Hongkongs Zukunft unter chinesischer Herrschaft ist nicht nur in Asien, sondern in der ganzen Welt ein vieldiskutiertes Thema. Was haben diejenigen dazu zu sagen, die in Hongkong leben und arbeiten?
Kürzlich besuchten Redakteure der englischsprachigen Monatszeitschrift Free China Review die noch britische Kolonie. Dort sprachen sie mit führenden Unternehmern, Journalisten und anderen Persönlichkeiten, um zu erfahren, welche politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung sie für Hongkong nach 1997 voraussehen. Darüber, was Hongkong zu einem der wichtigsten Finanzzentren und Wirtschaftsstandorte Asiens gemacht hat, scheinen sie zwar alle einer Meinung zu sein, aber nicht alle haben das gleiche Vertrauen in die Zukunft des Territoriums, wenn es wieder zu Festlandchina gehört. Genaue Voraussagen sind nicht möglich, aber hier ist ein Querschnitt durch die Meinungen einiger Insider, die die Lage beurteilen können.
Ian Perkins, stellvertretender Direktor und Chefökonom, Handelskammer Hongkong:
Die Arbeitsbeziehung zwischen der Regierung der künftigen Sonderverwaltungszone (SVZ) und der Zentralregierung in Peking ist für Hongkongs wirtschaftlichen Wohlstand von entscheidender Bedeutung. Diese Arbeitsbeziehung muß exklusiv sein, ohne jegliche Einmischung von seiten anderer Provinzregierungen oder Behörden des Festlands. Das Basisgesetz besagt, daß keine Provinzverwaltung Macht über Hongkong ausüben oder Hongkong betreffende Entscheidungen fällen darf. Trotzdem versuchen einige Provinzchefs, am Vorbereitungskomitee (dem Vorläufer der SVZ-Verwaltung) beteiligt zu werden. Die SVZ-Regierung ist nur Peking gegenüber verpflichtet.
In Zukunft wird die Konkurrenz vom Festland selbst kommen und nicht aus Singapur, Kuala Lumpur, Djakarta oder sonstwo. Schanghai und Guangzhou werden versuchen, Hongkongs Position als ein internationales Schiffahrts- und Finanzzentrum anzufechten, daher muß Hongkong innerhalb Chinas wettbewerbsfähig sein. Chinas Größe und sein rasantes Wirtschaftswachstum bedeuten jedoch, daß das Land mehr ökonomische Zentren benötigt. Also geht es nicht darum, das einzige Zentrum zu sein, sondern darum, die Nummer eins, zwei oder drei zu sein.
Hongkongs Hauptvorteil ist sein gesetzliches und wirtschaftliches Umfeld. Das Territorium wird einen hohen Grad an Autonomie genießen, und seine Justiz- und Finanzsysteme werden sich von denen im restlichen China unterscheiden. Unsere Systeme sind sehr internationalisiert, für multinationale Unternehmen verständlich und für ausändische Investoren attraktiv. Hongkongs Infrastruktur zieht auch westliche Ausländer an. Der Lebensstil und das Arbeitsumfeld hier sind sehr bequem und ihnen vertraut. Diese Faktoren geben uns gegenüber anderen chinesischen Städten einen Vorsprung.
Internationale Konzerne sorgen sich vor allem über das chinesische Rechtssystem. In einem Artikel des Asian Wall Street Journal legte der Pekinger Anwalt Cao Siyuan kürzlich dar, daß Defizite in der Justizpraxis und nicht die Gesetze selbst es schwierig machen würden, bei einem geschäftlichen Rechtsstreit fair behandelt zu werden. Er führte des weiteren aus, daß Amtsvergehen weit über die Missetaten einzelner hinausgingen. Seinen Beobachtungen kann sich nur zustimmen und auch seiner Schlußfolgerung, daß ein gerechtes Justizsystem für den Erhalt einer erfolgreichen Marktwirtschaft von grundlegender Bedeutung ist. Ich glaube, Hongkong wird diesen Vorteil auch weiterhin bieten.
