Die Mitglieder des Musiktheaterensembles Taipei haben neue Wege gefunden, ihrer Darstellungskunst, die einst nur bei den älteren Generationen Anklang fand, neue Effekte zu verleihen. Zu ihrer Überraschung stellt sich heraus, daß die Jugend davon begeistert ist.
An einem kalten, regnerischen Abend in Taipei treiben sich kaum Leute auf der Straße herum, aber im vollbesetzten Nationalen Institut für Kunsterziehung (National Taiwan Art Education Institute) gibt es nur noch Stehplätze. Alle Augen sind auf die Bühne gerichtet, wo mehrere Schauspieler eine lebendige und feurige Nummer vorführen. Gekleidet in lange zeremonielle Gewänder, bekannt unter dem Namen chang pao und dazu passenden Jacken namens makua, spielt das Musiktheaterensemble Taipei (Taipei Musical Theater Group) eine seiner urkomischen - und zunehmend beliebten - Aufführungen und wird mit langem, stürmischem Applaus belohnt. Aber Moment mal ... die Kostüme, Witze und geistreichen Wortspielereien sind doch alle schon alt. Die Darsteller jedoch sind alles anders als alt, und ein Blick ins Publikum läßt erkennen, daß die meisten Zuschauer in den Zwarzigern und Dreßigern sind. Was spielt sich hier ab?
Die jungen Leute im Zuschauerraum sind gekommen, um eine einzigartige chinesische Form des Varietés, als chu-i bekannt, zu sehen. Wörtlich ühersetzt als "gesprochene Kunst" oder "darstellende Kunst" bezeichnet dieser Begriff etwas mit einer langen und ehrenvollen Geschichte. In der Tat galt es bis vor kurzem als veraltet, etwas zu mögen, das für die Großeltern vielleicht noch der Inbegriff der Abendunterhaltung war, doch in Wirklichkeit längst von Kino, Popkonzerten und den allgegenwärtigen Karaoke-Bars, verdrängt worden ist. Die heutige Vorstellung allerdings ist ein Beweis, daß die alten Witze eben doch oft die besten sind! Sogar der Titel der Show - "Grundschule" - ist ein Zeichen dafür, daß die Truppe bemüht ist, ein jüngeres Publikum anzuziehen.
Das Musiktheaterensemble Taipei wurde auf der Grundlage der Erkenntnis gegründet, daß westliche Formen der Unterhaltung bei Taiwans Jugend schon gefährlich an Boden gewonnen haben. Einige besorgte Schauspieler beschlossen, dieser Tendenz entgegenzutreten und etwas zur Erhaltung der traditionellen darstellenden Kunst zu tun. Die Gründung des Ensembles war ein Resultat. Die Gruppe bildete sich 1993 und besteht zur Zeit aus einem "harten Kern" mit acht hauptberuflichen Schauspielern, zehn Teilzeitdarstellern und etwa vierzig Freiwilligen, die hinter den Kulissen tätig sind. Das jüngste Mitglied ist noch keine Zwanzig, das älteste vierzig Jahre alt, das Durchschnittsalter beläuft sich auf unter dreißig. In der Welt des chu-i zählt dies als eine bemerkenswerte Erscheinung.
"Die Truppe ist ziemlich jung, aber das Repertoire ist doch traditionell", sagt Lin Wen-ping(林文彬), 29, Schauspieler und Mitglied der Ensembleleitung. "Es ist unsere Absicht, diese ehrwürdige Kunst mit der modernen Gesellschaft zu verbinden." Mit anderen Worten, das Publikum erwartet weiterhin die bewährten und echten Geschichten, möchte sie aber auf eine neue Art und Weise vorgeführt bekommen. Eines der bekanntesten dieser Repertoirestücke ist eine Dramatisierung des berühmten Romans Reise in den Westen, in dem der kluge Affe Sun Wu-kung und sein Meister Tang San-tsang sich auf eine lange und gefährliche, aber letztendlich lohnende Reise begeben, um die buddhistischen Schriften von Indien nach China zu bringen. Ein anderes bekanntes Beispiel ist die Geschichte des Kuan Kung, ein legendärer Held aus der Zeit der Drei Reiche (221-280). Beide Geschichten gehören zum festen Repertoire der Truppe.
