Obgleich Chen Hui-chun(陳慧君)sich selbst schon seit langem für eine Buddhistin hält, kann sie nicht genau sagen, wann sie zu einer geworden ist. Sie erinnert sich, daß ihre Mutter sie als Kind mit zum Tempel genommen hat, wo sie Räucherstäbchen entzündeten und Opfergaben in Form von Lebensmittelkonserven, Gebäck und Obst darbrachten. Sie lernte auch, den buddhistischen Gesang "Amitabha" zu rezitieren, wenn sie spirituelle Kraft nötig hatte. Bis vor kurzem hat sie jedoch nie ernsthaft darüber nachgedacht, was es wirklich bedeutet, eine Buddhistin zu sein, und sie hatte bis dahin noch nie eine buddhistische Schrift gelesen.
Vor zirka fünf Jahren bemerkte Chen, daß die Menschen in ihrer Umgebung ein tieferes Interesse am Buddhismus entwickelten. "Plötzlich trugen alle Gebetsarmbänder am Handgelenk", erinnert sie sich. "Bücher über Zen und buddhistische Kultur tauchten auf den Bestsellerlisten auf, und ständig gab es Ankündigungen für buddhistische Vorträge, Meditationskurse und Besinnungsworkshops." Als eine Freundin sie einem Mönch vorstellte, war sie von seiner Redekunst beeindruckt genug, um an einer Zeremonie teilzunehmen, die sie zu einer seiner Anhängerinnen machte. "Ich wußte so gut wie nichts über die Religion", sagt sie, "aber ich genoß es, Leuten zuzuhören, die die Dinge aus einer buddhistischen Perspektive betrachteten, welche immer versöhnlicher ist. Ich wollte das 'reine Land' des Buddhismus in dieser chaotischen Gesellschaft finden."
Verwirrt und überfordert durch den rasanten gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre wenden sich viele Bürger der Religion zu, insbesondere dem Buddhismus. In Meditationskursen lernen sie, zu entspannen und sich vom Alltagsstreß zu erholen.
Tausende von Bürgern aus ganz Taiwan haben in den letzten zehn Jahren die gleiche Erfahrung wie Chen gemacht und die Zahl der Buddhismus-Anhänger phänomenal in die Höhe schnellen lassen. Laut Angaben des Innenministeriums ist die Anhängerschaft des Buddhismus von 800 000 Gläubigen im Jahr 1983 auf 4,8 Millionen im Jahr 1993 angewachsen - ein Anstieg um 600 Prozent. Die Anzahl der eingetragenen Tempel hat sich im gleichen Zeitraum von 1157 auf 4020 erhöht, und heute gibt es über neuntausend Mönche und Nonnen im Vergleich zu den 1983 gezählten 3470.
Andere Glaubensrichtungen konnten in den letzten Jahren ebenfalls regen Zulauf verzeichnen. Der Taoismus - vor 1984 führende Religion der Insel - hat während der letzten zehn Jahre über zwei Millionen Gläubige hinzugewonnen und kommt auf eine Gesamtzahl von 3,6 Millionen Anhängern. Christliche Kirchen, vornehmlich die katholische und die presbyterianische, erhöhten ihre Mitgliederzahlen von 600 000 auf über 700 000. Den größten Zuwachs gab es jedoch beim Buddhismus.
Die Religion zieht jedoch nicht nur neue Anhänger an. Die steigenden Zahlen reflektieren die fundamentale Veränderung der Art und Weise, wie der Buddhismus auf Taiwan seit Jahrhunderten praktiziert worden ist. Der Philosophieprofessor Yang Hui-nan(楊惠南)erklärt, daß der Buddhismus in erster Linie durch mehr Präsenz und Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft Anhänger gewinne. "Anstatt passiv hinter Tempelmauern zu singen und zu meditieren, gehen Mönche und Nonnen auf die Straßen hinaus, um ihre Religion bekanntzumachen", sagt Yang. "Sie halten Vorträge, lehren Meditation und geben Bücher heraus. Während des letzten Jahrzehnts haben buddhistische Gruppen aggressiver denn je versucht, neue Anhänger anzuziehen."
