25.04.2025

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Familie kontra Altenheim

01.03.1995
Ob diese zwei rüstigen Pensionäre wohl der chinesischen Tradition gemäß beim ältesten Sohn und sei­ner Familie leben? Taiwan befindet sich im sozialen Wandel, und auch die ehemals starken Familienbande brechen immer weiter auf, so daß zur Versorgung der Senioren Staat und Gesellschaft stärker gefordert sind.
Einst war es die Pflicht des ältesten Sohnes, für seine in die Jahre kommenden Eltern zu sorgen. Heutzutage verteilt sich diese Verantwortung nicht nur auf andere Familienmitglieder, sondern auf das ganze Volk. Eine Erweiterung der staatlichen Altersfürsorge ist notwendig, um den Bedarf decken zu können.

Die 83jährige Yu Yeh-chih(于葉治)lebt seit Jahren bei ihrem Sohn und seiner Familie in einem Taipeier Vorort. Obwohl sie mit 50 Jahren erblindete, half sie auch weiterhin viele Jahre lang im Haushalt. Sie wusch das Geschirr und die Wäsche für die ganze Familie und paßte auf die kleinen Enkel auf, wenn ihre Schwiegertochter auf den Markt ging. Auch jetzt noch wäscht sie ihre eigene Kleidung und erledigt den Abwasch, obwohl sie an Bluthochdruck leidet und sich ohne Gehstock schlecht fortbewegen kann. Aber das Alter macht Yu allmählich zu schaffen. Sie wird ständig von Muskelschmerzen und Schwindelgefühl heimgesucht, und im vorletzten Jahr wurde sie zweimal nach einer Ohnmacht in die Notaufnahme gebracht.

Die Verantwortung für die Versorgung Yu Yeh-chih's lastet allein auf den Schultern ihres Sohnes Yu Chun-pin(于俊斌)und seiner Frau. Obgleich auch der 60jährige Yu kurz vor der Pensionierung steht, kommt er für den Lebensunterhalt und sämtliche Arztkosten seiner Mutter auf, die nicht krankenversichert ist. Seine Frau kocht für die Schwiegermutter und kümmert sich um ihre physischen Bedürfnisse. Yu hat zwei jüngere Brüder, aber er erwartet von ihnen nicht, daß sie sich an den Kosten für die Betreuung der Mutter beteiligen. Nur gelegentlich kommt sein Bruder oder die Schwägerin auf einen Abend herüber, damit er und seine Frau einmal ausgehen können.

Yu beklagt sich nicht über dieses Arrangement. Es ist ihm nie in den Sinn gekommen, seine Mutter in einem Altenheim oder bei anderen Verwandten unterzubringen. Auch seine Frau, die bereits fünf Kinder großgezogen hat, beschwert sich nicht darüber, daß sie den Bedürfnissen ihrer Schwiegermutter ständig ihre Aufmerksamkeit schenken muß. Immerhin lebt Yu mit seiner Familie kotenlos auf dem Besitz seiner Mutter, den er einmal erben wird. Wichtiger ist jedoch, daß es für Yu einfach ganz natürlich ist, für eine alte Mutter zu sorgen. "Es ist meine Aufgabe", sagt er. "Es ist unsere Tradition, daß der älteste Sohn die Eltern betreut." Wenn sein Vater nicht vor vielen Jahren gestorben wäre, würde er auch ihn versorgen.

