt eine ganze Wissenschaftsstadt.

Auch der Ingenieur Wang und Vizechef von Ambit ist ein Rückkehrer. "Amerika ist nicht mehr spannend", sagt er, "hierzulande spielt die Musik." Natürlich will er auch seinen Lebensstandard halten, wenn nicht verbessern. "Das ist nur noch in Asien möglich", glaubt er. Über die in Deutschland angestrebte 35-Stunden-Woche und Maschinenlaufzeiten von fünf Tagen können sich Wang und jeder andere in Taiwan nur wundern. "Ich bin gegen jede Form der Ausbeutung", sagt Stan Shih, der Chef von Acer und ein ganz früher Amerika-Heimkehrer, "aber man muß sich heutzutage ganz schön ranhalten, wenn man nicht untergebuttert werden will." Hundert Millionen Dollar gibt Shih gerade für eine große Werbekampagne aus, um den eigenen Markennamen in aller Welt bekannt zu machen. Das gleiche tut die Nummer zwei in Taiwan, die First International mit ihrem Markennamen Leo. Bisher verbargen sich beide als Zulieferer unter dem Logo großer westlicher Firmen wie IBM, Apple oder Texas Instruments. Doch nun bekennt man selbstbewußt Farbe.

Der Hsinchu-Wissenschaftspark außerhalb Taipeis bietet alles, was das Wissenschaftler- bzw. Technikerherz begehrt: fertige Fabriken, Forschungslabors und Wohnen im Grünen.

Taiwans Computerindustrie fängt an, in einzelnen Segmenten den Weltmarkt zu beherrschen. In den Bereichen Motherboards, Monitore, Mäuse und Scanner läßt sie kaum noch Nischen für andere, und jetzt sollen die letzten verschlossenen Bereiche erobert werden: Mikroprozessoren, also die "Gehirne" der Computer, und Halbleiter. Taiwan war im Jahr 1994 die Nummer vier im Bereich der Informationstechnologie nach den USA, Japan und Deutschland und hat Hardware und Software im Wert von dreizehn Milliarden Dollar produziert. Die letzte Computermesse in Taipei wurde von Hunderttausenden junger Taiwaner geradezu gestürmt. "Fortschritt, das ist unser Lebensziel", sagte ein 22jähriger Technikstudent.

Fast genüßlich werden in den taiwanischen Zeitungen die Wirtschaftsstatistiken aus dem Westen veröffentlicht: neunzehn Millionen Arbeitslose in Europa, Wachstum irgendwo bei zwei Prozent. Daneben stehen die jüngsten Erfolgsmeldungen aus dem eigenen Land: Exporte in Höhe von 85 Milliarden Dollar in den ersten elf Monaten des Jahres, ein Plus von fast neun Prozent; Handel mit China (indirekt über Hongkong, da direkte Kontakte offiziell noch verboten sind) im Wert von achtzehn Milliarden Dollar, ein Plus von zwanzig Prozent gegenüber dem Vorjahr; Wirtschaftswachstum sechs Prozent. Kleine und mittlere Betriebe, die der Motor des Landes sind, beschwören die Regierung, mehr Gastarbeiter ins Land zu lassen. "Wir haben mehr Aufträge, als wir ausführen können", sagt Kugellagerproduzent Chen Chun-hong. "Ich kann nur noch abwimmeln." Der asiatisch-pazifische Raum ist für Taiwan zur Haupthandelsregion mit 74 Prozent der Ausfuhren geworden. Europa spielt im Bewußtsein ganz Asiens eine immer geringere Rolle.

Auf der Suche nach neuen Standorten für seine alten, arbeitsintensiven Industrien - "Wir lassen jetzt sticheln", wie es einer der alten Textilbarone ausdrückt -, hat sich das kleine Taiwan ganz Südostasien und China erobert. In den meisten Ländern sind Investoren aus Taiwan die Nummer eins (wie in Vietnam) oder die Nummer zwei (wie nach Hongkong in China). Nur noch gut 28 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der verarbeitenden Industrie Taiwans, dort freilich in Bereichen mit hoher Wertschöpfung.

Dementsprechend hoch ist der Lebensstandard. Heute schon hat Taiwan ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 11 000 Dollar und damit fast viermal mehr als die Chinesen auf dem Festland und ein Bruttoinlandsprodukt von 252 Milliarden Dollar. Bereits für das Jahr 2000 ist mit 20 000 Dollar Einkommen und einem Inlandsprodukt von 400 Milliarden Dollar der Eintritt in den exklusiven Kreis der hochindustrialisierten Nationen geplant. Das kleine Taiwan ist die dreizehntgrößte Handelsnation der Welt, verfügt über die zweit höchsten Devisenreserven und ist der siebtgrößte Auslandsinvestor.