Gleichzeitig sind die Bürger aufgeschlossener für die eifrigen Bemühungen religiöser Führer geworden. Yang schreibt dies dem rapiden sozialen Wandel zu, der sich auf Taiwan vollzogen hat. "Chaotische Zeiten sind Zeiten der Religion", sagt er. "Die Menschen brauchen etwas Spirituelles, woran sie sich klammern können." Doch dies liefert keine Erklärung dafür, warum der Buddhismus erheblich mehr Anhänger als andere Religionen gewinnt. "Das ist tatsächlich darauf zurückzuführen, daß die Mönche und Nonnen auf die Menschen zugehen", meint Yang. "Darin liegt der Unterschied."
Meister Sheng-yen steht der Dharma-Drum-Mountain-Stiftung vor. Er hält seine Anhänger zum aktiven Engagement für den Umweltschutz an. Das Ziel sei nicht nur die Erhaltung der natürlichen Umgebung, sondern auch "eine Reinigung der Seele", so eine seiner Schülerinnen.
Dieser Trend, sich in die Gesellschaft zu begeben, geht auf das in den dreißiger Jahren durch den festlandchinesischen Mönch Tai-hsu(太虛)vertretene Konzept eines "weltlichen Buddhismus" zurück. (Wie alle Mönche und Nonnen nahm Tai-hsu den Familiennamen Shih [釋] an, ist aber unter seinem Vornamen bekannt. Die jüngeren und weniger profilierten werden mit dem Titel "Ehrwürdiger" angeredet, während solche von höherem Rang "Meister" genannt werden.) Meister Tai-hsu stellte sich gegen die Prinzipien der "Reines-Land-Sekte" - bis dahin in China die einflußreichste Schule des Buddhismus -, welche ihre Anhänger zur Konzentration auf den Versuch anhielt, durch Gebete und Gottesverehrung ins Nirwana zu gelangen. Er war der Verfechter eines mitten in der realen Welt stehenden Buddhismus. Einige seiner Schüler bauten seine Ideen aus, besonders der bekannte Mönch Yin-shun(印順), der die Botschaft seines Lehrers in den fünfziger Jahren nach Taiwan brachte. Meister Yin-shun hielt das Ausrichten religiöser Bestrebungen auf die Suche nach dem Nirwana für Wirklichkeitsflucht. Wie sein Mentor ermutigte er seine Schüler, eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen.
Ein weiterer wichtiger Faktor aus den Anfängen der hiesigen Bewegung war das in den sechziger Jahren erstmals erschienene Magazin Fackel der Weisheit (Torch of Wisdom). Indem sie beim Aufbau eines Netzes von Universitätsklubs half und Anklang bei jungen Intellektuellen fand, zog die Zeitschrift mehr Anhänger an, die eher am Studium buddhistischer Lehren als der Teilnahme an oberflächlichen Gebetsritualen interessiert waren.
Doch der weltliche Buddhismus wurde erst Anfang der achtziger Jahre wirklich populär, als einige Mönche und Nonnen durch ihr praktisches Vorgehen weitreichende Aufmerksamkeit erregten; nicht nur beim Werben um neue Anhänger und Spenden, sondern auch beim Einsatz für wohltätige und soziale Projekte. Heute stehen die Mitglieder dieser Spitzengruppe wichtigen Tempeln und Stiftungen vor, und in einigen Fällen sind ihre Namen praktisch jedem Bürger ein Begriff.
Meister Hsing-yun(星雲)zum Beispiel hat sich als der Führer von Fokuangshan, der größten Vereinigung buddhistischer Tempel auf Taiwan, ein äußerst populäres Image aufgebaut. Er hat explizit seine Absicht geäußert, die Ideale des Meisters Tai-hsu zu verwirklichen und vermittelt seine Botschaft auf Großveranstaltungen, durch Magazine und Bücher sowie mittels buddhistischer Fernsehsendungen. Meisterin Cheng-yen(證嚴), eine Schülerin von Meister Yin-shun, leitet die größte und bekannteste Wohltätigkeitsorganisation der Insel, die Buddhistische Tzu-Chi-Wohlfahrtsstiftung, welche ein Krankenhaus unterhält und der eine Million aktive Mitglieder angehören. Wie die meisten hochrangigen Buddhisten erscheint Meisterin Cheng-yen regelmäßig in den Medien, oft auch in Begleitung von Berühmtheiten und Politikern. Im letzten Jahr war Präsident Lee Teng-hui bei der Eröffnung des medizinischen Colleges der Tzu-Chi-Stiftung zugegen.
