29.04.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Klassische Literatur im Wandel der Zeit

01.03.1996
Immer mehr taiwanesische Eltern sind der Meinung, daß ihre Kinder wie dieses kleine Mädchen schon im Grundschulalter mit der Lektüre der Klassiker beginnen sollten.

Als die Klassiker der chinesischen Literatur aus dem Kernprogramm des Bildungssystems gestrichen wurden, meinten viele Gegner dieser Maßnahme, daß das "Gewebe" der chinesischen Kultur einiger seiner wichtigsten Fäden beraubt worden sei. Eine Gruppe von Enthusiasten versucht nun, sie wieder aufleben zu lassen.

An einem Samstagnachmittag opfern 25 Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren in einem großen klimatisierten Klassenzimmer eines privaten Forschungsinstituts im Westen von Taipei ihre Freizeit für zusätzlichen Unterricht.

Die Schüler dieser außergewöhnlichen Klasse gehen zunächst zehn kurze, geschlossene Passagen aus den Gesprächen des Konfuzius durch, wobei sie jeden Satz laut mitlesen. Danach teilt der Lehrer sie in Gruppen ein, die sich der Reihe nach vor der Klasse aufstellen und alle zehn Passagen rezitieren. Die Leistungen jedes Kindes werden bewertet und kommentiert. Als die letzte Gruppe fertig ist, beginnen die Kinder mit zehn neuen Abschnitten. Der Lehrer geht mit einem Mikrophon in der Hand durch die Reihen und erteilt Anweisungen für Aussprache und Intonation.

Sie fahren weitere 30 Minuten nach dem gleichen Schema mit einem Essay aus Chuang Tzu fort. Am Ende der zweiten Stunde werden die Kinder ein wenig unruhig. Einige gehen etwas trinken, andere lassen ihren Kopf aufs Pult sinken, und ein paar der Jüngsten klettern sogar auf Mamas Schoß. Der Lehrer reagiert und wechselt zu etwas Leichterem. Jetzt liest die Klasse im Chor eine Auswahl aus den Dreihundert Gedichten der Tang-Dynastie. Dabei gibt der Lehrer durch Fingerschnippen den Takt an, während die Kinder mit ihren Stiften aufs Pult schlagen, mit den Füßen auf den Boden klopfen oder die Beine schwingen, um im Rhythmus zu bleiben. Nach dieser kleinen Einlage hebt sich die Stimmung beträchtlich. Die Kinder sehen erfrischt und fröhlich aus, als sie sich auf den Heimweg machen. Im Hua-Shan-Forum ist wieder einmal eine Unterrichtsvorführung zu Ende gegangen.

Was geht hier vor? Seit zwei Jahren bietet das Forum an Samstagnachmittagen Demonstrationsunterricht im Lesen der ching (經) an: die in der alten Schriftsprache verfaßten Klassiker der chinesischen Literatur. Über unzählige Generationen hinweg waren diese Werke das Rückgrat der chinesischen Bildungstradition. Es ist allerdings lange her, daß ihnen mehr als nur spärliche Aufmerksamkeit in den Lehrplänen gewidmet wurde, was diese Unterrichtssitzung zu etwas Besonderem macht. Mit dem Begriff "Demonstrationsunterricht" wird betont, daß am Zuhören interessierte Eltern und Lehrer willkommen sind; ein Angebot, das schon viele in Anspruch genommen haben.

Jahrhundertelang waren "die Klassiker" fast gleichbedeutend mit Bildung: alte Texte, welche die Zeit überdauert hatten. Das Schriftzeichen für Klassiker, ching, hat auch die Bedeutung "Kette" bzw. "Kettfaden" eines Gewebes mit den Konnotationen essentielle Kraft und unveränderliche Struktur, die bei denjenigen, die sie studiert und über die Gesellschaft, in der sie leben, nachgedacht haben, einen Eindruck hinterlassen haben müssen. Ob in Schulen oder bei Privatlehrern, die Kinder in China studierten - lernten auswendig, um genau zu sein - die Vier Bücher und Fünf Klassiker sowie die Standardkommentare zu diesen Werken. So sah bis zum Untergang der Ch'ing-Dynastie 1911 die allgemeine Schulausbildung aus.