Er ist sich jedoch nicht sicher, ob seine eigenen Sprößlinge sich einmal in gleichem Maße verpflichtet fühlen werden. Wenn er in fünf Jahren in Pension gehen wird, würden Yu und seine Frau danach gerne bei ihrem einzigen Sohn wohnen, aber sie sind sich im klaren darüber, daß sich die allgemeine Einstellung dazu ändert. "Einige meiner verheirateten Töchter weigern sich, mit ihren Schwiegereltern zusammenzuleben, und mein Sohn wird vielleicht eine Frau heiraten, die genauso denkt", sagt Yu. "Es sieht wohl so aus, daß meine Frau und ich im Alter allein wohnen werden." Er hofft, daß seine Kinder zumindest teilweise in der Lage sein werden, seine medizinischen Ausgaben zu tragen. "Meine Frau und ich haben zwar etwas Geld gespart, aber wenn wir pensioniert werden, verlieren wir unsere Sozialversicherung", sagt er. "Sollten wir krank werden, werden wir wahrscheinlich finanzielle Unterstützung nötig haben."

Die Zahl der pflegebedürftigen Senioren steigt, u.a. weil ältere Bürger immer länger leben und mit zunehmendem Alter verstärkt auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Von einer derartig ungewissen Zukunft sind immer mehr Bürger betroffen, die sich wie Yu dem Pensionsalter nähern. Obgleich die Familienbande immer noch relativ stark sind, werden sie immer diffuser. In vielen Fällen sind der Erstgeborene und seine Frau nicht mehr die einzige Quelle der Unterstützung; auch die anderen Kinder - jüngere Söhne und auch Töchter - helfen mit. Einige Senioren wechseln sogar regelmäßig von der Wohnung eines ihrer erwachsenen Kinder zu der eines anderen, wo sie jeweils einige Wochen oder Monate verbringen, um die Last gerechter zu verteilen. Immer mehr ältere Mitbürger müssen wie die Yus feststellen, daß sie fast völlig auf sich allein gestellt sind. Zwischen 1976 und 1991 hat sich die Ziffer der allein oder nur mit dem Ehepartner lebenden Senioren von 17 auf 32 Prozent fast verdoppelt.

Vielbeschäftigte Schwiegertöchter sind, wie Yu andeutet, ein Grund dafür, warum weniger Eltern bei ihren Söhnen wohnen. Die Anzahl der berufstätigen Ehefrauen wächst stetig - innerhalb der letzten zehn Jahre von 35 auf 44 Prozent -, und folglich gibt es weniger Frauen, die zu Hause rund um die Uhr ihre Schwiegereltern betreuen. Die allgemein rückläufige Zahl der Großfamilien auf Taiwan läßt sich außerdem auf die Urbanisierung und veränderte Demographie zurückführen. Häufig ist als Folge der in den 60er Jahren begonnenen Landflucht einfach die Entfernung zwischen den Wohnsitzen der Familienmitglieder das Problem. "Die jungen Leute sind aus wirtschaftlichen Gründen in die Städte abgewandert", erklärt Chen Chao-nan(陳肇男), ein Forschungsstipendiat am Institut für Wirtschaftswissenchaften der Academia Sinica. "Viele alte Leute entscheiden sich jedoch dafür, auf dem Land zu bleiben und leben, daher getrennt von ihren Kindern."

Gleichzeitig, so Chen, hätten viele ältere Mitbürger eine bessere Ausbildung genossen und mehr Geld gespart als früher, was ihnen ein unabhängiges Leben erleichtere. Ein weiterer Grund für die erhöhte Anzahl alleinstehender Senioren seien die vielen Militärangehörigen, die mit der nationalchinesischen Regierung in den 50er Jahren nach Taiwan gekommen waren. "Diese jungen Soldaten wurden ihrer Heimat auf dem chinesischen Festland beraubt und nach Taiwan umgesiedelt", sagt Chen. "Sehr viele von ihnen haben nie geheiratet und verbringen ihren Lebensabend jetzt allein."

Man nimmt an, daß die Zahl der auf sich allein gestellten Senioren durch Taiwans sinkende Geburtenrate noch höher klettern wird. In der Vergangenheit, als Ehepaare durchschnittlich fünf Kinder hatten, war es sehr wahrscheinlich, daß mindestens eines davon in der Lage sein würde, seine Eltern im Alter zu betreuen, und oft beteiligten sich die anderen Geschwister an der Aufgabe. Doch der heutige Durchschnitt von zwei Kindern pro Paar bedeutet, daß den Senioren alles in allem weniger finanzielle Hilfe und Fürsorge von ihren Nachkommen zur Verfügung stehen wird.

