Wie die meisten Wahrsager ist Chen selbstbewußt und redegewandt. Obwohl er nur einen Mittelschulabschluß hat, ist sein Chinesisch reich an Zitaten aus den chinesischen Klassikern und buddhistischen Schriften. Seine Stimme ist voller Energie, und im Gespräch ruht sein freundlicher Blick aufmerksam auf dem Gegenüber.
Chen ist chinesischer Abstammung, wuchs aber in Burma auf. Vor 14 Jahren kam er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Chen Feng-shan(陳鳳山), der ebenfalls Wahrsager ist, nach Taiwan. Kurz nach ihrer Ankunft eröffneten sie ihre Firma "Wonder Ring Fortune Divination". Ihre Art des Wahrsagens beruht hauptsächlich auf Astrologie, wendet aber auch Theorien aus dem "I-Ching" und Handlesen an.
Ihr Geschäftssitz befindet sich im sechsten Stock eines Bürogebäudes in der Innenstadt Taipeis gegenüber dem Ritz Hotel. Die beiden arbeiten in Räumen, die nebeneinanderliegen und durch eine Trennwand mit eingelassenem Aquarium unterteilt sind. Die Chen-Brüder sind mit Frauen verheiratet, die ebenfalls aus ihrer Heimatstadt in Burma stammen. Beide Ehefrauen helfen im Geschäft mit, indem sie die Kunden begrüßen und Termine per Telefon arrangieren. Jedes Paar hat einen Sohn, der zur Oberschule geht.
Chen Yen-shan: Mein Bruder wurde fünf Minuten vor mir geboren. Dieser fünfminütige Abstand hat eigentlich keine allzu großen Auswirkungen auf unser Schicksal. (Lacht und zündet sich eine Zigarette an.) Ja, wir sind eineiige Zwillinge.
Wie wir Wahrsager geworden sind, ist kaum zu glauben. (Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette.) Meine Familie hatte nichts mit Wahrsagerei zu tun. Mein Vater war Pfarrer und meine Mutter eine tiefgläubige Christin. Wissen Sie, im allgemein glauben Christen nicht an Wahrsagerei. Ich glaube, unser Schicksal (Wahrsager zu werden) ist von den Göttern bestimmt worden. Und es war mein Schicksal, daß mein Vater mich früh verlassen sollte. Er starb, als wir erst drei Jahre alt waren. Ich glaube nicht, daß ich die Gelegenheit gehabt hätte, Wahrsager zu werden, wenn er noch am Leben gewesen wäre.
Ich ging auf eine chinesische Schule in Burma. Als ich vierzehn Jahre alt war, begann die anti-chinesische Bewegung. Wir waren gezwungen, unser Geschäft zu schließen, und unser Familienbesitz wurde konfisziert. Unsere Familie betrieb ein Kaufhaus in Burma; wir waren sehr reich. Das alles änderte sich über Nacht. Darum ging ich von zu Hause weg und zog durch die Gegend. Viele Jahre lang verdingte ich mich als einfacher Arbeiter. Das ist eine lange und traurige Geschichte. Wir wollen nicht ins Detail gehen. Mit 23 befand ich mich immer noch auf der Wanderschaft. Ich konnte nicht begreifen, warum mein Schicksal sich nicht so entwickelte, wie ich es erwartet hatte. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet: "Wenn du arm bist, gehst du zu einem Wahrsager. Wenn du reich bist, verbrennst du Weihrauch und betest zu den Göttern, daß sie dich beschützen mögen." Ich machte keine Ausnahme und ging also zu einem Wahrsager, allerdings mit einem schlechten Gewissen. Sie wissen, daß ich Christ war. Aber hey, ich hatte Glück! Der Wahrsager, den ich aufsuchte, war kein Hochstapler. Mein Leben änderte sich von Grund auf.
Der Wahrsager konnte fast mein gesamtes Leben bis zu jenem Zeitpunkt wiedergeben. (Zündet sich eine weitere Zigarette an.) Wie war das nur möglich? Konnte es nicht auch purer Zufall gewesen sein? Um ihn auf die Probe zu stellen, schickte ich Freunde von mir zu ihm. Insgesamt habe ich über dreißig Freunde zu ihm gebracht, und alle fanden ihn unwahrscheinlich genau in seinen Angaben. Schließlich gingen mein Bruder und ich zu ihm und baten ihn, uns das Wahrsagen beizubringen. Er hatte mir beim ersten Treffen gesagt, daß wir eines Tages Wahrsager werden würden. Zu jener Zeit dachte ich, er mache Witze. Wer hätte ahnen können, daß er recht haben sollte! Ha!
Offen gesagt, auch unser Treffen hier ist Schicksal. Und Wahrsagen dreht sich nur um das Schicksal. Als Sie geboren wurden, wurde Ihr Schicksal von den Göttern bestimmt. Als Sie beschlossen, mich zu interviewen, und als ich beschlossen habe, mich interviewen zu lassen, stimmten die Ausgangspunkte mit unseren Schicksalen überein. Allerdings können die meisten Menschen diese Schicksalstheorie immer noch nicht akzeptieren. Wahrsagen hat auch etwas mit der Untersuchung von Ursache und Wirkung zu tun. Die Ursachen von gestern bedingen die Wirkungen von heute, die wiederum die Ursachen von morgen ergeben. Darum müssen wir zuerst betrachten, was wir heute tun, um zu wissen, was morgen passieren wird.