Was genau will das Musiktheaterensemble außer den Geschichten noch bewahren? Chu-i ist eine komplizierte Form der Darstellungskunst mit zahlreichen Varianten. "Forschungen in Festlandchina haben ergeben, daß es etwa 300 Formen des Sprechtheaters gibt", sagt Liu Tseng-kai(劉增鍇), der Direktor der Truppe. "Aber hier in Taiwan haben wir nur dreißig. Diese Kunst gibt es schon seit vielen Jahren, aber es ist unmöglich, genaue Zeitangaben über die Entstehung zu machen, da es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt. Zudem haben sich im Laufe der Zeit Namen und Formen öfters verändert. Wir wissen aber mit Bestimmtheit, daß die derzeitigen Formen während der Ch'ing-Dynastie (1644-1911) entstanden sind."
Lin Wen-pin spielt im wörtlichen und übertragenen Sinn eine Schlüsselrolle. Sein eindrucksvolles und lebhaftes Auftreten bezaubert das Publikum in ganz Taiwan. Wenn sich der Vorhang hebt, zieht er mit seiner klaren, starken Stimme und seinem vielseitigen schauspielerischen Talent sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Während sich die meisten anderen Schauspieler auf eine oder zwei Figuren spezialisieren, ist Lin vielseitiger und schlüpft in viele verschiedene Rollen. Gleichermaßen beeindruckend zeigt er sich hinter den Kulissen, seine Fans verzaubernd mit seiner herzlichen, wortgewandten Art.
Lin wurde in Taiwan geboren. In siner Kindheit war an seiner Stimme nichts Besonderes und er dachte nicht im Traum daran, daß er damit einmal seinen Lebensunterhalt verdienen würde. Nach der Oberschule besuchte er die Militärakademie, wo er zum Krankenpfleger ausgebildet wurde. Zu einer Karriere in der Armee entschlossen, wurde er in der psychiatrischen Abteilung eines Militärkrankenhauses eingesetzt. "Da stand ich unter ziemlich großem Druck", erinnert er sich. "Eines Tages stieß ich zufällig auf die Sprachkunst. Ich lernte sie sieben Jahre lang, bevor ich beschloß, mich ausschließlich diesem Beruf zu widmen." 1992 ließ er die Armee hinter sich und half, das Musiktheaterensemble mitzugründen.
Als Lin und Liu Tseng-kai vor drei Jahren die Gruppe gründeten, veranstalteten sie ihre ersten Aufführungen in ihrer Freizeit. Letztes Jahr erweiterten sie ihre Arbeit und traten nun hauptberuflich in mehreren Städten Taiwans auf. Und nicht nur das - sie gingen auch auf Überseetournee.
Zuerst fand die Truppe alles ziemlich anstrengend. Das Publikum in Taiwan kam - wie heute auch noch - viel zu wenig mit der traditionellen Darstellungskunst in Berührung. "Die meisten Schulkinder haben keinen Kontakt zur traditionellen Musik, ganz zu schweigen von der darstellenden Kunst", meint Lin Wen-pin. "Der Hauptgrund liegt darin, daß es kaum Lehrer gibt, die genügend Kenntnisse darüber besitzen." Seine Motivation veranlaßte ihn, Festlandchina zu besuchen, wo er ching yun ta kun lernte. Er ist der einzige in der Theatergruppe, der diesen Stil beherrscht.
Die Regierung der Republik China hat Lin des öfteren eingeladen, sich Gruppen anzuschließen, die im Ausland vor Überseechinesen auftreten. Er bemerkte am Anfang natürlich, daß sich das Publikum mehr für die bekannten Fernsehstars interessierte als für diesen jungen Grünschnabel, der behauptete, etwas von der jahrhundertealten darstellenden Kunst zu verstehen. Aber bald änderte sich die Situation. Schon seit langem ist Lin so populär, daß er jedes Jahr zu Aufführungen im Ausland verpflichtet wird.