Heute übernehmen viele Mönche und Nonnen noch weiter von der Tradition entfernte Aufgaben und setzen sich für alles von höherer Ausbildung bis zum Umweltschutz ein. Meisterin Hiu-wan(曉雲)gründete zum Beispiel im letzten Jahr das erste buddhistische College der Insel, und Meister Sheng-yen(聖嚴)von der Dharma-Drum-Mountain-Stiftung für Kultur und Bildung hat mehrere Umweltschutzprojekte unternommen und über 150 000 US$ für Drogenrehabilitationsprogramme in Städten und Landkreisen gesammelt. Andere sind zu regelmäßigen Teilnehmern an Veranstaltungen zum Schutz wildlebender Tiere und Anti-Atomkraft-Protesten geworden.
Laut Professor Yang Hui-nan ist der die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellende Ansatz, der sich unter den Buddhisten Taiwans entwickelt hat, nichts Neues in der Geschichte der Religion. Wenn die Buddhisten in den vergangenen Jahrhunderten von den Herrschern Chinas unterdrückt und verfolgt wurden, zogen sie sich in ihre Klöster zurück. Wann immer man ihnen jedoch wohlgesinnt war, wie im 9. und 10. Jh. in der Tang-Dynastie, kamen sie hervor und nahmen an der Welt teil. "In der Tang-Dynastie leisteten buddhistische Gruppen Großes für die Gesellschaft", sagt Yang. "Sie eröffneten Banken und vergaben zinslose Kredite an Arme. Sie richteten Heime ein, in denen Bedürftige vorübergehend Unterschlupf fanden. Sie taten alles nur Erdenkliche." Der chinesische Buddhismus, erklärt er, habe die Mönche und Nonnen ursprünglich gelehrt, ihre Mission sei nicht nur ihre eigene Erlösung, sondern die aller Lebewesen. Der gegenwärtige Trend ginge wieder in diese Richtung. "Ich würde es eine Renaissance des Buddhismus nennen", sagt Yang.
Den größten Eindruck haben die buddhistischen Gruppen auf Taiwan jedoch durch gutorganisierte Wohltätigkeitsdienste gemacht. Seit 1993 unterhalten bzw. unterstützen sie nach Angaben des Buddhistenverbandes der Republik China durch großzügige finanzielle Hilfe sieben Hospitäler, zehn Altenheime, fünf Waisenhäuser und drei Kliniken. Und von den US-Dollar-Millionen, die den buddhistischen Gruppen jährlich an Spenden zukommen, wird mehr als ein Drittel als Hilfszahlungen an arme Familien oder Opfer von Naturkatastrophen weitergeleitet.
Wenn auch fast jede buddhistische Organisation und viele Tempel Wohltätigkeitsarbeit leisten, stand die Tzu-Chi-Stiftung schon immer an vorderster Front. Im Laufe der Jahre hat sie Zehntausenden von bedürftigen Familien durch finanziellen Beistand, medizinische Versorgung, Reparaturen am Haus und andere Freiwilligendienste geholfen.
Das 1986 in Hualien gegründete Tzu-Chi-Krankenhaus ist das größte Hospital im Osten Taiwans, einer Gegend, wo die medizinische Versorgung seit jeher unter dem Landesdurchschnitt lag. Das Krankenhaus hat 750 Betten und eine Poliklinik, in der pro Tag zirka 1500 Patienten behandelt werden. Die Kranken zahlen gemäß ihren finanziellen Möglichkeiten. Außerdem beteiligte sich die Tzu-Chi-Stiftung an der Einrichtung der ersten Datenbank für Knochenmarkspender auf der Insel und konnte rund 50 000 Bürger dazu bewegen, sich zu melden und Untersuchungen auf ihre Tauglichkeit als potentieller Spender über sich ergehen zu lassen. Das Ergebnis ist die längste Liste ethnisch chinesischer Knochenmarkspender.
Das 1986 in Hualien gegründete Tzu-Chi-Krankenhaus (Bild oben) ist das größte Hospital im Osten Taiwans. Das Foto unten zeigt das ihm angeschlossene medizinische College.