Was unsere Wettbewerbsfähigkeit wirklich beeinträchtigt, sind die hohen Geschäftskosten in Hongkong. Die neue Verwaltung muß versuchen, die steigenden Kosten unter Kontrolle zu bekommen. Die Unternehmen, die abwandern, tun dies meist nicht wegen 1997. Sie gehen, weil die Mieten, Löhne und anderen Aufwendungen für sie zu kostspielig werden, um hierzubleiben. Wenn man Geschäftsleute zum Thema 1997 befragt, rangieren politische Angelegenheiten auf ihrer Sorgenliste ganz weit unten.
In der Zukunft wird Hongkong vollkommen von den Dienstleistungsbranchen abhängig werden. Es könnte zu Chinas Manhattan werden. Aber das wird eine sehr zerbrechliche Wirtschaftsstruktur schaffen. Mit diesem Problem wird sich die SVZ-Verwaltung auseinandersetzen müssen. Wenn nicht, könnte Hongkong leicht ersetzt werden, sobald die Infrastruktur der chinesischen Großstädte besser entwickelt ist. Dienstleistungsbetriebe, beispielsweise aus dem Herstellungsgewerbe, wären dann in der Lage, auf das Festland zu ziehen, wo die Kosten niedriger sind.
Es ist auch möglich, daß Hongkong eine "chinesischere" Stadt wird. Das Image als internationale Metropole könnte schwinden, wenn sich der Fokus nach innen aufs Festland richtet. Es könnte sogar zu einem Finanzzentrum nur für das Festland und nicht mehr für die internationale Unternehmerschaft werden - Festlandchinas Tokio. Das bereitet den internationalen Geschäftsleuten hier Kopfzerbrechen.
Lee Yee, Chefredakteur des chinesischsprachigen politischen Monatsmagazins The Nineties:
Nach dem Juli 1997 werden die Medien auf die Veränderungen im politischen Klima Hongkongs reagieren und entsprechende Anpassungsmaßnahmen ergreifen müssen. Wenn sie überleben wollen, müssen sie sich an die Vorschriften der neuen Verwaltung halten. Zum Beispiel hat Peking verlauten lassen, daß die Medien in Hongkong, besonders die chinesischsprachigen, das Land (die Volksrepublik) lieben sollten. Wenn unser Patriotismus allerdings an unserer Art der Berichterstattung gemessen wird, wird es keine Realität, keine Wahrheit geben. Uns wurde auch gesagt, wir müßten unsere ethnische Herkunft respektieren und daß es unsere Aufgabe sei, die Stabilität und den Wohlstand in Hongkong zu bewahren. Damit bin ich nicht einverstanden. Unsere einzige Aufgabe besteht darin, die Wahrheit zu berichten. Den Wohlstand und die Stabilität aufrechtzuerhalten ist Sache der Regierung und der Gesellschaft als Ganzes. Wenn es Demonstrationen und Protestaktionen gibt, können wir dann noch darüber berichten oder nicht? Wenn wir es tun, könnte Peking sagen, wir würden die soziale Sicherheit gefährden, und dafür werden wir uns womöglich vor der Sicherheitsbehörde verantworten müssen.
Der Artikel 23 des Pressegesetzes der Volksrepublik besagt, daß Medien verboten werden, die verräterisches, separatistisches oder aufrührerisches Material veröffentlichen. Wer aber legt fest, was verräterisch, separatistisch oder aufrührerisch ist? Natürlich Peking. Ich habe den Direktor des Hongkong-Büros von Chinas offizieller Nachrichtenagentur Xinhua gefragt, ob die Pressefreiheit in Hongkong sich in Zukunft von der auf dem Festland unterscheiden würde. Er hat mir darauf keine Antwort gegeben. Daraus schließe ich, daß er damit sagen wollte, in China herrsche bereits Pressefreiheit und Hongkong werde nach 1997 eine ebenso freie Presse haben.
Grundsätzlich wird die größte zukünftige Bedrohung für Hongkong der Verlust von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sein. Eine weitere wichtige Frage ist die Arbeitsweise der neuen Verwaltung. Zur Zeit funktioniert sie wie ein internationales Unternehmen. Vorschläge werden eingereicht, Kritik wird angehört, mögliche Ergebnisse werden abgewogen und dann die entsprechenden politischen Entscheidungen getroffen. Kurzum, es ist fair. In Peking hingegen sind die Entscheidungen zu politisch motiviert, und die Ideologie hat Vorrang vor dem Wohl der Bevölkerung. In China werden Beamte nicht nach Fähigkeit, sondern nach politischer Linientreue ausgewählt. Ich frage mich, wie gut unsere Regierung in Zukunft arbeiten wird. Der festlandchinesische Nationalismus könnte Hongkongs Wohlstand und Stabilität großen Schaden zufügen. Um ein internationales Finanzzentrum bleiben zu können und ein Infiltriertwerden durch die festlandchinesische Korruptionskultur zu verhindern, sind Redefreiheit, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, die durch eine unabhängige - und keine von der Regierung kontrollierte - Justiz aufrechterhalten werden, absolut lebenswichtig.
