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Was verbirgt sich hinter den Klassikern?

01.03.1996
Die Klassiker hatten die ganze chinesische Geschichte hindurch immer einen enorm hohen Stellenwert. Jahrhundertelang war eine gründliche Kenntnis der konfuzianischen Werke eine der Grundvoraussetzungen für den Zugang zum mächtigen Beamtenapparat der Gelehrten. Sie wurden während der Kindheit auswendig gelernt, und im weiteren Verlauf des Lebens bediente man sich dieses Wissens zu vielerlei Zwecken, zum Beispiel um seinen Schreibstil zu verfeinern, moralische Wahrheiten zu belegen und praktische Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Der traditionelle Oberbegriff für diese Werke lautet Ssu-shu Wu-ching(四書五經), "Vier Bücher und Fünf Klassische Werke". Der große Gelehrte der Sung-Dynastie, Chu Hsi(朱熹), schrieb die später zum Standard gewordenen Kommentare zu den Vier Büchern - die Große Lehre(大學), die Doktrin der Mitte(中庸), die Gespräche(論語)und Menzius(孟子). Sie wurden zur Fibel der chineischen Erziehung und zum Einstieg in die höhere Bildung, bevor sich der Schüler an die Lektüre der Fünf Klassiker machte.

Die Große Lehre ist ein kurzer Essay, dessen grundlegendes Thema die Entwicklung des eigenen Charakters ist. Die Doktrin der Mitte ist durch und durch konfuzianistisch geprägt und handelt von der Notwendigkeit, das menschliche Handeln in Einklang mit dem Universum zu bringen. Eine Auswahl der Aktivitäten und Diskurse des Konfuzius (551-479 v.Chr.) ist in den Gesprächen festgehalten, die möglicherweise von seinen Schülern zusammengestellt worden sind. Menzius ist eine Sammlung von Aussprüchen des gleichnamigen Autor (372-289 v.Chr.), des sogenannten "Zweiten großen Weisen". Die Entstehung des Werks wird ebenfalls seinen Schülern und Anhängern zugesprochen.

"Die Klassiker" genossen je nach Zeitalter unterschiedlich große Bedeutung. Nach der Zeit des großen Historikers der Han-Dynastie, Ssu-ma Chien(司馬遷), galten sechs Texte als ein Kanon: das Buch der Lieder(詩經), das Buch der Urkunden(書經), das Buch der Wandlungen(易經), das Buch der Riten(禮記), die Frühlings- und Herbstannalen(春秋)und das Buch der Musik(樂經). Traditionsgemäß galt Konfuzius als derjenige, der diese sechs Werke redigiert bzw. verfaßt hat, obwohl daran stark gezweifelt werden muß. Das Buch der Musik mag einmal existiert haben, doch heute ist kein solches Werk mehr vorhanden, und nur in den frühesten Kommentaren wird überhaupt Bezug darauf genommen - daher die "Fünf Klassischen Werke" und nicht sechs.


Das Buch der Lieder ist eine Anthologie von Gedichten, die größtenteils aus dem Anfang der Chou-Dynastie (1122-255 v.Chr.) stammen. Das Buch der Urkunden besteht aus zahlreichen Reden und Berichten, von denen angenommen wird, daß sie von den Herrschern und Beamten höchsten Ranges aus den Anfängen der Geschichte bis in die frühe Chou-Dynastie hinein verfaßt worden sind. Eine Art Handbuch der Weissagungen ist das Buch der Wandlungen. Das Buch der Riten ist im Prinzip eine Sammlung ritueller Texte, die von großen philosophischen Abhandlungen bis hin zu minuziösen Lebensregeln eine große Bandbreite von Themen abdecken. In den Frühlings- und Herbstannalen werden im Staat Lu, Konfuzius' Heimat, zwischen den Jahren 722 und 481 v.Chr. stattgefundene bzw. den großen Lehrmeister selbst betreffende Ereignisse beschrieben.

Heutzutage beschränken sich ernsthafte Studenten der chinesischen Literatur nicht nur auf die Vier Bücher und Fünf Klassischen Werke. Der Terminus ching hat sich im Sprachgebrauch mittlerweile als Bezeichnung für ein extrem breitgefächertes Spektrum von alten philosophischen und literarischen Texten eingebürgert.

(Deutsch von Christiane Gesell)

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