Viele sagen, daß ich ein Wahrsager bin. Das bin ich nicht. Ich bin ein Schicksalsdeuter und Übersetzer. (Er schreibt die beiden chinesischen Schriftzeichen für "Schicksalsdeutung" auf ein Blatt Papier.) Das Leben ist nämlich wie ein Theaterstück, müssen Sie wissen. Jeder Mensch hat sein eigenes Manuskript. Das Schicksal ist das Manuskript eines jeden Lebens. Und jedes Manuskript hat eine Registriernummer. Diese Nummer setzt sich aus Geburtsdatum und -stunde zusammen. Wenn jemand zu mir kommt, suche ich entsprechend des Datums und der Stunde seiner Geburt in der Bibliothek ein Manuskript heraus. Und dann deute und übersetze ich den Inhalt des Manuskripts für den Betreffenden.
Ich glaube nicht, daß das, was wir über das Schicksal eines Einzelnen sagen, absolut genau zutrifft. Ich hoffe, daß unsere Freunde, die hilfesuchend zu uns kommen, nicht erwarten, daß alles, was wir sagen, hundertprozentig stimmt. Niemand kann mit hundertprozentiger Sicherheit das Schicksal deuten. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man zu neunzig Prozent richtig liegt. Wir wissen nicht alles. Die Astrologie ist viel zu tiefgründig und kompliziert, um sie vollkommen verstehen zu können. Wir wissen auch nur ein bißchen mehr als die anderen.
Wir müssen viel Geduld mit unseren Kunden haben. Normalerweise kommen sie zu uns, weil sie ein Problem haben, mit dem sie nicht fertigwerden, und sie erwarten von uns, daß wir ihnen Hilfestellung geben. Wir müssen ehrlich zu ihnen sein. Wenn ihr Schicksal ungüntig ist, müssen wir ehrlich sein. Aber wenn das Schicksal so schlecht ist, daß die Person sterben wird, müssen wir nicht alles erzählen. Nur wenn es eine wichtige Persönlichkeit ist, wie der Präsident oder ein hoher Politiker, müssen wir die Wahrheit sagen, damit die Person sich darauf vorbereiten kann.
Vor einigen Minuten kam ein fast genau wie Chen Yen-shan aussehender Mann, allerdings mit dunkleren Haaren, ins Zimmer und setzte sich neben seinen Bruder. Er führt näher aus, was Chen gerade erzählt hat: "Wir sagen, was wir wissen. Natürlich wollen die meisten Leute nur die guten Aspekte ihres Schicksals hören. Aber ich habe auch Kunden, die sagen: 'Sagen Sie mir die Wahrheit, den schlechten Teil. Den guten Teil will ich nicht hören.' Bei jemandem, der nur die positiven Einzelheiten hören will, müssen wir mit unseren Worten sehr vorsichtig sein. Wenn wir ihnen die Wahrheit erzählen, könnte es einen negativen Effekt auf sie haben. Die Wahrsagerei muß den Menschen Vertrauen einflößen und konstruktive Anregungen geben."
Chen Yen-shan: Ich finde, unser Beruf ist sehr bedeutungsvoll. Sollte ich im nächsten Leben als Mensch wiedergeboren werden, möchte ich wieder Wahrsager werden. Wahrsager zu sein, bereitet mir viel Freude. Ich fühle, wie sich meine Weltsicht mit jedem Tag erweitert. Mit jedem Tag wird mein Geist freier. Nachdem ich mich mit den Problemen von so vielen Leuten beschäftigt habe, wird mir klar, daß das Leben im Grunde genommen leben, altern, krankwerden und sterben bedeutet. Niemand kann dem entrinnen.
Chen's Frau betritt das Zimmer, um Tee nachzuschenken. "Sie denken ständig nur über das Universum nach, die Bewegungen der Planeten", sagt sie lachend. "Ihre Geister wandern irgendwo da oben im Universum umher."
Chen Yen-shan: Es ist ein harter Job. Es ist kein leicht verdientes Geld. Ich fange gegen zehn Uhr morgens an zu arbeiten. Im allgemeinen nehme ich sieben Kunden pro Tag an. Für jeden plane ich wenigstens eine Stunde ein. Jeder Fall ist anders. Meine Kunden zahlen nur für den ersten Besuch (3000 NT$ bzw. 115 US$). Danach ist die Beratung umsonst. Sie können immer wieder zu mir zurückkommen. Darum hebe ich normalerweise drei Stunden für meine alten Kunden auf, die ich als die "Eltern meiner Kleidung und Nahrung" bezeichne. Ich nehme nicht zu viele neue Kunden an. Ich habe nicht mehr soviel Energie wie früher. Ich werde schneller müde. Es macht mir eigentlich nichts aus, wenn mein Geschäft nicht mehr so gut laufen sollte.