Als das traditionelle Beamtenprüfungssystem 1905 abgeschafft wurde, entwickelte sich in China eine neue Bildungsbürgerschicht. Die Bildungsreform und Regierungsstipendien ermöglichten es Tausenden junger Chinesen, in Japan, Europa und den USA Naturwissenschaften, Ingenieurwesen, Medizin, Jura, Wirtschaftswissenschaften und Pädagogik zu studieren. Viele neue Einflüsse veranlaßten diese im Ausland ausgebildeten Chinesen, die traditionellen Denkweisen in Frage zu stellen und sich brennend für westliche Ideen zu interessieren. Weitere Ursachen für ihren Gesinnungswandel waren die häufigen Niederlagen, die China gegen ausländische Mächte einstecken mußte, die Schwäche und Inkompetenz des Ch'ing-Hofes und der Erfolg der Meiji-Reform in Japan.

Diese neue Intellektuellengeneration nahm alle Aspekte der traditionellen chinesischen Kultur und Moralvorstellungen genau unter die Lupe. Aus dem Ausland brachten sie die demokratischen Prinzipien von Gleichheit und Freiheit des einzelnen sowie wissenschaftliche Ansätze zur Problemlösung mit. Es dauerte nicht lange, da strebten einige von ihnen nach einer tiefgreifenden Kulturreform. 1912 traf Chinas Bildungsminister Tsai Yuan-pei (蔡元培), der selbst lange in Deutschland studiert hatte, die mutige Entscheidung, das Fach chinesische Klassiker aus dem offiziellen Lehrplan zu nehmen. Bald darauf regte Hu Shih (胡適 ), damals Philosophieprofessor an der Nationalen Peking-Universität, mit Erfolg an, daß Literatur fortan nur noch in normaler Alltagssprache und nicht mehr in der klassischen Schriftsprache verfaßt werden sollte - ein deutlicher Erfolg für die pai hua wen (白話文)-Bewegung, die forderte, daß sich die Umgangssprache sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochen Kommunikation durchsetzen sollte.

Nachdem Hu Shih die klassische chinesische Schriftsprache für tot erklärt hatte, wurden die Schüler nicht mehr dazu ermutigt, ching zu lesen. So kommen Taiwans Schüler heutzutage eher selten mit den Klassikern in Berührung, obwohl Auszüge aus klassischen Werken von der Grundschule bis zum Ende der Oberschule unterrichtet werden. Die einzige Ausnahme bilden Studenten mit dem Hauptfach chinesische Geschichte oder chinesische Sprache und Literatur.

Es wäre aber falsch anzunehmen, daß die Bewegung für die Umgangssprache von der Mehrheit unterstützt wurde. Der klassischen Schriftsprache hat es nie an Anhängern gefehlt, insbesondere auf dem Gebiet der Kulturstudien. Wang Tsai-kuei (王財貴), Doktorand in der Abteilung für chinesische Sprache und Literatur der Nationalen pädagogischen Hochschule Taiwans, äußert seine Kritik an den Verfechtern der Alltagssprache ganz offen. "Wenn wir das Gesamtbild betrachten, war es immer ihr zentrales Konzept, sich am Westen zu orientieren, besonders an den dortigen demokratischen Systemen und wissenschaftlichen Errungenschaften", sagt Wang. "Das finde ich ganz in Ordnung. Der Fehler der Bewegung lag in ihrer Verleugnung des Wertes der chinesischen Zivilisation. Die chinesische Kultur hat ihre Schwachstellen, aber wenn man die Klassiker ausschließt, die doch zum Wesen dieser Kultur gehören, schüttet man das Kind mit dem Bade aus."