Die Eröffnung einer Zweigstelle des Krankenhauses im Landkreis Chiayi im Süden der Insel ist ebenfalls geplant. Wiederum steht dahinter die Intention, medizinische Versorgung dorthin zu bringen, wo sie am nötigsten ist. In diesem Landstrich kommen auf 10 000 Einwohner lediglich sieben Krankenhausbetten, was weit unter dem inselweiten Durchschnitt von 46 Betten liegt. "Wir versuchen, die von den öffentlichen Gesundheitsbehörden offerierten Dienstleistungen nicht zu kopieren", sagt Hsu Hsiang-ming(徐祥明)von der Hauptverwaltung der Tzu-Chi-Stiftung. "Wir haben nicht die Absicht, stellvertretend Dienste zu übernehmen, die Sache der Regierung sind; wir wollen ihre Arbeit nur ergänzen."
Meisterin Cheng-yen, die Gründerin der Stiftung, begann 1966 mit einer kleinangelegten Spendenaktion für Bedürftige. Sie rief Hausfrauen dazu auf, einen kleinen Betrag von ihrem täglichen Einkaufsbudget zu stiften. Gleichzeitig sammelte eine Gruppe von Anhängern Geld mit dem Verkauf von selbstgefertigten Babyschuhen. Heute hat sich Tzu-Chi von einer Organisation mit dreißig Mitgliedern zu einer mit zirka zehntausend Freiwilligen und über einer Million aktiven Mitgliedern entwickelt. Weitere zwei Millionen Menschen werden auf der Spenderliste geführt. Durch diese Spenden nimmt die Stiftung jährlich einige Millionen US-Dollar ein. Darüber hinaus hat Tzu-Chi eine Vereinbarung mit der Chinatrust Commercial Bank, welche ihren Kunden die besondere "Lotus-Kreditkarte" anbietet. Von jedem mit dieser Kreditkarte getätigten Kauf spendet die Bank ungefähr 0,3 Prozent des Kaufpreises an die Stiftung.
Katastrophenhilfe ist ein weiteres Gebiet, um das sich buddhistische Organisationen besonders verdient machen. Als zum Beispiel im letzten Sommer eine Serie von Taifunen über die Insel hinwegfegte, was in Zentral- sowie Südtaiwan zu einer schweren Hochwasserkatastrophe führte, leistete die Tzu-Chi-Stiftung zusammen mit einigen anderen buddhistischen Gruppen schnelle Hilfe. "Wir organisierten in verschiedenen Gegenden Nothelfergruppen, welche die Kreisregierungen beim Transport von Lebensmitteln, Kleidern und Trinkwasser in die Flutgebiete unterstützten und der Polizei bei den Rettungsarbeiten halfen", sagt Yang Liang-ta(楊亮達), der ehrenamtlich Spenden für die Stiftung sammelt. Die Nothilfe ging auch nach Sinken des Hochwassers weiter. "Freiwillige säuberten die Straßen, reparierten beschädigte Zäune und stellten sich an den Straßenecken zum Spendensammeln auf", berichtet Yang.
Auch beim Ausdehnen der Nothilfe auf das Ausland nimmt die Tzu-Chi-Stiftung eine Vorreiterstellung ein. 1991 wurde sie zur ersten Wohltätigkeitsorganisation Taiwans, die in Festlandchina Katastrophenhilfe leistete, und sammelte fast zwölf Millionen US$ für die Opfer der Überschwemmungen am Unterlauf des Jangtse. Viele Freiwillige fuhren auf eigene Kosten in die betroffenen Dörfer und halfen beim Wiederaufbau von Häusern und Schulen. Die Stiftung hat außerdem Hilfsgüter und Freiwillige zur Katastrophenhilfe in die Mongolei, nach Äthiopien, Nepal und Bangladesch geschickt. In Ruanda war Tzu-Chi im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit der in Paris ansässigen Gruppe Médecins du Monde ein wichtiger Lieferant medizinischer Versorgungsgüter. Obwohl die Organisation dafür kritisiert worden ist, daß sie im Ausland aktiv ist, anstatt ihre Wohltätigkeitsarbeit ausschließlich auf Taiwan zu konzentrieren, hält sie auch weiterhin daran fest, andere Länder in ihre Hilfsaktionen einzubeziehen. "Früher empfing Taiwan Hilfe aus dem Ausland - da wir jetzt in der Lage sind, Hilfe anzubieten, fühlen wir uns dazu verpflichtet, diese zu leisten", sagt Yang. "Sollte Mitgefühl nicht Rasse, Nationalität und geographische Distanzen überwinden?"
