19.05.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Weiterbüffeln nach Schulschluß

01.01.1995
Ein Klassenraum in einer Nachhilfeschule: vollgepackt mit Schülern, die passiv dem in ein Mikrophon sprechenden Lehrer zuhören. So sieht die Lernsituation aus, in der sich ein großer Teil der Schüler Taiwans auch abends wiederfindet.
Nachhilfeschulen gehören zum Alltag der meisten Mittelschüler, die sich auf die alles entscheidende Aufnahmeprüfung für die Oberschule vorbereiten. Eltern und Lehrer wissen den Wert dieser Schulen zu schätzen, sorgen sich aber um deren Einfluß auf die Art, wie die Kinder lernen.

Wie die meisten der engen Straßen Taipeis, die sich hinter den Hauptverkehrsstraßen entlangwinden, ist die von der Jenai-Straße abgehende Gasse 122 tagsüber ruhig. Wenn jedoch die Dämmerung hereinbricht, füllt sich die von hohen Apartmenthäusern flankierte, kurze Gasse mit Gruppen Heranwachsender, die alle in identischen weißen Hemden und blauen Shorts oder Faltenröcken gekleidet sind, der Uniform der nahen Jenai-Mittelschule. Plötzlich ist die Gasse voller Lärm und Bewegung. Ungefähr eine halbe Stunde lang befinden sich so viele Schüler auf der Straße, daß es Autos und Motorräder schwer haben, sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Die jungen Leute strömen auf ein rotes Apartmenthaus zu, das sich in nichts von den umliegenden Hochhäusern unterscheidet. Bis 18.30 Uhr ist es wieder ruhig in der Gasse, aber um 21.30 Uhr erwacht sie erneut kurz zum Leben, wenn die Schüler aus dem Gebäude kommen, sich voneinander verabschieden und auf den Heimweg machen.

Ähnliche Szenen spielen sich in Innenstadtgebieten und kleinen Städten auf der ganzen Insel ab, wenn sich die Schüler auf den Weg zu oder von einer Abend-Nachhilfeschule ( 補習班, ausgesprochen pu-shi-pan) machen. Der Nachhilfeunterricht ist für die meisten Schüler zu einem integralen Bestandteil des Lebens geworden. Die Extraschulen bieten Kurse für jede Altersgruppe und jeden Bedarf; von Klassen für 4jährige, deren Eltern ihnen vor dem Schulanfang einen Vorteil verschaffen wollen, bis hin zu solchen für Collegestudenten, die für die Englischprüfungen TOEFL (Test of English as a Foreign Language) oder GRE (Graduate Record Examination) büffeln.

Den größten Zulauf haben Extraschulen, die Taiwans Mittelschüler auf die äußerst wichtige Aufnahmeprüfung für die Oberschule vorbereiten. Die Prüfung ist praktisch die einzige Möglichkeit, sich für die Aufnahme an einer öffentlichen Oberschule zu qualifizieren, und weil die Anzahl der Plätze begrenzt ist, werden nur Schüler zugelassen, deren Ergebnisse zu den besten dreißig Prozent gehören. Wer sich nicht qualifiziert, kann die Prüfung ein zweites Mal machen oder versuchen, die Aufnahmeprüfung für eine private Oberschule, eine berufsbildende Schule oder ein Juniorcollege zu bestehen, aber der Eintritt in eine öffentliche Oberschule gilt als die beste Vorbereitung auf den Besuch einer guten Universität. Viele unter diesem Druck stehende Kinder wenden sich daher hilfesuchend an die Extraschulen.

Die beliebtesten Fächer an den Nachhilfeschulen für Mittelschüler sind Englisch, Mathematik, Physik und Chemie - die schwierigsten Kategorien der Aufnahmeprüfung. Viele Teenager verbringen mehrere Abende pro Woche in einer Extraschule, bevor sie nach Hause gehen, um mit den regulären Hausaufgaben zu beginnen. In den meisten dieser privaten Schulen werden zwischen 40 und 200 Schüler in eine Klasse gezwängt, und drei Stunden Unterricht pro Woche kosten monatlich etwa 77 US$ - eine Ausgabe, die sich in Familien mit mehreren Kindern, die in verschiedenen Fächern Zusatzunterricht nehmen, schnell summiert.