Lily Chiang, Geschäftsführungsmitglied von Chen Hsong Ltd., dem weltgrößten Hersteller von Spritzguß:
Hongkongs wirtschaftlicher Reichtum wird auch nach 1997 wachsen, denn die geographische Lage ist unschlagbar. Es liegt zentral in Asien, und die Nähe zum Festland macht es für Geschäftsleute und Techniker bequem, häufig nach China zu reisen. Die kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten erleichtern es ihnen ebenfalls, enge Geschäftsbeziehungen mit ihren chinesischen Partnern zu pflegen. Die ganze Welt will in China investieren, und Hongkong als Tor zu den chinesischen Märkten ist die naheliegendste Entscheidung.
In der Industrie müssen wir uns allerdings neu orientierten. Im Herstellungsbereich mangelt es an drei Dingen: Land, Rohstoffe und Facharbeiter. Indem wir uns auf importierte Materialien und Teile verlassen, sind wir Preisschwankungen und Lieferverzögerungen ausgesetzt, obwohl unser Freihafenstatus es den Unternehmen erlaubt, Teile und Komponenten einzuführen, ohne hohe Zölle zahlen zu müssen. Die Haltung der Regierung, sich aus der Geschäftswelt möglichst herauszuhalten, ist vielleicht der Hauptgrund für Hongkongs wirtschaftlichen Erfolg. Dadurch konnte sich die harte Arbeit der Leute hier wirklich auszahlen. Ich gehe nicht davon aus, daß sich die zukünftige Verwaltung stärker einmischen wird, denn dadurch würde Hongkong seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Zwischen Festlandchina und Hongkong besteht eine Art Vater-Sohn-Beziehung. Die Frage ist, ob ihre Grundlage Zusammenarbeit oder Kontrolle sein wird. Wir müssen einander helfen - wir werden die wirtschaftlichen Möglichkeiten schaffen, und dafür muß man uns einen größeren Marktanteil zusichern. Wenn ein Vater seinen Sohn nur kontrollieren will, werden sich die Spannungen zwischen ihnen nur noch verschlimmern. Ich hoffe, wir können gut zusammenarbeiten, aber Peking erteilt lieber Befehle und erwartet, daß sie befolgt werden. Um ihre Autorität zu unterstreichen, scheint die chinesische Regierung sich in alles einmischen zu müssen - Presse, Politik und Justiz.
Die SVZ-Verwaltung sollte sich auf ihre Rolle als Vermittler zwischen den ausländischen Interessen in Hongkong und der Führung in Peking konzentrieren. Um der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung nicht im Wege zu stehen, braucht Festlandchina Kapital von überseechinesischen und ausländischen Investoren, das über Hongkong ins Land kommt. In Peking scheint man über internationale Trends nicht auf dem laufenden zu sein, aber von Hongkong aus kann die SVZ-Verwaltung als Pekings Berater über aktuelle Ereignisse und Probleme im internationalen Busineß fungieren. Sie kann auch dazu beitragen, das Festland stärker in die internationale Gemeinschaft einzugliedern.
Ebenso sollte Hongkong weiterhin die Kluft zwischen dem Festland und Taiwan überbrücken dürfen, damit das Festland fortfahren kann, Kapital und technologische Investitionen aus Taiwan zu erhalten und Taiwan fortfahren kann, von diesem Zugang zu den Märkten und Ressourcen auf dem Festland zu profitieren. Wenn Hongkong, das Festland und Taiwan ihre Interessen vereinigen, wird der großchinesische Wirtschaftsraum das ökonomische Zentrum der Welt im 21. Jahrhundert werden.