Die von Gruppen wie Tzu-Chi unternommene, umfangreiche Wohltätigkeitsarbeit hat dem weltlichen Buddhismus zu einem Aufschwung verholfen. "Unsere Meisterin [Cheng-yen] sagt, das Ziel eines echten Buddhisten sei die Verwirklichung buddhistischer Ideale und nicht das Studium des Buddhismus per se", sagt Hsu Hsiang-ming von der Tzu-Chi-Verwaltung. "Die wahre Bedeutung des Buddhismus liegt im Handeln. Bei Tzu-Chi setzen wir Worte in Taten um."
Die Bildung ist ein weiterer Einflußbereich, in dem Buddhisten in immer größerem Maße von sich reden machen. Buddhistische Klubs spielen mit neunzig in Universitäten aktiven Vereinigungen fortgesetzt eine Rolle. Darüber hinaus gibt es auf ganz Taiwan mehr als dreißig der Religion verschriebene Institute, und buddhistische Gruppen unterstützen zirka siebzig Kindergärten und ein halbes Dutzend Mittelschulen.
Doch die bedeutendste Entwicklung im Bildungsbereich war das 1990 von der 83jährigen Meisterin Hiu-wan im Kreis Taipei gegründete Huafan-College für Geisteswissenschaften und Technologie. Taiwans erste buddhistische Lehranstalt für eine vierjährige Collegeausbildung hat rund eintausend Studenten und Abteilungen für Industriemanagement, Ingenieurwesen, Architektur, Industriedesign, chinesische Literatur und Fremdsprachen sowie deren Literatur. Außerdem bietet das College ein Magisterinstitut für asiatische Geisteswissenschaften.
Meisterin Hiu-wan, eine durch ihre Lehrtätigkeit an Grund- und höheren Schulen sowie an Universitäten erfahrene Pädagogin, kam zuerst in den sechziger Jahren auf den Gedanken, ein buddhistisches College zu eröffnen. Ihre Freunde ermutigten sie, indem sie besonders betonten, daß es in Taiwan protestantische und katholische, jedoch keine buddhistischen Colleges gab. Obgleich ein von der Regierung erlassener Gründungsstopp für neue Hochschulen ihr Vorhaben unmöglich machte, konnte sie 1980 ein kleines Institut für sino-indische Buddhismusstudien ins Leben rufen. Als der Stopp 1986 aufgehoben wurde, fand sie ein Grundstück und machte sich daran, das nötige Geld aufzutreiben. Damit begann die vielseitige Künstlerin zunächst, indem sie ihre Bilder in Hongkong und anderen Orten verkaufte. Ihre Anhänger unterstützten sie ebenfalls nach Kräften und führten eine Reihe von Geldsammelaktionen durch. Schließlich hatten sie das von der Regierung für die Gründung einer Universität festgelegte Mindestkapital in Höhe von zwölf Millionen US$ zusammen, und Meisterin Hiu-wan konnte mit dem Bau ihrer Bildungsstätte beginnen. Die gegenwärtigen Spendenaktionen sind nach wie vor eher auf relativ geringe Privatbeiträge als das Bemühen um große Sponsoren ausgerichtet. "Wir vermeiden es, Geld von großen Firmen anzunehmen", sagt Meisterin Hiu-wan. "Wir möchten nicht, daß aus ihnen bedeutende Investoren werden, da sich dies negativ auf unsere ursprünglichen Bildungsideale auswirken könnte. Geld ist entscheidend, aber wir können es nicht von jeder Quelle akzeptieren."
Neben den Standardfächern belegen die Studenten des Colleges auch Kurse in buddhistischer Philosophie. "Ich möchte meinen Studenten und dem Lehrkörper vermitteln, ihr Wissen und ihre Barmherzigkeit zu kultivieren und einen guten Einfluß auf andere auszuüben", sagt Meisterin Hiu-wan. "Mit der Gründung dieser Schule habe ich ein paar Samen gepflanzt, die hoffentlich keimen und zu einem Baum gedeihen werden, der mehr Saat verbreiten und die Welt verbessern kann."
Drei weitere durch buddhistische Gruppen unterstützte Universtitäten befinden sich ebenfalls im Bau. Im vorletzten Jahr begann die Dharma-Drum-Mountain-Stiftung im Landkreis Taipei mit dem Bau einer Hochschule für Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Schwerpunkt der Schule wird auf religiösen Studien und Übersetzungen liegen, und sie wird in einigen Jahren ihre Pforten öffnen. Die von der Buddhistischen Kultur- und Bildungsstiftung gesponserte und in der Stadt Hsinchu im Norden der Insel gelegene Hsuan-tsang-Universität (benannt nach einem berühmten Mönch der Tang-Dynastie) plant, ab 1996 Studenten aufzunehmen.