Mein Geschäft wird im allgemeinen nicht von den Jahreszeiten beeinflußt. Die Leute kommen zu allen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen, guten wie schlechten. Manche kommen mit der Frage, ob es in Ordnung für sie ist, eine Firma zu gründen. Manche kommen auch, wenn sie auswandern wollen. Dieses Geschäft wird von dem, was gerade gesellschaftlich aktuell ist, beeinflußt. Vor den jährlichen Schulaufnahmeprüfungen beispielsweise kommen Väter und Mütter zu mir, deren Kinder daran teilnehmen wollen. Jetzt rücken die Wahlen näher (er bezieht sich auf die Provinz- und Städtewahlen, die im Dezember letzten Jahres stattfanden), und darum kommen Kandidaten und andere Beteiligte zu mir.
Unglücklicherweise scheinen diese wohlgebildeten Leute Angst zu haben, daß andere Leute von ihrem Besuch bei einem Wahrsager erfahren könnten. Das regt mich wirklich auf. Warum muß es ihnen peinlich sein? Sie glauben, daß Wahrsagerei mit Aberglauben zu tun hat. Nein, hat sie nicht. Unsere hat nichts mit Aberglauben zu tun. Viele hochgebildete Leute glauben nicht an das Schicksal, weil sie der Meinung sind, Fatalismus sei passives Denken. (Er schreibt das Schriftzeichen für "Schicksal" mit kräftigen Strichen auf das Papier.) Wenn man an das Schicksal glaubt, lebt man ein sehr bodenständiges Leben. Man macht Erfahrungen und erfüllt seine Pflichten zur rechten Zeit. Man wird nicht versuchen, Dinge zu tun, die man nicht tun sollte oder derer man nicht fähig ist.
Ich mag die meisten meiner Kunden. Aber es gibt auch solche, die ich nicht leiden kann. Ich mag keine Kunden, die zu eigensinnig, zu subjektiv oder zu defensiv sind. Jeder hört lieber, daß er ein gutes Schicksal hat und will ein schlechtes nicht wahrhaben. Aber niemand kann sein ganzes Leben lang ein günstiges Schicksal haben. Es kann sein, daß man den Winter nicht mag, aber er kommt trotzdem jedes Jahr wieder. Ich kann nicht das Leben eines Menschen ändern. Es macht mir nichts aus, wenn meine Kunden mit mir streiten, denn dadurch lerne ich, das Schicksal besser zu interpretieren. Ich lerne, bescheidener zu sein, denn manchmal sind ihre Fragen wirklich nachdenkenswert. Ein Kunde fragte mich: "Wenn Sie sagen, daß es ein Schicksal gibt, wo kommt es dann her?" Ha, gute Frage! Dann muß ich ihm mit stärkerer Überzeugung erklären, daß das Schicksal von dem herrührt, was man in seinem früheren Leben getan hat.
Chen's Bruder, der nun ebenfalls eine Zigarette raucht, fügt hinzu: "lch habe am meisten Angst vor hysterischen Kunden. Einige Kundinnen sind so. Ich sagte einmal einer, daß ihr Ehemann 1998 eine Affäre haben würde. Danach fing sie an, mit ihrem Mann zu streiten. Sie kam später zu mir zurück und weinte. Sie hätte das nicht tun sollen. Es muß einen Grund dafür geben, wenn ihr Mann Gefahr läuft fremdzugehen. Statt mit ihm zu streiten, hätte sie lieber darüber nachdenken sollen, wie sie es vermeiden könnte, aber das tat sie nicht.
Ich habe natürlich auch ein paar Verbrecher kennengelernt. Im allgemeinen vertrauen sie uns. Einer erzählte mir sogar, daß er die Entführung eines Mannes plane. Er sagte: 'Der Typ ist steinreich. Wenn ich fünf Millionen von ihm kriegen könnte (190 000 US$), würde ihm das nicht schaden. Was meinen Sie? Kann ich es schaffen? Kann ich damit durchkommen?' Ich wußte, daß ich ihm die Sache ausreden mußte. Darum erwiderte ich: 'Jetzt können Sie damit durchkommen, aber nicht in ihrem nächsten Leben.' Das wirkt natürlich nicht immer. Einige Kunden haben mir später aus Tucheng (ein Gefängnis) geschrieben. Ihre Briefe sind voller Reue."
Chen Yen-shan: Dieses Büro haben wir gekauft. An der Hypothek zahlen wir immer noch ab. Wir haben es vier Jahre nach unserer Ankunft in Taiwan erworben. Wir wohnen nebeneinander. Das ist alles. Ich habe ein paar kleine Investitionen getätigt - nichts Großes. Wir haben bei Null angefangen. Heute habe ich ein Haus zum Wohnen, genug zu essen, Kleidung - ich muß mich bei den "Eltern meiner Kleidung und Nahrung", der Gesellschaft und dem Land bedanken. Ich habe noch einen langen Weg vor mir, ehe ich mich zurücklehnen kann. Es ist besser, nicht alles zu haben. Wenn du alles hast, was du dir wünschst, wirst du hochnäsig und die Leute fangen an, dich zu beneiden.
(Deutsch von Jessika Steckenborn)