Stephen C. Yam, Leiter des Zentrums für Fortbildung und Gemeindecolleges, Open Learning Institute Hongkong:
In bezug auf Hongkongs Zukunft bin ich optimistisch. Festlandchina ist Hongkongs Hauptquelle für ausländische Investitionen, und Hongkong ist das Fenster für Chinas wirtschaftliche Beziehungen mit dem Rest der Welt. Das Festland wird seine eigenen Interessen nicht schädigen wollen. Wenn wir Peking in Ruhe lassen, wird es uns auch in Ruhe lassen. Taiwan gegenüber hat es zwar einigen Krach und militärische Stärkedemonstrationen gegeben, aber nur, weil Pekings Autorität und Sicherheit bedroht waren. Auch werden Journalisten nur in Haft genommen, wenn die Führung in Peking das Gefühl hat, die Sicherheit des Landes sei in Gefahr. Die meisten Bürger in Hongkong läßt die Politik aber völlig kalt. Sie spielen lieber Mah-Jongg.
Das Festland wird in Hongkong Wirtschaft und Politik voneinander trennen. Politisch muß Peking seine Ideologie schützen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß die politischen Gesetze härter werden, wie zum Beispiel die über Landesverrat, um zu verhindern, daß Hongkong zu einer antikommunistischen Basis wird. Die Wirtschafts- und Investmentgesetzgebung wird jedoch so bleiben, wie sie jetzt ist. Peking hebt immer wieder Hongkongs Position als wirtschaftliches - und nicht politisches - Zentrum hervor. Diese Haltung wird auch durch die Tatsache belegt, daß die meisten Mitglieder des Vorbereitungskomitees aus der Wirtschaft kommen. Hongkong ist nur wie eine Firma, die einen neuen Chef bekommt. Der chinesische Chef handhabt die Dinge anders als der englische, aber die Grundstruktur des Unternehmens bleibt gleich. Vor zwei Jahren wurden für Geschäftseröffnungen immer englische Prominente als Ehrengäste eingeladen. Heute werden an ihrer Stelle Beamte von der Nachrichtenagentur Xinhua (die inoffizielle Vertretung Festlandchinas in Hongkong) eingeladen. Das ist absolut normal. Wir wollen uns mit unserem neuen Chef gutstellen.
Meine Sorge gilt der Bildung. Die meisten jungen Leute in Hongkong, auch Universitätsstudenten, verstehen nicht viel von Politik, und es kümmert sie auch nicht weiter. Sie denken nur daran, ob sie Arbeit finden. Sie vergnügen sich lieber, als sich um gesellschaftliche Probleme zu scheren. Das Hongkonger Bildungssystem unter britischer Herrschaft hat auf ganzer Linie versagt. Die Schüler lernen nichts über chinesische Geschichte und Geographie, sie fühlen sich weder zur chinesischen Kultur zugehörig, noch identifizieren sie sich damit. Was für eine Zukunft können sie für Hongkong aufbauen?
Jeffrey K.F. Lam, stellvertretender Vorsitzender der Spielzeugherstellervereinigung Hongkong:
Als Festlandchina Anfang der achtziger Jahre seine Öffnungspolitik einleitete, haben wir die billigen Grundstückspreise und Lohnkosten auf der anderen Seite der Grenze voll ausgenutzt. Allerdings gab es viele Unsicherheitsfaktoren, und die meisten Unternehmen sind deshalb lieber in Hongkong geblieben. Doch bald wurden viele Fabrikanten zuversichtlicher und zogen nach Festlandchina. Nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens bekamen viele Leute Angst und ihr Optimismus ließ stark nach. Jetzt steigt er wieder, aber der Wettbewerb ist allgemein viel härter geworden, besonders im Herstellungsgewerbe. Busineß kann nur in einem stabilen Umfeld funktionieren, und politische Stabilität ist für Investoren eine sehr wichtige Frage. Als Geschäftsmann interessiere ich mich nicht sonderlich für Politik, aber die Politik kann Industrie und Wirtschaft stark beeinflussen. Ich möchte nicht darüber spekulieren, was nach 1997 kommen wird, aber meiner Erfahrung nach wird Hongkong ein guter Geschäftsstandort bleiben.