Ihrer Fertigstellung am nächsten ist eine von Fokuangshan gebaute geisteswissenschaftliche Universität im Landkreis Ilan in Osttaiwan. In diesem Jahr wird sie mit der Zulassung von Studenten beginnen. Fokuangshan fördert buddhistische Studien auch durch eine alljährliche Prüfung, die allen Interessierten die Chance gibt, ihr Wissen über die Religion zu testen. Die vor fünf Jahren erstmals durchgeführte Prüfung ist jetzt mit Versionen in über zehn verschiedenen Sprachen international. Im letzten Jahr nahmen rund 200 000 Menschen an einhundert Orten in aller Welt an dem Test teil.
Zahlreiche buddhistische Gruppen haben versucht, die Bürger durch Publikationen zu erreichen. Während kostenlose Broschüren und Rundschreiben schon seit langem in Tempeln und ähnlichen Orten ausliegen, geben viele Organisationen jetzt dicke, professionell gemachte Magazine heraus, mit denen sie zahlende Abonnenten anlocken können. Unter den 48 behördlich registrierten buddhistischen Periodika gehören das Monatsmagazin Universal Gate von Fokuangshan, Life von der Dharma-Drum-Mountain-Stiftung und das von einer Gruppe von Buddhismus-Anhängern veröffentlichte Golden Lotus zu den bekannteren.
Mit einer Auflage von weltweit rund 36 000 Exemplaren ist Universal Gate die größte und beeindruckenste dieser Publikationen. Nach ihrem Start 1979 als kleine Gratiszeitschrift, welche lediglich über die internen Angelegenheiten von Fokuangshan berichtete und die üblichen buddhistischen Heiligen auf dem Titelblatt zeigte, wurde das Magazin vor fünf Jahren neu gestaltet. In der Absicht, sowohl bei Gläubigen als auch bei Nichtgläubigen Interesse zu wecken, wurde Universal Gate größer, lebendiger und farbenfroher. Jetzt wird das Magazin zu einem Preis von zirka 4,50 US$ verkauft und unterscheidet sich kaum von anderen Zeitschriften. Auf den zweihundert Seiten finden sich Features und Kolumnen über Kunst, Gesellschaft und Psychologie sowie eine große Anzeigenvielfalt.
Das Magazin erhält sich seine religiöse Identität durch inspirative Artikel, in Comic strips verwandelte buddhistische Schriften, Berichte über in buddhistischen Kreisen kontrovers diskutierte Themen sowie Ankündigungen von Vorträgen, Seminaren, Besinnungsworkshops und anderen durch buddhistische Organisationen gesponserten Aktivitäten. Ehrwürdige Yung-yun(永芸), eine Nonne von Fokuangshan und Präsidentin von Universal Gate, sagt: "Ein Magazin kann ein wirkungsvolles Instrument zur Verbreitung des Buddhismus sein. Wir wollen Leser anziehen und Einfluß auf die Gesellschaft nehmen."
Neben der Zeitschrift unterhält Fokuangshan auch den Fo-Kuang-Verlag, der seit seiner Gründung 1959 rund dreihundert Bücher, Kassetten und Videobänder herausgebracht hat. Während man sich bei den frühen Publikationen auf ernste Werke wie Sutra-Sammlungen und hochgeistige Abhandlungen über Buddhismus konzentrierte, befinden sich unter den in jüngster Zeit veröffentlichten Titeln an ein breiteres Publikum gerichtete Literatur, darunter Prosa, Lyrik und Belletristik mit buddhistischen Themen. Einige der meistverkauften Werke, die in vielen Buchhandlungen und 24-Stunden-Märkten erhältlich sind, befassen sich mit Zen-Methoden zur Verbesserung der Gesundheit und des beruflichen Erfolgs.
Der Tempel hat eine separate Redaktions- und Kompilationsabteilung eingerichtet, wo zur Zeit mehrere Projekte laufen, darunter das Verfassen von Interpretationshilfen und Aussprachehandbüchern für klassische buddhistische Texte sowie das Übertragen solcher Texte in modernes Chinesisch. Ein weiteres Großprojekt ist ein buddhistisches Wörterbuch.