Noch ungewisser wird die Zukunft für ältere Mitbürger durch die simple Tatsache, daß sie länger leben. Zwischen 1945 und 1993 stieg die Lebenserwartung um dreißig Jahre auf 72 Jahre für Männer bzw. 77 Jahre für Frauen. In Kombination mit der gesunkenen Geburtenrate bedeutet dies ein Altern der gesamten Gesellschaft. Die über 65jährigen machen jetzt etwas über sieben Prozent der Bevölkerung aus, den durch die Vereinten Nationen festgesetzten Prozentsatz für die Definition einer "betagten Gesellschaft". Und in dreißig Jahren rechnet man laut der Bevölkerungsverwaltung des Innenministeriums mit einem Anstieg des Bevölkerungsanteils der Senioren auf volle 20 Prozent.

Chen hebt hervor, daß Senioren, wenn sie ein hohes Alter erreichten, zusätzliche Hilfe nötig hätten - bei allem vom Waschen und Anziehen bis zur Arbeit im Haushalt, Einkaufen, Zubereiten der Mahlzeiten sowie der Handhabung ihrer Finanzen. "Diese Art der Unterstützung wird man wohl mit 65 noch nicht nötig haben", sagt er, "aber wenn man 80 oder 90 Jahre alt wird, wird man aller Wahrscheinlichkeit nach teilweise, wenn nicht vollständig auf fremde Hilfe angewiesen sein."

Wenn die erwachsenen Kinder Taiwans nicht länger die Verantwortung für ihre alten Eltern übernehmen können, wie wird die Gesellschaft als Ganzes ihre alten Mitglieder versorgen? Noch ist das Problem nicht akut, doch es wird in den kommenden Jahren um so dringender werden, wenn eine schnell steigende Zahl alter Leute versorgt werden muß. Zur Zeit ist das öffentliche Fürsorgesystem nicht in der Lage, die Funktion zu übernehmen, die lange Zeit die Familie erfüllt hat. "Die Versorgung, die alte Leute benötigen, ist vielschichtig - sie brauchen persönliche, pflegerische und medizinische Betreuung sowie soziale Dienstleistungen und sogar emotionale Unterstützung", sagt Wu Shwu-chong(吳淑瓊), Professorin am Institut für Volksgesundheit der Nationalen Taiwan-Universität. "Unser offizielles Versorgungssystem steckt noch in den Kinderschuhen, und wir haben kein langfristiges Fürsorgeprogramm für behinderte Senioren. Wir haben dafür weder die finanziellen Mittel noch das Personal oder die Einrichtungen."

Gegenwärtig beschränkt sich das offizielle Altersfürsorgesystem größtenteils auf 18 staatliche Pflegeheime, die finanziell schwachgestellten Senioren den Vorrang geben, sowie 35 lizensierte private Altenheime. In diesen Einrichtungen sind insgesamt zirka 12 000 Personen untergebracht. Von den Heimbewohnern wird im allgemeinen verlangt, daß sie in guter gesundheitlicher Verfassung sind und daß sie sich selbst um ihre täglichen Bedürfnisse kümmern können, obwohl einige Heime auch Pflege bieten.

Die Tageszentren für Senioren sind eine Anlaufstelle für ältere Bürger, wo sie Freunde treffen und im Alter noch einmal etwas Neues wie Töpfern lernen können.