Wang ist der Meinung, daß dem Studium der Klassiker die ihm gebührende Stellung im Mittelpunkt der chinesischen Bildung zurückgegeben werden sollte. "Dadurch, daß die chinesischen Schüler von der langen Tradition des Klassiker-Studiums abgeschnitten sind, hat die Bewegung [für Umgangssprache] erreicht, daß die Verbindung zu unserem Kulturerbe unterbrochen wurde", befindet er. "Moderne Chinesen bekommen nicht die Möglichkeit, die Weisheiten ihrer Vorfahren zu verstehen, geschweige denn, aus ihnen zu schöpfen."

Wang's Urteil über die Haltung der Bewegung für Umgangssprache gegenüber den Klassikern ist besonders vernichtend. "Sie für anachronistisch zu erklären und zu verlangen, daß wir sie ausrangieren sollten, ist vollkommen irreführend", ereifert er sich. "Die Klassiker lehren uns nicht, wie früher zu leben, weil es darin nicht um Technik oder praktisches Wissen geht. Man liest sie nicht, um ein altertümliches System zu begreifen und dann zu versuchen, es auf die moderne Gesellschaft zu übertragen. Der Wert liegt im Verstehen des Geistes, der hinter diesem System steckt. Die ching handeln vom Leben auf einer metaphysischen Ebene. Sie stehen der Modernisierung Chinas gewiß nicht im Weg."

Mit der Unterstützung und Ermutigung seiner Frau heuerte Wang vor rund zehn Jahren einen Privatlehrer an, der seine vier Kinder in den ching unterrichtete. Jedes von ihnen wurde im Grundschulalter an die Klassiker herangeführt. Nachdem die beiden Ältesten zwei Jahre lang die Klassiker gelernt hatten, überrundeten sie mit ihren hervorragenden Leistungen alle anderen Mitschüler - nicht nur im Chinesischunterricht, sondern auch in allen anderen Fächern. Das dritte Kind hat vor fünf Jahren angefangen und die Jüngste vor über zwei Jahren sogar schon als Erstkläßlerin. Wie ihre älteren Geschwister vollbringen auch diese beiden in der Schule Spitzenleistungen. Doch über den Hinweis auf die verbesserten Noten seiner Sprößlinge hinaus behauptet der stolze Vater, daß seine Kinder emotional stabiler und geistig reifer als ihre Altersgenossen seien. Seine Frau ist der gleichen Meinung. Sie engagiert sich als Vertretungslehrerin beim freiwilligen Wochenendunterricht in klassischer Literatur.

Wang hält die Lektüre für sehr wertvoll. "Meine Kinder sind keine Wunderkinder", betont er, "und als Eltern haben wir keine radikalen Erziehungsprinzipien. Ich weiß nur, daß meine Kinder die chinesischen Klassiker lesen, während andere in irgendeiner Nachhilfeschule die Bedienung des Abakus lernen und an ihren mathematischen Fähigkeiten feilen. Also glaube ich, daß ihnen die Klassiker dabei geholfen haben, ihr logisches Denkvermögen und eine geistige Reife schneller zu entwickeln."

Diese Aussage könnte beim westlichen Leser ohne weiteres eine nostalgische Stimmung auslösen. Einerseits sind die Eltern von heute in beiden Hemisphären darauf bedacht, daß ihre Kinder sowohl ihr Gedächtnis trainieren als auch ihren Umgang mit der Sprache verbessern. Doch wie viele dieser Eltern blicken andererseits gern auf heiße Sommerwochenenden zurück, die sie mit dem Auswendiglernen ellenlanger deutscher Gedichte verbracht haben?

An diesem von einem taoistischen Tempel in Taipei veranstalteten Rezitationswettbewerb nahmen über achtzig Kinder und Hunderte von Zuschauern aus ganz Taiwan teil.