Der Druck, Kurse an einer solchen Extraschule nehmen zu müssen, kann enorm sein. "Alle Kinder, die ich kenne, gehen zur Nachhilfeschule - ich kenne niemanden, der nicht dorthin geht", sagt die Achtkläßlerin Hsu Yen-ning(徐衍寧). Seit über zwei Jahren geht sie nach der Schule zum Mathematik-Nachhilfeunterricht. Hsu sagt, daß es für den regulären Schulunterricht hilfreich sei, manchmal aber auch langweilig. "Ich verbringe viel Zeit in der Nachhilfeschule", sagt sie, "aber ich glaube, ich bin so sehr daran gewöhnt, daß ich mich nicht selbst bemitleide."

Hsu's Mutter, Lee Ting-hui(李庭蕙), schickt ihr Kind mit gemischten Gefühlen zum abendlichen Weiterlernen. Obwohl der zusätzliche Unterricht ihrer Tochter nicht gefällt, haben sich ihre Noten im Fach Mathematik verbessert. Jetzt überlegt Lee, ob sie ihre Tochter auch zum Nachhilfeunterricht in Englisch schicken soll. "Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich weiß, daß es ihr nicht gefallen wird", sagt Lee. "lch ringe ständig mit mir selbst. Einerseits möchte ich, daß sie eine glückliche Kindheit ohne Druck verlebt, andererseits habe ich Angst, daß sie nicht in eine gute Oberschule gelangt. Wenn sie dies nicht schafft, wird sie nicht auf eine gute Universität gehen können." Lee hält die Nachhilfeschulen für ein notwendiges Übel. "Ich weiß, daß dies nicht die beste Art der Kindererziehung ist", sagt sie, "aber ich habe keine andere Wahl, es sei denn, die Regierung schafft die Aufnahmeprüfung für die Oberschule ab."

Es gibt keine genauen Statistiken über die Zahl der Mittelschüler, die Zusatzunterricht erhalten, aber in einigen städtischen Gebieten schätzt man die Rate auf 80 bis 90 Prozent. Selbst die Zahl der Nachhilfeschulen ist schwer festzustellen, da die meisten illegal arbeiten. Extraschulen waren zwischen 1973 und 1988 völlig verboten, und nachdem die Regierung das Verbot aufgehoben hatte, legalisierte sie nur zwei Arten von Schulen - solche, die nicht in der Aufnahmeprüfung für die Oberschule enthaltene Fächer unterrichten, und solche, die Schülern bei der Vorbereitung auf einen zweiten Anlauf zur Aufnahmeprüfung helfen. Mit diesen Vorschriften wollte die Regierung Chancengleichheit für alle Schüler schaffen, jedoch werden die Regeln aufgrund der enormen Nachfrage überwiegend ignoriert.

In ganz Taiwan sind etwa 3700 Nachhilfeschulen registriert, aber diese Ziffer liegt weit unter der realen Anzahl. In Taipei sind zum Beispiel in den Unterlagen der Regierung weniger als 150 Schulen, die Schüler auf eine Wiederholungsprüfung vorbereiten, verzeichnet. Die Dunkelziffer der Schulen, die die Schüler für den ersten Anlauf fitmachen, ist weit höher. In den Gassen, die praktisch jede Mittelschule in der Stadt umgeben, gibt es Dutzende im verborgenen arbeitender Extraschulen. Diese sind jetzt selbst in Kleinstädten eine Selbstverständlichkeit, und einige haben sich zu großen Unternehmen mit Zweigstellen und angeschlossenen Schulen auf der ganzen Insel entwickelt. Die meisten von ihnen sind entweder überhaupt nicht oder als etwas anderes als eine Schule registriert.

Trotz des illegalen Status und der Randexistenz der Nachhilfeschulen glauben die Betreiber, daß sie eine notwendige Ergänzung zum regulären Schulsystem bieten. Chang Hao-jan(張浩然), Direktor der seit über 23 Jahren bestehenden Taipeier Vereinigung der Nachhilfeschulen (Taipei Cram School Association), sagt, daß die Schulen Bedürfnisse befriedigen, die ansonsten ignoriert würden. Der Englischlehrer Howard Kuo (Name geändert) wechselte nach zehn Jahren im öffentlichen Schulwesen an eine Nachhilfeschule, weil, wie er sagt, er hier seinen Schülern mehr beibringen könne. Kuo findet, daß die Lehrer in regulären Schulen sich oft nicht um die Bedürfnisse ihrer Schüler kümmerten. Einige seien unqualifiziert, sagt Kuo, zum Beispiel pensionierte Militärangehörige, denen vor Jahrzehnten Positionen zugewiesen worden seien, und andere seien faul geworden, besonders wenn sie leistungsschwachen Schülern zugeteilt würden. "Die Schüler verlassen oft den Klassenraum, ohne auch nur die Hälfte des Lehrstoffs verstanden zu haben; also fangen sie an, das Interesse am Lernen zu verlieren", sagt er. "Wenn diese Schüler die Möglichkeit haben, mit hilfsbereiten Nachhilfelehrern zusammenzukommen, warum sollte man sie davon abhalten?" Kuo genießt bei seinen Schülern und deren Eltern den Ruf eines liebevollen, humorvollen und kreativen Pädagogen.