Unsere Zukunft hängt von der Zuversicht in Hongkong ab. Wenn die meisten Leute optimistisch bleiben, wird Hongkong weiter florieren. Sind sie es aber nicht und ziehen ab, wird Hongkong sehr darunter leiden. Die meisten Unternehmen sind geblieben, und das hat stabilisierend auf die Wirtschaft gewirkt. Das läßt mich zuversichtlich in die Zukunft blicken. Hongkong hat soviel zu bieten, besonders die lockere Wirtschaftspolitik der Regierung. Indem sie sich auf die Entwicklung der Infrastruktur konzentrierte, anstatt sich in die Geschäftswelt einzumischen, hat die Regierung Bedingungen geschaffen, die ein schnelles wirtschaftliches Wachstum ermöglichten. Weder subventioniert noch bevorzugt oder entmutigt die Regierung bestimmte Branchen oder Firmen. So konnte ein absolut fairer Wettbewerb entstehen. Unsere neue Regierung sollte daran nichts verändern.
Frank Ching, Chefredakteur, Far Eastern Economic Review, ein führendes Wochenmagazin über die Wirtschaft und Politik der Region:
Ich meine, Peking meint es ziemlich ernst damit. Hongkong vom Rest des Festlands getrennt zu halten. Immerhin verbrachte Peking zwei Jahre mit den Verhandlungen über die Gemeinsame Erklärung, fünf Jahre mit der Erarbeitung des Basisgesetzes und viele lahre mehr mit den Verhandlungen über verschiedene Abkommen mit Großbritannien. Ich denke, Peking wird diese Vereinbarungen einhalten. Allerdings sorge ich mich darum, wie Peking die Bedeutung dieser Abkommen interpretieren bzw. wie es sie in die Tat umsetzen wird.
Als die Gemeinsame Erklärung 1984 unterzeichnet wurde, ging man davon aus, daß bis 1996 alles vorbereitet sein würde. Aber knapp ein Jahr vor der Übergabe ist noch überhaupt nichts klar. Wir wissen nicht, wer der Chef der Verwaltung werden wird; wir wissen nicht, wie das Parlament künftig aussehen wird; und wir wissen nicht, ob es freie und gerechte Wahlen geben wird. Das liegt größtenteils daran, daß Peking mit vielen Veränderungen, die in Hongkong seit 1984 stattgefunden haben, nicht zufrieden ist.
Als aus Peking verlautete, Hongkong würde mindestens 50 Jahre lang "unverändert" bleiben, bedeutete das meiner Meinung nach, daß in Hongkong der Kapitalismus weiter existieren kann und dem Territorium nicht das sozialistische System des Festlandes auferlegt werden wird. Jegliche Veränderung in Hongkong sollte das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung der Gesellschaft sein. So sollte das Abkommen verstanden werden. Jetzt sagt Peking aber, daß es sich 1984 damit einverstanden erklärte, die Situation so zu belassen, wie sie zum Zeitpunkt der Unterzeichnung war. Es habe sich keinesfalls verpflichtet, Veränderungen zuzustimmen, die zwischen 1984 und 1997 stattfanden bzw. -finden. Das Vorbereitungskomitee will jetzt eine Liste aller Gesetzesänderungen seit 1984. Das könnte bedeuten, daß Peking die Uhr zurückdrehen möchte.
Es könnte aber auch bedeuten, daß Peking sich in Hongkongs Rechtssystem einmischen will. Technisch gesehen wird das Gesetz Hongkongs von der Hongkonger Judikative ausgelegt und nicht von Peking. Die Justiz besteht jedoch aus einzelnen Personen, und auf Einzelpersonen läßt sich leichter Druck ausüben. Außerdem könnten viele der erfahrenen britischen Richter vor der Übergabe gehen, weil sie befürchten, daß die Justiz dann ihre Unabhängigkeit verlieren wird. Das heißt, daß die neue Justiz größtenteils aus unerfahrenen Richtern bestehen wird, von denen einige leichter unter politischen Druck gesetzt werden könnten - besonders dann, wenn Hongkong von festlandchinesischen Beamten und deren persönlichen Interessen verwaltet wird.
Das Konzept "Ein Land, zwei Systeme" kann nur aufgehen, wenn jedes System seine eigene Führung hervorbringt. Wenn Peking entscheidet, wer künftig in Hongkong regieren wird und diese Führung auch noch kontrolliert, wird es nur ein System geben. Das Basisgesetz gibt dem Festland die Vollmacht, den Chef der Verwaltungszone und andere hohe Beamte zu ernennen. Solche Ernennungen sollten jedoch die Wünsche der Menschen in Hongkong widerspiegeln und nicht die Pekings.