Viele Väter würden es wahrscheinlich vorziehen, das Geheimnis hinter den schnell erworbenen Fähigkeiten ihrer Kinder für sich zu behalten, doch nicht so Wang. "Ich bin mehr als erfreut, meine Erfahrungen zu teilen, um anderen chinesischen Eltern eine pädagogische Möglichkeit anzubieten, die zwar zur Verfügung steht, aber selten genutzt wird", sagt er. Vor etwa fünf Jahren, also kurz nachdem seine eigenen Kinder mit den Klassikern begonnen hatten, schickten auch immer mehr Freunde ihre Sprößlinge zu Wang's Lektürestunden. Schon bald war eine kleine Klasse zusammengekommen, und die Neuigkeit des Experiments verbreitete sich schnell. Stiftungen, Lehrer-Fortbildungsworkshops, Kulturzentren, Kindergärten und Grundschulen luden Wang ein, um Vorträge über Kindererziehung, Bildung und insbesondere über das ching-Lesen zu halten. Er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um für seine Ideen zu werben.

1992 stellte die Stiftung für Chinesische Kultur, eine gemeinnützige Organisation, die sich primär der Zusammenstellung von Forschungsmaterial widmet, Gelder zur Verfügung, mit denen Wang eine ching-Klasse für zwanzig Kinder eröffnen konnte. Der Unterricht läuft weiterhin gut, obwohl mittlerweile ein anderer Lehrer den Kurs übernommen hat. Von noch größerer Bedeutung ist, daß die Stiftung für Akademische Forschungen über die Kultur Asiens, die sich vor allem auf Studien über Konfuzius und seine Lehren konzentriert, seit 1993 sieben spezielle Fortbildungskurse für Lehrer zum Thema ching finanziert hat.

Für den Literaturwissenschaftler Wang Tsai-kuei gehören die Klassiker zum Wesen der chinesischen Kultur. Daher setzt er sich energisch für ihre Wiederbelebung ein.

Wang hatte zu diesem Zeitpunkt also allen Grund, zufrieden zu sein. Aus seinem Einfall war, wenn auch nur in bescheidenem Umfang, eine ausgesprochen nützliche und lohnende Aktivität entstanden. Dann passierte etwas, das den Lauf der Dinge schlagartig veränderte: Lin Chi-min (林琦敏 ) erschien auf der Bildfläche.

Lin ist der Gründer des Hua-Shan-Forums, eines privaten Lehrinstituts der Gesellschaft für Studien in religiöser Philosophie. Ins Leben gerufen hat diese Gesellschaft Tien-ti Chiao, die Kirche des Herrn über das Universum; eine Religion, die auf einigen der ältesten spirituellen Traditionen Chinas beruht und einen Himmelsgott verehrt. Als Lin 1993 von Wang's Kreuzzug erfuhr, lud er ihn ein, im Forum ein ching-Lektüreprogramm für Kinder zu erarbeiten. Wang sah sich an, wofür die Organisation sich engagierte, und er hatte daran nichts auszusetzen.

Das Hua-Shan-Forum wurde im Sommer 1991 gegründet und bot zunächst ein Kursprogramm über Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus an. In den letzten vier Jahren veranstaltete es unter anderem Kurse über die Gespräche des Konfuzius, das Buch der Urkunden, Tao Te Ching, Chuang Tzu und die Diamant-Sutra. "Wir sind eine gemeinnützige Einrichtung, und sämtliche Aktivitäten sind kostenlos", sagt Wu Yu-kuei (吳玉桂), Kursplankoordinatorin des Forums. "Wir legen jedoch auf die Qualität unseres Angebots großen Wert und versuchen immer, die besten Lehrer für ihr jeweiliges Spezialgebiet anzustellen. Wir wollen für all jene eine Möglichkeit schaffen, die nach spiritueller Reinheit und Verbesserung des eigenen Charakters streben."

Das Forum hat Glück, einen wohlhabenden - und großzügigen- Gönner wie Lin Chi-ming zu haben. Er ist gleichzeitig Vorstandsvorsitzender von National Chain-Store Co., Taiwans größter Einzelhandelskette für Elektro- und Elektronikgeräte. In den letzten vier Jahren hat er sich jährlich mit rund 4,5 Millionen NT$ (etwa 237 000 DM) an den Kosten des Forums beteiligt.