Ho Ta-chiang(何達江), der an der Tachih-Mittelschule in Taipei für den Lehrplan verantwortlich ist, erkennt die ergänzende Rolle, die die Extraschulen spielen, an. Neben der Förderung hinter dem Rest der Klasse zurückgefallener Schüler haben sie auch eine kulturelle Dimension. "Die Chinesen haben schon immer gern Zusatznahrung zu sich genommen", sagt er. "Seit Generationen verwenden wir Elixiere und Reformkost mit exotischen Namen zur Verbesserung unserer Gesundheit. Die gleiche Einstellung gilt für die Bildung - wenn Schüler das Gefühl haben, in der Schule unter 'Nahrungsmangel' zu leiden, suchen sie anderenorts nach zusätzlichen Möglichkeiten."

Gleichzeitig, so Ho, dienten Extraschulen als Kinderhort für Familien mit doppeltem Einkommen. In Familien, wo beide Elternteile arbeiten, kommen Mutter und Vater erst lange nach Schulschluß nach Hause. Die Eltern melden ihre Kinder lieber in der Nachhilfeschule an, als sich Gedanken darüber zu machen, was sie nach der Schule treiben. In den meisten Klassen hat der Lehrer einen Assistenten, der die Anwesenheit überprüft und die Eltern informiert, wenn ein Kind fehlt oder mehr als 15 Minuten zu spät kommt. "Die Kinder werden von Gefahren und schädlichen Freizeitbeschäftigungen wie dem Herumhängen in zwielichtigen Videospielhallen ferngehalten", sagt Ho.

Vordergründiges Ziel der Eltern ist jedoch, ihre Kinder in einer guten Oberschule unterzubringen. Viele Schüler fangen in ihrem ersten Jahr an der Mittelschule damit an, zusätzlichen Unterricht zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für die Oberschule zu nehmen, und einige beginnen damit sogar bereits im Sommer vor Eintritt in die siebte Klasse. Ho sagt: "Die meisten Eltern befürchten, ihre Kinder könnten beim letzten, großen Rennen - der Aufnahmeprüfung - verlieren, wenn sie nicht von Beginn an schnell sind."

Das Ergebnis dieses harten Konkurrenzkampfes ist die Tatsache, daß Nachhilfeschulen nicht mehr in erster Linie auf leistungsschwächere Schüler eingestellt sind; sogar Musterschüler nehmen Zusatzunterricht. Diese Kinder sind bemüht, an einer der besten Oberschulen der Insel angenommen zu werden und nutzen bis dahin die Extraschulen, um an die Spitze ihrer Klasse zu kommen und dort zu bleiben. Obwohl es gegen die Vorschriften verstößt, werden in vielen Mittelschulklassen anhand der gesamten Testergebnisse eines jeden Schülers monatliche Ranglisten geführt. Das System schafft eine von starkem Konkurrenzdenken geprägte Atmosphäre. "In der Klasse meiner Tochter konkurrieren die besten fünf Schüler erbittert miteinander", sagt Mutter Kao Li-hua(高麗華). "Mit Ausnahme meiner Tochter gehen alle in eine Nachhilfeschule." Lin Pi-chu(林碧珠)sagt, ihr Sohn habe einen Mitschüler, der unbedingt in eine Extraschule gehen wolle, um den Rest der Klasse zu überrunden. "Seine Mutter möchte, daß er um seiner Gesundheit willen weniger Nachhilfeunterricht nimmt", sagt Lin, "aber er weigert sich, weil er es nicht ertragen könnte, Zweitbester zu sein."

Eltern stehen ebenfalls unter Druck. Viele wetteifern, um ihre Kinder in den besten Nachhilfeschulen anzumelden. In Howard Kuo's Extraschule zum Beispiel lamentiert eine Mutter, die ihre Tochter kurz zuvor zum Englischunterricht angemeldet hatte, darüber, einen Tag zu spät gekommen zu sein. "Verflixt! Die guten Plätze sind schon alle besetzt - ich schätze, sie wird hinten sitzen müssen. Es war meine Schuld. Ich hätte am ersten Tag der Anmeldung kommen sollen", sagt sie. Andere Eltern versuchen, ihre Beziehungen spielen zu lassen oder schicken Nachhilfelehrern Geschenke, um ihre Kinder in die begehrten Klassen zu manövrieren.