Zu Hause inszeniert das Musiktheaterensemble zweimal jährlich Aufführungen auf landesweit anerkannten Bühnen wie der des Nationalen Instituts für Kunsterziehung. "Unser Ziel ist es, dem Publikum dauernd neue Aspekte der Sprachkunst vorzustellen", sagt Lin. Vier der Vollzeitmitglieder erarbeiten abwechselnd neue Inszenierungen, wobei jeder mit seiner persönlichen Note dem Programm einen eigenen Charakter gibt. Su I-chien(粟奕倩)spezialisiert sich auf Theaterproduktionen für Kinder. Gewagte Innovationen sind das Markenzeichen Kuo Chih-chiehs(郭志傑). Liu Tseng-kai bewährt sich beim Kombinieren von Sprachkunst mit anderen Formen des chinesischen Varietés. Und schließlich Lin Wen-pin, den seine Gestaltung von Programmen für authentische traditionelle Sprachkunst auszeichnet.
Bei so vielen verschiedenen Talenten ist es kaum verwunderlich, auch die alternative Seite des Musiktheaterensembles zu entdecken. Jede Woche gibt es eine drei Stunden lange Aufführung in einem kleinen Theater, das zu "Lu Tan" gehört. Jedes Lokal der "Lu Tan"-Kette - teils Kneipe, teils Kaffeehaus und teils Teehaus nach altem Stil - ist mit prächtigen antiken Möbeln, Kunstwerken und diskreter Beleuchtung ausgestattet und erfreut sich zunehmender Beliebtheit. "Lu Tan" wurde nach dem Spitznamen eines Freundes des Gründers benannt, ist aber eigentlich der Name für lange in einem Sud aus Sojasoße und Gewürzen gekochte Eier.
Das in einer kleinen Seitenstraße gelegene "Lu Tan"-Theater hat sich seit seiner Gründung Ende 1995 allmählich einen eindrucksvollen, wenn auch etwas eigenartigen Ruf erworben. Außen ist kein Schild angebracht und man hört, einige Besucher hätten schon sehr viel Zeit mit der Suche danach verbracht. Der Gründer Chou Hsien-fang(周咸方)leitet die Bühne auf eine eher unübliche Art und Weise, und ein minimaler Werbeaufwand ist ein Teil davon. "Falls jemand Interesse hat, hierherzukommen, dann wird er sich auch bemühen, es zu finden", sagt Chou optimistisch. Das Theater bietet ein vielseitiges Programm, unter anderem gibt es traditionelle chinesische Musik-, Opern- und Theateraufführungen. "Ich gebe schon zu, daß ich nicht alles verstehe", meint Chou, "aber ich versuche, hier etwas Besonderes zu schaffen, etwas wie im Ausland zum Beispiel, wo die Städter Zugang zur traditionellen darstellenden Kunst haben."
Das Geschäft läuft zwar nicht gerade gut, aber davon läßt sich Chou Hsien-fang nicht beirren. Es ist ihm schon klar, daß traditionelle darstellende Künstler neue Ideen und Themen gestalten müssen, wenn sie ein modernes Publikum begeistern möchten. "Finanziell ist es nicht einfach", gibt er zu, "aber das Ensemble ist in meinem Theater ziemlich populär. Es ist ein gutes Gefühl, der Truppe die Möglichkeit zu geben, die Reaktion des Publikums auf neue Inszenierungen zu testen, da die Atmosphäre bei weitem nicht so gespannt wie in einem großen Auditorium ist. Ein guter Platz zum Aufwärmen."
Die Truppe ist voller neuer Ideen. Ihre Version einer jahrhundertealten Geschichte über eine Ehebrecherin, Pan Chin-lien, die ihren Ehemann tötet, nachdem er entdeckt hat, daß sie in eine Affäre verwickelt ist, wird humorvoll und spritzig von Lin Wen-pin erzählt. Die Geschichte wurde im heute gebräuchlichen Vokabular aufbereitet und verleiht somit einer alten und sehr moralischen Erzählung einen modernen Anstrich. Das Publikum ist begeistert von Lins Mischung von hohen und niedrigen Tönen, lebendiger Mimik und anmutiger Gestik. Er verwendet einen Stil, der mit der klassischen Pekingoper in Verbindung gebracht wird. Der Künstler selbst scheut sich nicht, sich über Konventionen hinwegzusetzen. "Unsere Absicht ist, ein breites und jüngeres Publikum anzuziehen", meint er schlicht.