Die Kinder der ching-Lektüreklassen im Hua-Shan-Forum rezitieren nicht nur vor ihren Mitschülern und Eltern. Oft kommen auch interessierte Pädagogen zum Zuhören.

Warum sollte ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Lin eine solche Begeisterung für die Förderung des Unterrichts in klassischer Literatur an den Tag legen? Die Antwort ist einfach. Er ist überzeugt, daß die Klassiker den Charakter positiv beeinflussen. "Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke", sagt er, "fällt mir ein, welchen Respekt die Leute in meinem Dorf den Schriftgelehrten entgegenbrachten. Mein Vater unterrichtete in einer Gemeindeschule, und die Dorfbewohner klopften oft an unsere Tür, um mit ihm etwas zu besprechen und ihn um Rat zu fragen. Sie folgten immer seinen Vorschlägen und Entscheidungen in Fragen, welche die gesamte Gemeinschaft betrafen, weil sie dem Urteilsvermögen einer in den Klassikern bewanderten Person vertrauten."

Für Lin war es etwas völlig Normales, die Klassiker von klein auf zu studieren. Er und seine Geschwister mußten als Kinder die Gespräche, die Drei-Zeichen-Klassiker und die Gedichte der Tausend Schulen lesen, und jetzt liest sein eigener Sohn diese Werke. "Es gibt Zweifler, die den Wert dieser alten Bücher für Kinder in Frage stellen. Ihr Argument lautet, daß die Kleinen noch nicht in der Lage seien, die Werke zu verstehen, und sie stehen dem vielen Auswendiglernen äußerst skeptisch gegenüber", erkennt er an. "Aber ich bin überzeugt, daß man Kindern ermöglichen sollte, ihr hervorragendes Erinnerungsvermögen voll zu nutzen, solange es sich auf dem Höhepunkt befindet. Wenn die Zeit reif ist, werden sie sich an diese alten Weisheiten erinnern, sie sich durch den Kopf gehen lassen und dann auch die Bedeutung begreifen."

Der experimentelle Unterricht für Kinder ist im Hua-Shan-Forum schnell zu einem großen Erfolg geworden. Für jeden Kurs werden etwa 25 Schüler angemeldet. Bereits seit dem zweiten Semester gibt es regelmäßig mehr Bewerber als Plätze, und die Resonanz aller Beteiligten - Kinder, Eltern und sogar Zuhörer - ist durchweg positiv. "Von unseren Mitarbeitern höre ich, daß viele Eltern betonen, wie sehr die Lektüre der Klassiker ihren Kindern helfe. Viele unserer ehemaligen Schüler schicken uns Briefe und Karten, in denen sie ihre Dankbarkeit ausdrücken", sagt Lin.

Durch den Erfolg der Kurse angespornt, entschieden sich Lin und Wang für einen noch mutigeren Schritt. Im Januar 1994 eröffneten sie ein Förderzentrum für die Lektüre der Klassiker. Mit welcher Absicht? Sie wollten die Bewegung für ching-Lesen über die ganze Insel verbreiten. Die finanzielle Last trug Lin, und Wang kümmerte sich um die Durchführung.

Lin Chi-min, Unternehmer und Gründer des Hua-Shan-Forums, ist selbst ein Klassiker-Fan. Er unterstützt den ching-Unterricht nach Kräften, weil er findet, daß die Lektüre den Charakter positiv beeinf1ußt.

Das Zentrum bietet kostenlose Fortbildungskurse für Lehrer an. Davon haben schon einige Dutzend stattgefunden. Gerade ist die sechste Auflage der Informationsschrift erschienen, welche die wesentlichen Konzepte und Methoden des ching-Lesens und -Unterrichtens erklärt. Bisher sind davon 50 000 Exemplare gedruckt worden.