Die in den Extraschulen angewandte Lehrmethode ist keineswegs exotisch. Der Unterricht hält sich eng an den im regulären Schulsystem vermittelten Stoff. Da in allen Mittelschulen Taiwans standardisierte Lehrbücher verwendet werden, können die Nachhilfeschulen identisches Material benutzen und sogar die gleichen Lektionen unterrichten, noch bevor diese in der Mittelschule gelehrt werden. "Wenn unsere Schüler diesen Lehrstoff in der regulären Schule durchnehmen, ist es für sie eine Wiederholung", sagt eine Mathematik-Nachhilfelehrerin aus Taichung, die ihren Namen nicht nennen möchte. Sie konzentriert sich darauf, ihren Schülern zahlreiche Übungsaufgaben zu geben, um ihnen dann dabei zu helfen, Lösungen und verkürzte Rechenwege auswendig zu lernen.

Einige Eltern befürchten, daß sich diese Betonung des Auswendiglernens und der raschen Problemlösung negativ auf die Lernweise ihrer Kinder auswirken wird. So sagt Chiu Hsien-yu(邱顯裕), dessen Sohn in die achte Klasse geht: "Ich habe Angst, daß die Nachhilfeschulen aus meinen Kindern passive Lerner machen. Daher fühlen meine Frau und ich uns nicht wohl dabei, unseren Sohn in eine zu schicken." Chang Hao-jan von der Taipeier Vereinigung der Nachhilfeschulen erkennt diese Kritik an. "Es ist sehr gut möglich, daß die Extraschulen aus den Kindern 'Testschreibe-Maschinen' machen - Schüler, die zwar schnell und korrekt Fragen beantworten können, diese jedoch nicht wirklich verstehen", sagt er. "Aber wir können dies nicht vermeiden. Es ist unsere Aufgabe sicherzustellen, daß unsere Schüler die Aufnahmeprüfung bestehen. Aus diesem Grund schicken die Eltern ihre Kinder zu uns."

Eltern und Lehrer sagen, daß die Nachhilfeschulen in einigen Fällen dafür verantwortlich seien, wenn Schüler das Vertrauen in die eigenen Lernfähigkeiten verlören. Da die Extraschulen Kunden werben, indem sie mit den guten Testergebnissen ihrer Schüler prahlen, lehnen einige Bewerber mit unterdurchschnittlichen Noten ab. Lehrer Howard Kuo spricht sich vehement gegen diese Art der Diskriminierung aus. "Schüler mit schlechtem Notendurchschnitt kommen zu uns, um Hilfe zu suchen und Selbstvertrauen zu gewinnen", sagt er. "Viele von ihnen sind in der Mittelschule bereits in Sonderklassen gesteckt worden. Wenn man sie in der Nachhilfeschule wieder von den guten Schülern trennt, hilft man ihnen nicht, im Gegenteil, sie fühlen sich noch minderwertiger. "

Eine weitere Quelle der Kontroverse sind Bestrafungsmethoden. Obwohl Schläge auf die Handfläche oder Beschimpfungen im Laufe der letzten zehn Jahre aus dem regulären Schulsystem allmählich verschwunden sind, bedienen sich einige Nachhilfeschulen weiterhin solcher altmodischen Methoden. Ein populärer Mathematiklehrer in Taipei ist bekannt dafür, daß er seine Schüler in guten Oberschulen unterbringt, steht aber auch in dem Ruf, seine Schüler auf die Handflächen oder Waden zu schlagen, damit sie sich benehmen. Für die Eltern, die ihre Kinder zu diesem Lehrer schicken, sind die harten Strafen ein weiterer Aspekt der Extraschulen, mit dem sie sich abfinden müssen, um ihre Kinder in der Schule voranzubringen. "Obwohl die Eltern mit körperlichen Strafen nicht einverstanden sind, glauben sie, daß sie keine andere Möglichkeit hätten, als diese zu akzeptieren", sagt Lin Pi-chu, eine Mutter zweier Söhne im Teenageralter.