Das größte Seniorenheim auf der Insel ist das 1964 gegründete "Haus Brüderlichkeit" der Stadtregierung Taipei. Es beherbergt rund 820 Bewohner, von denen die meisten unentgeltlich in dieser Einrichtung wohnen. Laut Chen Chih-chang(陳志章), einem Sozialarbeiter im Haus Brüderlichkeit, war für das letzte Jahr die Eröffnung einer zweiten Einrichtung geplant, die spezialisiertere Krankenpflege bereitstellt. "Wir müssen erweitern, weil die Nachfrage so groß ist", sagt er.

Das 1990 eröffnete Altenpflegeheim der Provinzregierung in Changhua, Zentraltaiwan, stellt einigen seiner 265 Bewohner ebenfalls Krankenpflege zur Verfügung, jedoch nur als zusätzlichen Service. Trotz seines Namens leben in diesem Heim Senioren, die keine Pflege nötig haben. Im Unterschied zu den anderen staatlichen Altenheimen gibt es im Heim von Changhua überwiegend zahlende Bewohner. Nur einhundert seiner 422 Betten sind für finanziell schwachgestellte Senioren reserviert, die kostenlos aufgenommen werden, aber diese Verteilung wird sich ändern müssen. "Es sieht so aus, als müßten wir die Anzahl der Betten für Senioren ohne Familienangehörige erhöhen, weil es für sie normalerweise nicht die Möglichkeit der privaten Betreuung gibt", sagt die Sozialarbeiterin Chen Ming-chen(陳明珍). "Wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können, bleibt ihnen keine andere Wahl, als in ein Heim zu ziehen."

Die Regierung unterhält ebenfalls vierzehn Veteranenheime, in denen 18 000 Bewohner betreut werden. Weitere 112 000 pensionierte Militärangehörige sind zwar in diesen Heimen registriert, wohnen aber nicht auf dem Gelände, obwohl sie sich monatlich eine staatliche Unterstützung in Höhe von 260 US$ abholen, die über das Heim ausgezahlt wird.

Neben einigen an Krankenhäuser angegliederten Pflegezentren ist das Altenheim der Chiang-Ching-Stiftung die einzige Einrichtung, die auf die Pflege behinderter oder bettlägeriger Senioren spezialisiert ist. Es kann 62 Patienten aufnehmen. Im Februar letzten Jahres nahm das Pflegeheim in der Stadt Kaohsiung im Süden der Insel seinen Betrieb auf, und sein Antrag auf eine Regierungslizenz wird derzeit noch von den Behörden überprüft. Viele andere, nicht angemeldete Pflegeheime helfen ebenfalls, den wachsenden Bedarf an Seniorenbetreuung zu erfüllen. Professorin Wu schätzt, daß die Zahl dieser Heime rapide steigt; in der Stadt Taipei allein gibt es 140, in denen 4000 alte Leute leben.

Im Gegensatz zum Chiang-Ching Altenheim versuchen die meisten dieser Einrichtungen gar nicht erst, sich bei der Regierung registrieren zu lassen, entweder weil sie die Anforderungen nicht erfüllen können oder weil die Antragsprozedur zu kompliziert ist. Wu hat starke Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Ausstattung sowie der Qualifikation des Personals in diesen Heimen, da sie keinen Vorschriften unterliegen. "Niemand überwacht die Sicherheit, die sanitären Anlagen und die Qualität der Betreuung in diesen privaten Seniorenheimen", sagt sie. "Aber sie sind ein offensichtlicher Beleg für den großen Bedarf an einem offiziellen Versorgungsdienst für Senioren."

Obwohl die Einrichtung eines besseren und umfassenderen staatlichen Pflegeprogramms für Senioren dringend notwendig ist, ist dies nicht die einzige Lösung. Wie Chen Chih-chang vom Haus Brüderlichkeit betont, hat "die Heimunterbringung ihre Schwachpunkte." Das Leben in einem Altenheim kann sehr unpersönlich und einsam sein, eine Situation, die laut Professorin Wu durch die Tatsache, daß viele der größten Pflegeheime sich in weit von der Heimat der einzelnen Bewohner entfernten, ländlichen Gegenden befinden, noch verschlimmert wird. "Anstalten sind wie Konzentrationslager", sagt Wu. "Psychologisch gesehen ist es sehr schlecht für die alten Leute, weil sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Ich finde es ziemlich grausam, daß man sie dazu zwingt, so weit weg von ihrem Zuhause und ihren Familien zu leben."