Die festlandchinesische Regierung ist jedoch dabei, die gegenwärtige Legislative abzuschaffen. Sie sagt, daß sie eine provisorische Legislative einsetzen wolle, die im Endeffekt ein ernannte Parlament sein wird. Die festlandchinesischen Verantwortlichen sagen, daß es in Zukunft Wahlen geben werde. Nur wissen wir nicht, wie diese Wahlen aussehen werden. Für mich sieht das alles sehr nach Einmischung in Hongkongs innere Angelegenheiten aus. Sollte die wirklich der Fall sein, wie kann man dann noch von "Ein Land, zwei Systeme" sprechen?
Auch würde es mich in bezug auf Hongkongs Zukunft sehr pessimistisch stimmen, wenn uns unsere Presse-, Rede- und Meinungsfreiheit, an die wir hier so gewöhnt sind, genommen würde. Ich glaube zwar nicht, daß die Volksbefreiungsarmee einfach in eine Zeitungsredaktion einfallen wird. Aber wenn Peking die Medien kontrollieren und ihnen vorschreiben will, worüber sie berichten dürfen und worüber nicht, wird es das mittels seiner Gesetze und wirtschaftlichem Druck tun. Um ihre Profite zu schützen, haben sich einige Vertreter der Massenmedien freiwillig gebeugt, obwohl bisher noch kein wirklicher Druck ausgeübt worden ist. Trotzdem hat sich der Hongkonger Journalistenverband in die vorderste Linie des Kampfes für den Erhalt der Pressefreiheit in dem Territorium eingereiht. Diese Leute haben großen Mut bewiesen, denn gerade sie wissen genau, daß Peking Akten über Andersdenkende führt, die ihre Meinungen offen aussprechen.
M.W. Lui, Vorsitzender des Hongkonger Verbands der Elektronikindustrie:
Seit den Achtzigern geht es mit Hongkongs Elektronikindustrie bergab. Über 95 Prozent der Branchenfirmen haben ihre Produktion nach China verlegt. Wie in Taiwan befürchtet man auch in Hongkong eine Deindustrialisierung. 1979 hat die Herstellungsindustrie noch 33 Prozent des gesamten Industriesektors ausgemacht. Jetzt sind es nur noch 1l Prozent. Unser Bruttoinlandsprodukt verläßt sich heute auf den Handel, den Finanzsektor und das Dienstleistungsgewerbe. Die Arbeitslosenrate ist von 1,8 auf 3,2 Prozent gestiegen, mit steigender Tendenz. Das ist nicht gut.
Taiwan hat seine Industrie viel besser aufgewertet. In Hongkong unterstützt die Regierung keine Branche, während die Regierung in Taiwan die Entwicklung der Computerindustrie stark förderte und beeindruckende Resultate erzielte. Da die Übergabe in knapp einem Jahr bevorsteht, erwarte ich von unserer derzeitigen Regierung nicht viel, rechne aber damit, daß die SVZ-Verwaltung mehr für Hongkong tun wird.
Es gab einige Ungewißheit über Hongkongs Zukunft nach 1997, die sich in den letzten Jahren auch auf unsere Wirtschaft ausgewirkt hat. Ich meine, jetzt hat sich die Lage wieder stabilisiert. Wer gehen wollte, ist gegangen. Wer gegangen ist und im Ausland nicht überleben konnte, ist zurückgekehrt. Solange Hongkongs soziale Stabilität erhalten bleibt und die Politik nicht mit der Wirtschaft vermischt wird, wird die Ankunft von 1997 kein größeres Problem darstellen. Wenn Festlandchina Hongkongs Wirtschaftskraft zerstört, wird das sehr teuer und auch peinlich. Also glaube ich, daß Hongkong den Hongkongern überlassen bleiben wird.