Meister Hsing-yun, der Leiter von Fokuangshan, ist selbst Schriftsteller - ein Grund dafür, warum die Gruppe soviel Gewicht auf das Verlegen legt. "Er hat die Biographien von Sakyamuni [dem Gründer des Buddhismus] und seinen Schülern verfaßt", sagt Ehrwürdige Yung-yun, "und er hat sogar eine Geschichte über einen Mönch geschrieben, aus der vor ein paar Jahren eine TV-Serie gemacht wurde." Auch Meister Hsing-yun selbst kann auf eine langjährige Bildschirm-Präsenz zurückblicken. 1979 brachte Fokuangshan erstmals regelmäßig einen buddhistisch orientierten TV-Spot auf den Bildschirm, welcher in den Jahren danach weiterhin in unregelmäßigen Abständen gesendet wurde. Heute hat die Organisation auf CTS, einer der drei Fernsehstationen Taiwans, täglich eine fünfminütige Sendung mit dem Titel "Meister Hsing-yun sagt." Zahlreiche andere Buddhistengruppen sind dem Beispiel Fokuangshans gefolgt und senden ihre eigenen Videoaufzeichnungen auf den von den vielen Kabelfernsehgesellschaften der Insel gesponserten religiösen TV-Kanälen.
Der Einsatz für den Umweltschutz ist eine weitere Methode, mit der buddhistische Gruppen Einfluß auf die Gesellschaft nehmen. Eine der auf diesem Gebiet führenden Organisationen, die Dharma-Drum-Mountain-Stiftung, machte den Anfang, indem sie ihren eigenen Tempel in ein Modell für Umweltbewußtsein verwandelte. Unter anderem benutzt man hier umweltfreundliche Reinigungsmittel auf Natronbasis, sammelt Flaschen und Papier zur Wiederaufbereitung und veranstaltet jährlich einen Flohmarkt, auf dem Bürger ihre gebrauchten Sachen weitergeben können, anstatt sie wegzuwerfen. Die Anhänger werden angehalten, wiederverwendbare Alternativen zu Plastiktüten, Einweg-Eßstäbchen, Styroportellern und anderen Wegwerfartikeln zu benutzen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter von Dharma-Drum sind ebenfalls bei vielen nachbarschaftlichen Aufräumaktionen dabei, und die Stiftung hat Geld gesammelt, um im Taipeier Zoo die Einrichtung eines Projekts zur Behandlung verwundeter Vögel zu unterstützen.
Ehrwürdige Kuo-hsiang(果祥), eine Nonne von Dharma-Drum, betont, die Stiftung habe diese Richtung nicht aus dem einfachen Grund eingeschlagen, weil Umweltschutz und -erhaltung zu heißen Themen geworden sind. "Wir springen nicht einfach auf einen fahrenden Zug auf", sagt sie. "Der Grund ist vielmehr, daß der Buddhismus uns seit zweitausend Jahren lehrt, nicht zu töten oder zu verschwenden; eine Philosophie, welche sich zufällig mit modernen Umweltschutzkonzepten deckt. Wir verbreiten den korrekten buddhistischen Weg." Die Philosophie ginge sogar darüber hinaus, erklärt Kuo-hsiang, indem sie zwischen dem Schutz des natürlichen Umfeldes und dem des geistigen eine Verbindung herstellt. "Unser Ziel ist es", sagt sie, "durch den Umweltschutz eine Reinigung der menschlichen Seele und eine Verbesserung des menschlichen Charakters zu erreichen."
Dharma-Drum kombiniert diese beiden Anliegen, indem die Stiftung beispielsweise die Bürger dazu auffordert, weniger verschwenderisch bei der Ausrichtung von Hochzeiten und Geburtstagsfeiern zu sein - beides Feierlichkeiten, die in der chinesischen Gesellschaft von hohen Ausgaben begleitet sind. Anstatt viel Geld für riesige Bankette und Unterhaltung auszugeben, fördert die Stiftung bescheidenere und bedeutungsvollere Veranstaltungen. Im Oktober letzten Jahres finanzierte Dharma-Drum eine Gruppenhochzeit mit einer einfachen Feier, der Vorträge darüber vorausgingen, wie man mit seinem Ehepartner auskommt. Und auf einer im letzten September abgehaltenen Gruppengeburtstagsfeier für Senioren hielten deren Kinder Reden, mit denen sie ihren Eltern für alles danken, was sie für sie getan haben.