Derartige Wirtschaftsstärke macht selbstbewußt. Taiwan, das zugunsten Chinas von fast der ganzen Welt fallengelassen wurde, die aber gleichwohl gerne Geschäfte mit der kleinen Inselrepublik macht, drängt mit Macht in internationale Organisationen wie OECD, den Gatt-Nachfolger WTO, Weltbank und Internationalen Währungsfonds, APEC, das Forum für asiatisch-pazifische Wirtschaftszusammenarbeit, wo immerhin schon vierzig Prozent des Welthandels abgewickelt werden, aber auch in den Vereinten Nationen.

Peking hat derartiges Streben bisher mit drohender Gebärde verhindert, besteht auf dem Entweder-Oder. Aber das erfolgreiche Taiwan ist es leid, sich herumschubsen zu lassen. "Wir sind doch keine Aussätzigen", sagen alle Politiker bis hinauf zum Premierminister. "Wir fordern Fairneß und Gerechtigkeit." Tatsächlich dürfte es der Außenwelt immer schwerer fallen, die Augen vor der Realität zu verschließen. Denn Taiwan ist ein zu gewichtiger Faktor in Ostasien geworden, um es ignorieren zu können. Dies gilt um so mehr, seit die regierende nationalistische Kuomintang in bemerkenswerter Flexibilität den bisherigen autokratischen Kurs zugunsten von mehr Demokratie aufgegeben hat. Bei den Wahlen Anfang Dezember gewann die vor sieben Jahren noch verfolgte Opposition den "Kopf des Landes", die 2,5-Millionen-Hauptstadt Taipei, ein Warnsignal für die selbstherrliche Kuomintang, die sich nun sehr schnell reformieren muß, wenn sie in eineinhalb Jahren die Präsidentschaftswahlen gewinnen will.

"Wir sind die erste chinesische Demokratie der Welt", sagt Präsident Lee Teng-hui, und sein Premier Lien Chan ergänzt: "Das ist ein Modell." Für China, versteht sich, und dementsprechend nervös reagiert denn auch Peking. Eine Unabhängigkeit Taiwans werde man mit militärischen Mitteln verhindern, droht es vom Festland und erschreckt die Taiwaner, die in diesem Herbst den Bestseller "T-Day" ("Taiwan-Day") gelesen haben, in dem eine Invasion im nächsten Jahr in allen Einzelheiten beschrieben wird. Bei einer Meinungsumfrage sagten ein Drittel der Befragten, sie würden am liebsten auswandern.

Unabhängigkeit oder Status quo, das sind die politischen Zukunftsmodelle, die das gesamte Denken beherrschen. Denn Chinas Schatten lastet schwer auf der Insel. Die regierende Kuomintang bietet sich als Garant der Stabilität und des wirtschaftlichen Fortschritts an, möchte so weitermachen wie bisher und träumt von einem sehr fernen Ziel der Wiedervereinigung. "Wenn China sich uns wirtschaftlich und demokratisch angeglichen hat", so ein Minister. Auf Regierungsebene tun sie alle so, als ob sie 1997 nichts angehe, das Jahr, in dem Hongkong an China zurückfällt. Über die britische Kronkolonie wickelt Taiwan seinen ganzen indirekten Chinahandel ab. Gut dreißig Milliarden Dollar haben Taiwaner in China investiert, 30 000 Fabriken arbeiten dort für sie. Doch noch vor 1997 muß Taiwan sich entscheiden, welchen Weg es politisch geht und wie es wirtschaftlich weitermachen will.

Vincent Siew, bislang oberster Wirtschaftsplaner Taiwans und seit neuestem Vorsitzender des entscheidenden Mainland Affairs Council (MAC), möchte Taiwan zum Tor für den asiatischen, vor allem chinesischen Markt machen, Drehscheibe und Brückenkopf zugleich. "Wir haben Einzigartiges anzubieten", sagt er. "Die geographische Lage, hochqualifizierte Arbeitskräfte, ausreichendes Kapital, ein etabliertes Handelsnetz und enge kulturelle und sprachliche Verbindungen zum Festland." Wie freilich die Drehscheibe funktionieren soll, wenn der direkte Zugang zum Festland verboten ist, kann auch Siew nicht beschreiben. Die Wirtschaft drängt seit langem, die teuren und langwierigen Umwege über Drittländer aufzugeben, und in Taipei halten sich hartnäckig die Gerüchte, daß die Schranken bald fallen werden. Schließlich sind Pragmatismus und Realismus das neue Leitmotiv Taiwans. In Taipei hofft man, daß dies auch für das andere China, jenseits der 200 Kilometer schmalen Meerenge, gilt. Aber sicher ist sich niemand.

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