Geht es um die Förderung des Comebacks ihrer Kunst, beschränken sich Lin Wen-pin und Liu Tseng-kai nicht nur auf die Bühne. Beide geben oft Vorträge über die Sprachkunst für Oberschüler. Während der Sommerpause bieten sie von der Jugendvereinigung China gesponserte Kurse für Teenager an, die großen Anklang finden. "Zuerst war ich überrascht", sagt Lin. "Dann fand ich heraus, daß viele Eltern ihre Kinder hsiang sheng lernen lassen, weil es die Sprach- und Reaktionsfähigkeit fördern soll."
Die Türen des Musiktheaterensembles stehen für jeden offen, der an Sprachkunst interessiert ist, nicht nur für Studenten. Aber die Anforderungen für jene, die hauptberuflich als Schauspieler arbeiten wollen, sind sehr strikt. "Man muß sich sehr für die traditionelle darstellende Kunst interessieren und die meiste Zeit der Truppe widmen", sagt Liu Tseng-kai. "Hat man schon Grundkenntnisse im westlichen Drama, muß man trotzdem gewillt sein, chinesische Schauspieltraditionen zu akzeptieren." Die Schauspieler proben mindestens einmal pro Woche, während der Vorbereitungszeit kurz vor den Aufführungen öfter. Ein kahles, kleines Apartment, das die Schauspieler mit einigen Katzen teilen, dient der Truppe als einziger Proberaum. "Wir heißen jeden, der interessiert ist, willkommen", sagt Lin. "Unsere Proben sind wie Partys - sie festigen die Beziehungen."
Die wachsende Popularität der Musiktheatergruppe beweist, daß die Bemühungen des Begründers nicht umsonst waren. Aber die Finanzen geben ständig Anlaß zur Sorge. Die Truppe spielt auch regelmäßig Privatvorstellungen für Einzelpersonen oder Organisationen, aber die Einnahmen aus solchen Aufführungen variieren sehr stark. Lin hofft, bald in der Lage zu sein, eine festgelegte Mindestgage verlangen zu können, doch bis dahin muß sich die Truppe damit zufriedengeben, wenn sie gerade genug verdient, um die monatliche Miete für das Apartment, das als Probebühne dient, die Telefonrechnung, Reisekosten und den Lohn für die drei hauptberuflichen Mitglieder zu bezahlen. Nicht einmal Lin Wen-pin und Liu Tseng-kai beziehen ein regelmäßiges Einkommen, und die meisten Mitglieder arbeiten tagsüber in anderen Berufen. Einer ist zum Beispiel Taxifahrer. Lin verdient seinen Lebensunterhalt als Lehrer.
Das größte Problem allerdings, und für alle Mitglieder auch das frustrierendste, ist nicht das Geld, sondern die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber der Sprachkunst. "Die meisten sind immer noch ziemlich gleichgültig", meint Lin. "Wahrscheinlich, weil man immer noch nicht genug darüber weiß. Nicht, daß die Leute es nicht mögen. Sie haben eben eine Klischeevorstellung von diesem traditionellen Zeug - langweilig und veraltet. In Fernsehshows macht man sich oft über die Sprachkunst lustig, was nicht gerade eine Hilfe ist."
Als Beispiel führt er an, wie das Publikum ihn oft frustriert, indem es während seiner Vorführung ißt, trinkt und redet und ihm eigentlich kaum Aufmerksamkeit schenkt - dies passiert besonders bei den ausgelassenen Festen kurz vor dem chinesischen Neujahr, zu denen die Firmenchefs ihre Angestellten einladen. "Künstler brauchen das Feedback des Zuschauers", versichert er, "sonst drehen sie durch." Aber er hat sich abgefunden mit der Tatsache, daß solche Ereignisse, wie unangenehm auch immer, ein notwendiger Faktor sind, um den Kontostand auszugleichen. "Alles braucht seine Zeit", so seine Philosophie. "Man kann nicht alles an einem Tag schaffen."
Unverzagt fährt das Musiktheaterensemble fort, durch Vorträge, Unterricht und natürlich Aufführungen ein größeres Publikum anzusprechen. "Unser Ziel ist, die traditionellen Wurzeln beizubehalten, während gleichzeitig neue Ideen hinzugefügt werden", betont Lin. "Und wir versuchen, unsere Stabilität zu erhalten", sagt er und grinst verschmitzt. "Schließlich wollen wir nicht allzu schnell groß herauskommen."
(Deutsch von Herbert Salvenmoser)