Die auf Taiwan wachsende Tendenz zu immer extravaganteren Beerdigungen - einige Familien veranstalten Freiluft-Bühnenshows mit Sängern und gelegentlich sogar Striptease-Tänzerinnen - ist Dharma-Drum ebenfalls ein Dorn im Auge. "Die mobilen Bühnenshows sind unanständig und zerstören das Image Taiwans", sagt Kuo-hsiang. Selbst Standard-Beerdigungen, sagt sie, könnten problematisch sein. Diese können Wochen dauern, und oft werden dafür am Straßenrand oder in Gassen behelfsmäßige Zelte errichtet, welche den Verkehr behindern und Lärm verursachen. Gelegentlich werden großen Mengen von Totengeld als Opfergaben verbrannt; eine Praxis, deren Hintergrund zwar religiöser Natur ist, die jedoch auch die Luft verpestet. Im Dharma-Drum-Tempel finden Beerdigungen in einem bescheideneren Rahmen und auf einer geistlicheren Ebene statt. "Viele Rituale sind unnötig", sagt Kuo-hsiang. "Wir organisieren eine Gruppe aus Freiwilligen sowie einem Mönch oder einer Nonne, die Sutras singen. Wir verbrennen kein Totengeld, und wir verbrennen kaum Weihrauch."
Auch wenn die Zeremonien bei Dharma-Drum für gewöhnlich für Mitglieder und deren Familien abgehalten werden, hofft die Stiftung, daß die Botschaft schließlich weitere Kreise ziehen wird. Sie hofft darüber hinaus, daß die Bemühungen um selbstverantwortliches Handeln und die Vermeidung von Extravaganzen auch in den Alltag hineinreichen werden. "Wir wollen keine oberflächlichen Demonstrationen von Respekt und Höflichkeit unter den Menschen", sagt Kuo-hsiang. "Wir wollen, daß die Menschen sich ihren Familien und Nachbarn gegenüber verantwortlich fühlen und in allen Rollen, die sie spielen, moralisch handeln."
Die neuen Ansätze des weltlichen Buddhismus haben zwar Millionen neuer Anhänger angezogen, ihm aber auch Gegner eingebracht. Einige Kritiker sind der Meinung, daß Mönche und Nonnen durch übermäßiges Engagement für soziale Aktivitäten zu säkular geworden seien und daß die wahre Rolle des Buddhismus nur durch das Vertiefen in die Sutras und Meditieren in Isolation zu finden sei. Einige Gruppen praktizieren die Religion weiterhin nach diesen Prinzipien, aber die neuen Buddhisten verteidigen ihre Richtigung vehement. Ehrwürdige Kuo-hsiang von Dharma-Drum betont mit Nachdruck, daß Sakyamuni den Buddhismus praktizierte, indem er Kontakt zu den Menschen suchte. "Die einzige Zeit des Tages, die er mit der Interpretation der Schriften verbrachte", sagt sie, "waren zwei oder drei Minuten auf dem Weg in die Stadt, wohin er und seine Schüler jeden Tag zum Betteln um Almosen gingen. Sie versteckten sich nicht im Wald, sondern leisteten sehr viel Sozialarbeit. Mein Lehrer Meister Sheng-yen [der Gründer der Dharma-Drum-Mountain-Foundation] entschloß sich, den Buddhismus nach dem Vorbild Buddhas zu praktizieren."
Die Schüler anderer Meister äußern sich auf ähnliche Weise. Ehrwürdige Yung-yun von Fokuangshan zum Beispiel verteidigt den Gründer der Organisation gegen kritische Stimmen, die seinen Verlag, seine TV-Spots und andere Projekte für zu kommerzialisiert halten. "Einige Leute sagen , 'Oh, dieser Mönch', wenn sie an Meister Hsing-yun denken", sagt sie. "Das kommt daher, weil sie ihn nicht kennen. Er möchte auf jede ihm nur mögliche Art und Weise zu ihnen gelangen. Aus dem Grund hat er in Bürogebäuden in der geschäftigsten Gegend der Stadt Tempel eingerichtet und bedient sich moderner Methoden. Er hat uns gesagt, wir sollten uns nicht scheuen, neue Schritte zur Verbreitung des Buddhismus zu wagen."
(Deutsch von Christiane Gesell)