Wu und viele andere Fachleute sind der Meinung, daß Heime nur eine Ergänzung zur traditionellen Versorgung durch die Familie darstellen sollten. Gleichzeitig sollten die zusätzlich verfügbaren Betreuungsmöglichkeiten erweitert werden. "Ich finde nicht, daß wir das System der Unterstützung durch die Kinder abschaffen sollten, weil es ein asiatischer Vorzug ist", sagt Chen Chao-nan von der Academia Sinica. "Ich schlage vor, die Senioren solange wie möglich im Familienverband zu belassen. Aber wir können die Familie nicht die ganze Verantwortung allein tragen lassen." Chen engagiert sich für die Entwicklung eines leistungsstarken Tages- und Hauspflegesystems, das älteren Mitbürgern ermöglicht, weiterhin zu Hause zu leben und die Belastung für die Familien auf einem Minimum hält.

Wu hebt hervor, daß es auf Taiwan auf Gemeindeebene nur sehr wenige Programme dieser Art gäbe. Altentagesstätten und qualifizierte Pflegekräfte, die direkt ins Haus kommen, seien heutzutage besonders wichtig, merkt sie an, da immer mehr junge Frauen und solche mittleren Alters - die traditionellen Ganztagsbetreuer der Alten - berufstätig sind. Sie schlägt vor, die Mittel und das Personal der staatlichen Gesundheits- und Sozialfürsorgeabteilungen zu kombinieren und darüber hinaus ehrenamtliche Mitarbeiter anzuwerben.

Das erste Tageszentrum für Senioren wurde 1989 von der Taipeier Stadtregierung eingerichtet. Es steht allen Bürgern offen, die älter als 65 Jahre und bei guter Gesundheit sind - bis zu einem Maximum von 24 Personen - und versorgt sie während der regulären Öffnungszeiten montags bis freitags von 9.00 bis 17.00 Uhr und samstags vormittags. Auf den Standardbeitrag von monatlich 77 US$ wird bei finanziell schwachgestellten Senioren verzichtet. Im Zentrum werden ebenfalls kostenlose medizinische Untersuchungen durchgeführt, Frühstück und Mittagessen serviert sowie Unterhaltung geboten. Weiterhin gibt es auf der Insel etwa ein Dutzend von lokalen Sozialfürsorgeämtern gesponserte Tageszentren. 1993 versorgten sie rund 120 000 alte Menschen. Während diese Zentren zahlreiche Anfragen erhalten, sind viele von ihnen nur zum Teil ausgelastet. Lee Lin-feng(李臨鳳), eine Sozialarbeiterin in der Abteilung für Soziales des Innenministeriums, glaubt, daß mehr Familien die Tagesbetreuung in Anspruch nehmen würden, wenn Transportmöglichkeiten zur Verfügung ständen. Aufgrund der gravierenden Personalknappheit sei es jedoch schwer, überhaupt einen Fahrer zu finden. "Das Hauptproblem ist Personalmangel", sagt sie. "Wir brauchen ehrenamtliche Mitarbeiter, die den Sozialarbeitern bei der Erfüllung ihrer Aufgabe helfen."