Darüber hinaus verteilt das Zentrum kostenlos ein vierteljährliches Rundschreiben, das an die Lehrer und Eltern auf seiner Adressenliste sowie an jeden Interessierten, der ein Exemplar anfordert, verschickt wird. Von jedem dieser Mitteilungsblätter werden etwa 20 000 Exemplare versandt. Auf diese Weise konnten die Mitarbeiter des Zentrums ein inselweites Netzwerk für Informationsaustausch aufbauen, um Statistiken zu erstellen, Fortschritte zu bewerten und Ausgangspunkte für Werbeaktivitäten auszumachen.

Die Zukunft sieht rosig aus. Im ersten Jahr nach seiner Eröffnung wurden einhundert Kinder an die Klassiker herangeführt. Bis August 1995 hatten bereits vierhundert Kurse mit rund 8000 Teilnehmern stattgefunden. Bis zur Jahreswende hieß das Ziel des Zentrums, 10 000 Anmeldungen vollzubekommen. Für sein drittes Jahr hat es die Trauben besonders hochgehängt, nämlich die Schülerzahl auf 100 000 Kinder zu verzehnfachen.

Da Lin so sehr darauf bedacht war, die allgemeine Akzeptanz für die ching-Lektüre zu steigern, beschloß er, auch seine Firma und vor allem deren finanzielle Mittel mit einzubeziehen. Zu Anfang hielt er bzw. seine Firma sich bewußt im Hintergrund. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, daß seine Motivation nicht ganz uneigennützig sein könnte. "Heute", sagt er, "sollte meine Firma mit ihrem Netz von 150 Läden und guten Verbindungen zu den Medien in der Lage sein, zur Förderung unserer ching-Bewegung beizutragen. Auf der anderen Seite muß ich ehrlich zugeben, daß mein Bekanntheitsgrad als Hauptsponsor ebenfalls gut für das Image meines Unternehmens ist." In der Tat erwägt die Firma, die Botschaft der Klassikerlektüre in ihre Produktwerbung zu integrieren. Auch gibt es Pläne, den Firmennamen dafür zu benutzen, weitere Sponsoren für einen Werbemarsch in diesem Frühjahr zu ködern.

Dank der Bemühungen Lin's und Wang's beschäftigt sich inzwischen eine wachsende Zahl von Taiwanesen mit der Lektüre der ehemals in eine Randexistenz gedrängten Klassiker, so daß sie durchaus ein Comeback erleben könnten. Es gibt kein Zurück mehr: Kinder, Eltern und Förderer werden durch Mundpropaganda kräftig die Werbetrommel rühren. Zum Beispiel Chen Yueh-ying (陳月英), eine Mutter, die ihre Söhne zwei Jahre lang zum ching-Unterricht begleitet hat. Sie glaubt, daß die Lektüre eine positive Wirkung auf den Charakter ausübt und eine allgemeine Aufwertung des kulturellen Niveaus in der Gesellschaft einleiten wird. Chen sagt: "Lassen Sie mich allen Eltern einen Anreiz geben: Das Auswendiglernen der Klassiker wird Euren Kindern im Wettbewerb mit anderen einen Vorteil verschaffen. Sie kennen mehr chinesische Schriftzeichen, es verbessert ihr Textverständnis, und es erhöht ihre Schreibfähigkeiten. Warum sollte man also diese einzigartige Gelegenheit der Lektüre chinesischer Klassiker, die ein unverwechselbarer Bestandteil unserer Kultur sind, ungenutzt lassen? Es könnte im Wettbewerb mit dem Westen unsere größte Hoffnung sein."

Verstaubt und überholt oder ein lebenswichtiges Glied in der Kette der Gesellschaft? Dazu hat jeder seine eigene Ansicht. Es ist jedoch beruhigend zu wissen, daß ein wertvoller Teil des chinesischen Kulturerbes nicht unwiederbringlich verlorengegangen ist.

(Deutsch von Christiane Gesell)

Meistgelesen

Aktuell