Yeung Chun Fan, stellvertretender Präsident der Vereinigung der Bekleidungshersteller Hongkongs und Ausschußmitglied im politischen Volksberatungskongreß der Provinz Hebei:
Hongkong ist eine freie Marktwirtschaft, in der sich die Regierung äußerst selten in die wirtschaftlichen Angelegenheiten einmischt. Ich glaube, daß das nach 1997 auch so bleiben wird. Das Festland hätte zuviel zu verlieren, wenn Hongkongs gewerbliches Umfeld und Wirtschaft Schaden nehmen sollten. Ich glaube nicht, daß die Leute in Peking Dummköpfe sind. Um ein Land gut zu regieren, muß eine Regierung die Unterstützung des Volkes haben. Wie bekommt man diese Unterstützung? Ermögliche ihnen ein gutes Leben. Ohnedem wird niemand die Unterstützung des Volkes gewinnen können, egal in welchem politischen System. Die Menschen denken realistisch. Wenn ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden, sind Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus nur leere Worte. Doch niemand möchte, daß seine Macht angefochten wird. Daher betonen die chinesischen Kommunisten immer wieder, sie würden keinesfalls zulassen, daß Hongkong zu einer antikommunistischen Hochburg wird. Solange es der festlandchinesischen Politik gegenüber neutral bleibt, wird Hongkong keine Schwierigkeiten bekommen. Peking möchte auch, daß Hongkong anerkennt, ein Teil Festlandchinas zu sein. Das mag vielen nicht gefallen, aber wenn man dagegen Widerstand leistet, wie kann man dann erwarten, daß Peking einem bei der Gestaltung seines Lebens und seiner Geschäfte freie Hand läßt?
Hongkongs Kleinunternehmer können es sich nicht leisten, sich um die Politik oder die langfristige Zukunft zu kümmern. 1997 wird kaum Wirkung auf Hongkongs Geschäftswelt zeigen. Das ist meine persönliche Meinung. Einige Leute haben aus verschiedenen Gründen andere Sichtweisen. Jeder hat andere Bedürfnisse: Einige wollen den großen Erfolg, und andere nur ein glückliches, friedliches und ganz normales Leben mit drei Mahlzeiten am Tag.
Guy Lam, Vorsitzender der Allianz von Chinesen und Ausländern Hongkong, eine eingetragene politische Partei:
Im Vorfeld der Übergabe sind viele Leute aus Hongkong ausgewandert, und viele davon werden womöglich zurückkommen wollen. Vielleicht warten sie wie diejenigen von uns, die hiergeblieben sind, um zu sehen, ob Festlandchina sich an seine "Ein Land, zwei Systeme"-Politik halten wird. Doch die meisten haben immer noch das Gefühl, daß Hongkong ihre Heimat ist. Die beste Zukunft, auf die wir hoffen können, ist eine, in der Politik und Wirtschaft voneinander getrennt sind. Das Konzept "Ein Land, zwei Systeme" ist in der Welt ohne Beispiel. Es gibt zwischen Festlandchina und Hongkong große Unterschiede, und wir sind von vielen Unruhen verschont geblieben, die das Festland unter den Kommunisten heimgesucht haben. Nach 1997 könnte dies jedoch nicht mehr der Fall sein. Die Machtkämpfe in Peking könnten gefährliche Störungen verursachen. Können wir verhindern, darin verwickelt zu werden?
Viele Geschäftsleute blicken optimistisch in die Zukunft, weil sie von Pekings Öffnungspolitik stark profitiert haben. Hongkong hatte Zugang zu Chinas Märkten, konnte die billigen Grundstücks- und Lohnkosten nutzen und dabei trotzdem vom Festland getrennt bleiben und einen anderen Lebensstil genießen. Was passiert aber, wenn die "Ein Land, zwei Systeme"-Politik nicht funktioniert und wir unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit verlieren? Dann werden die Investoren ihr Vertrauen in Hongkong verlieren - nicht nur die ausländischen, sondern auch die hiesigen -, und sie werden ihr Geld woanders anlegen. Sollte das Konzept aufgehen, muß Hongkongs Verwaltung mit ausreichend Macht ausgestattet werden, um Peking davor zurückzuhalten, sich in Hongkongs innere Angelegenheiten zu mischen. Diese Macht muß vom Volk kommen. Wenn die Regierung in Peking ihre Vertreter einsetzt, werden sie nicht von Hongkongs Bevölkerung unterstützt werden. Und wenn Peking fortfährt, sich einzumischen, wird hier niemand mehr investieren wollen, und Hongkong wäre tot.
(Deutsch von Christiane Gesell)