Nachhilfeschulen sind auch für die bei der Schülerwerbung angewendeten Methoden kritisiert worden. Einige veranstalten bei der Anmeldung Tombolas mit Gewinnen wie Fahrräder, Stereoanlagen und Videospiele. Andere bieten Preisnachlässe für Schüler, die ihre Freunde mitbringen. Laut Chang Hao-jan arbeiten einige Extraschulen sogar mit Mittelschullehrern zusammen, die Belohnungen in Form von Bargeld erhalten, wenn sich ihre Schüler anmelden. "Es ist kein Wunder, daß sich viele Lehrer über mangelnden Respekt von seiten der Schüler beschweren - wie können die Schüler einen respektieren, wenn sie wissen, daß man sie an Nachhilfeschulen verkauft?" fragt er. Einige Lehrer machen ihre Tests sogar bewußt schwierig, um dann ihre Schüler zum Besuch einer bestimmten Extraschule zu ermutigen, wo sie sich auf die Tests vorbereiten können. Der Lehrer streicht dafür eine Kommission ein.

Die schlimmsten Vorfälle geschahen im Zusammenhang mit der Oberschulaufnahmeprüfung. In den vergangenen Jahren kamen einige Skandale ans Tageslicht, als über gewisse Nachhilfeschulen das Gerücht umging, sie hätten sich interne Informationen über die Prüfungsfragen des jeweiligen Jahres verschafft, trotzdem diese erst kurz vor dem Prüfungsdatum entworfen und unter größter Geheimhaltung verwahrt werden.

Viele dieser Probleme verschlimmern sich, da die Regierung das Durchgreifen gegen illegale Nachhilfeschulen nicht zu einer Angelegenheit von hoher Dringlichkeit gemacht hat. Der Hauptgrund ist, daß die gewählten Regierungsbeamten wissen, wie aufgebracht ihre Wähler über eine Schließung sein würden.

Viele Schulen bemühen sich nicht einmal um eine Legalisierung, weil sie die offiziellen Bedingungen nicht erfüllen können. Zusätzlich zu dem Verbot, die wichtigsten Fächer zu unterrichten, verlangen die Vorschriften die Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen, die viele für unrealistisch halten. Zum Beispiel gehören Nachhilfeschulen zur Kategorie der Vergnügungsetablissements und müssen daher je nach Größe eine bestimmte Anzahl von Parkplätzen für Autos und Motorräder zur Verfügung stellen. Land ist in Taiwan jedoch nur in äußerst begrenztem Maße vorhanden und daher sehr teuer. "Es ist unmöglich, ein Gebäude mit genügend Parkplätzen zu finden, um den Bestimmungen zu entsprechen", sagt Chang.

Jede Schule muß wenigstens zwei Ausgänge haben, von denen einer als Notausgang vorzusehen ist. In Taiwan erfüllen aber nur wenige Gebäude diesen Standard, und wenn eine Nachhilfeschule einzieht, ist es oft entweder sehr teuer oder bautechnisch unmöglich, einen zusätzlichen Notausgang einzubauen. Die meisten der Schulen halten auch anderen Sicherheitsvorschriften nicht stand. Die Gefahren erhöhen sich, wenn zweihundert Schüler für den abendlichen Unterricht hereinmarschiert kommen. Zu ihrer Verteidigung betonen die Extraschulen, daß sie nicht gefährlicher seien als andere beliebte, aber oft unkontrollierte Teenager-Treffpunkte wie Videospielhallen.

Eine weitere Motivation für die Nachhilfeschulen, sich nicht registrieren zu lassen, ist das Umgehen von Steuerzahlungen. Viele beschäftigen Lehrer von öffentlichen Mittelschulen, auch wenn diese Lehrer mit der Annahme eines Nebenjobs gegen die Vorschriften verstoßen. Sie machen es, weil der Abendunterricht so lukrativ ist; es ist möglich, monatlich bis zu 3700 US$ für das Unterrichten einer einzigen Klasse an sechs Abenden pro Woche zu verdienen. Einige Lehrer haben sogar ihre eigenen Nachhilfeschulen gegründet.

Doch trotz der Gefahren, der Geldschneiderei und des zusätzlichen Drucks für die Schüler geht es den Extraschulen gut. Solange der Konkurrenzkampf um die Aufnahme in eine Oberschule so hart bleibt, werden die Kinder weiterhin die Stunden nach der Schule mit zusätzlichem Unterricht verbringen. "Wenn Nachhilfeschulen nicht hilfreich wären", sagt Lehrer Howard Kuo, "hätten sie sich nicht so lange behaupten können."

(Deutsch von Christiane Gesell)

Meistgelesen

Aktuell