Die Hauspflege ist ebenfalls gerade erst dabei, sich zu etablieren. In den letzten Jahren hat in den Städten und Landkreisen fast jedes Sozialamt sein eigenes Hauspflegeprogramm entwickelt. Im Rahmen dieser Programme wurden 1993 zirka 410 000 alte Menschen mit einer Basispflege versorgt, die Mahlzeiten, Gesellschaft und von staatlich geprüftem Pflegepersonal durchgeführte medizinische Betreuung umfaßte. Lee ist jedoch der Meinung, daß das Hauspflegesystem nicht effizient gehandhabt wird. "Der Basispflegeteil des Programms", sagt sie, "wird durch das Sozialamt überwacht, während die medizinische Versorgung durch das Gesundheitsamt beaufsichtigt wird. Wir müssen beide Seiten vereinigen, um eine bessere Hauspflege anbieten zu können."

Eines der größten Probleme bei der Entwicklung von mehr Hauspflegeprogrammen ist der Mangel an darauf spezialisierten Krankenschwestern. Zur Zeit gibt es nur etwa fünfzig staatlich geprüfte Hauspflegeschwestern, die in einem vom Gesundheitsamt 1991 eingeführten Ausbildungsprogramm geschult worden sind.

Die meisten dieser Pflegekräfte sind entweder in Krankenhäusern angestellt, von denen aus sie nach Bedarf Hausbesuche bei den Patienten machen, oder sie führen spezielle Krankenpflege in Altenheimen durch. Zirka zwanzig Kandidatinnen haben außerdem nach einer zweijährigen Ausbildung die Prüfung zur leitenden Hauspflegeschwester abgelegt; dieser Ausbildungsgang wurde jedoch nach 1989 nicht weitergeführt, da mehr Pflegerinnen nach einer ähnlichen, im Ausland absolvierten Ausbildung zurückkehrten.

Ein weiteres Hindernis beim Ausbau der Hauspflege ist die Tatsache, daß die meisten Versicherungspolicen und auch die ursprünglich für Ende letzten Jahres geplante gesetzliche Krankenversicherung sie nicht abdecken. Nur fünfzig Prozent der Senioren auf Taiwan sind überhaupt versichert, und ihre Verträge gelten für gewöhnlich nur für medizinische Versorgung im akuten Krankheitsfall und Krankenhausaufenthalte. Eine kleine Zahl von Pensionären, die über Beamtenrenten oder Spezialversicherungen für Lehrer verfügen, können die Hauspflege in Anspruch nehmen, aber dies wird nicht mehr der Fall sein, sobald öffentliche Angestellte ebenfalls unter die neue gesetzliche Krankenversicherung für alle Bürger fallen. "Alle haben gehofft, daß die gesetzliche Krankenversicherung die finanzielle Barriere bei der Gesundheitsfürsorge für die Senioren aus dem Weg räumen würde", sagt Wu Shwu-chong. "In dem Gesetzesentwurf ist aber von langfristiger Fürsorge keine Rede."

In dem Entwurf ist jedoch die volle Deckung bei chronischen Krankheiten enthalten. Zudem hat das Gesundheitsamt die Krankenhäuser dazu aufgefordert, eine bestimmte Anzahl von Betten für Patienten mit chronischen Leiden bereitzustellen. Wu hat auf der ganzen Insel 5800 solcher Betten gezählt. Sie nimmt an, daß die Zahl der in diesen Hospitälern lebenden alten Leute zunehmen wird, wenn die Kosten von der Versicherung übernommen werden - eine Situation, die für viele alte Menschen nicht nur ein Leben in einer tristen Umgebung bedeuten, sondern auch die Kosten für ihre Betreuungsteil in die Höhe schießen lassen würde. "Unter den verschiedenen Formen der langfristigen Versorgung ist die Pflege im Krankenhaus am teuersten", sagt sie. "Wenn man Senioren dazu ermutigt, in eine Klinik für chronische Leiden zu gehen, erhöht sich die finanzielle Belastung für die Gesellschaft." Aus diesem Grund setzt sie sich verstärkt dafür ein, daß die Tages- sowie die Hauspflege in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden. "Und außerdem", sagt Wu, "ist das, was die Senioren brauchen, ihr Zuhause und kein Krankenhaus."

(Deutsch von Christiane Gesell)

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