Die Firma Chin Tang Paperware hat sich mit ihrem Schwerpunkt auf Kreativität und Innovation eine starke Position auf dem taiwanischen Verpackungsmarkt erobert.
Für die Bewohner der zentraltaiwanischen Stadt Taichung ist das Landschaftsgebiet Dakeng am Nordostrand der Stadt so etwas wie ein ausgedehnter Garten hinterm Haus, ein perfekter Ort für Entspannung am Morgen oder am Nachmittag. Nach einem Spaziergang auf einem der sinnreich angelegten Wanderwege mit schöner Aussicht und vielleicht einem Bad in einer heißen Quelle an einem kalten Tag fahren die Besucher meist wieder heim. Wer nach dem Fußmarsch ein wenig länger verweilen möchte, kann feststellen, dass die Dakeng-Gegend noch mehr zu bieten hat – Wahrzeichen wie den Eiffelturm, den Schiefen Turm von Pisa und Dubais Hotel Burj Al Arab.
Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um die Originalbauten, sondern um ein bis zwei Meter hohe Modelle. Trotzdem ziehen sie die Neugier der Besucher auf sich, weil sie auf eigentümliche Weise konstruiert sind. „Sie sind aus Papier, und zwar aus wasser- und feuerfestem Karton“, verrät Xue Sheng-yi, stellvertretender geschäftsführender Direktor der Firma Chin Tang Paperware, die den Carton King Creativity Park betreibt. „Schauen Sie sich um, und Sie werden sich wundern, auf welch unterschiedliche Weise man Papier gebrauchen kann.“
Nach einem Spaziergang durch den Park mit den Nachbauten, kleinen Teichen, grünen Wiesen und schönen Pflanzen führt Xue die Besucher zum Andenkenladen, wo ein Großteil des Mobiliars – einschließlich die Ausstellungs-Schauregale und ein Miniatur-„Postamt“, in dem Postkarten verkauft werden – aus Kartonpappe sind. Es ist nicht schwer zu erraten, dass die meisten der Artikel, die auf den Regalen des Andenkenladens zur Schau gestellt sind, gleichfalls aus Papier oder Pappe sind. Das Geschäft bietet nebenbei auch „normale“ Papierwaren an wie Aktenordner und Notizbücher, doch ansonsten wurde Papier oder Pappe zur Herstellung von Produkten verwendet, die normalerweise aus anderen Materialien bestehen. So findet man in dem Laden Papiermodelle von Miniatur-Lokomotiven, historischen Gebäuden und berühmten Wahrzeichen, die vom Kunden selbst zusammengesetzt werden können. Andere beliebte Angebote sind Weihnachtsbäume und Uhren aus Papier, dekorative Papierlampen mit Bildern berühmter Landschaften im In- und Ausland sowie kleine Hocker aus Pappkarton. Xue freut sich besonders an einem Papiermodell des Hotel Burj Al Arab und einer Papierlampe mit einem Bild von dem Gebäude, da beide von dem Hotel in Dubai als Souvenirs ausgewählt wurden und nun in dessen Geschenkladen verkauft werden.
Gewürfelte Pappe
Der meistverkaufte Artikel im Geschenkladen des Carton King Creativity Park ist ein riesiger Würfel aus Pappkarton, in dessen Flächen jeweils ein Loch bis sechs Löcher wie Würfelaugen geschnitten sind. Xue hat mehrere dieser Würfel vor dem Laden aufgestellt, und fast jeder Besucher lässt die Würfel rollen, und manche nehmen sogar einen mit heim. „Kinder spielen damit zum Spaß, und Erwachsene veranstalten damit Wetten, wobei der Verlierer dann das Mittagessen oder sonstwas bezahlen muss – wir Chinesen spielen einfach gern“, schnarrt Xue. „Mal ernsthaft: Wir haben eine simple Box in ein Spielzeug verwandelt, indem wir ein paar Löcher reingestanzt haben. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein wenig Kreativität den Wert eines Produktes steigern kann.“
Die nächste Station auf Xues Tour ist ein Ausstellungsraum, in dem die Wände, Regale und sogar die Tür zum Lagerraum aus Kartonpappe oder Kartons sind. Die meisten ausgestellten Gegenstände sind Schachteln unterschiedlicher Größe und Form, die von Chin Tang entworfen wurden. Der Ausstellungsraum kann auch als Bastel-Unterrichtsraum dienen, wobei die Mitarbeiter den Besuchern dabei helfen, die Artikel, die sie zuvor im Geschenkladen erworben haben, zusammenzusetzen, und Schüler auf Klassenfahrt können dort versuchen, Dinge aus Papier zu basteln wie Papplampen oder Lokomotiven. Xue bemerkt, dass diese Do-it-yourself-Produkte vorgefertigt sind, damit man keine Scheren oder Messer benötigt, daher ist es selbst für Grundschüler sicher, sie zusammenzufügen. Beim Zusammenbau braucht man auch keine Klebstoffe, so dass man nicht mit Klebstoffresten an den Fingern nach Hause gehen muss.
Als nächstes geht es ins Restaurant, wo man sowohl eine Mahlzeit einnehmen als auch eine Tasse Tee schlürfen kann. Das Essen ist mehr oder weniger übliche Kost, doch das Mobiliar ist ungewöhnlich. Außer den Tabletts, Schalen und Tassen ist alles aus Papier oder Pappe – Speisetische, Stühle, desgleichen Lampen und die Jalousien an den Fenstern. „Die Menschen fragen sich oft, ob die Tische oder Stühle zusammenbrechen werden“, schmunzelt Xue. „Daraufhin holen wir unseren Koch, der über zwei Zentner wiegt und sich dann auf einen der Stühle setzt, anschließend nimmt ein Kellner auf seinem Schoß Platz. Danach stellt keiner mehr Fragen, ob die Stühle auch stabil genug sind.“
Die Idee, den Carton King Creativity Park anzulegen, und die Entwürfe für viele der dort ausgestellten Artikel kamen von Huang Fang-liang, dem Gründer und geschäftsführenden Direktor von Chin Tang. Nach Abschluss der Oberschule im Landkreis Taichung arbeitete er mehrere Jahre für Papierhersteller und Druckereien in Zentral- und Nordtaiwan, um mehr über den Markt und das Gewerbe zu lernen. 1984 kehrte er in seine Heimatstadt Taichung zurück und begann erstmals darüber nachzudenken, seine eigene Werkstatt einzurichten.
Papperlapapp: Chin Tang Paperware verwendet Papier auf kreative neuartige Weise in Produkten wie dieser „Schneeball-Lampe“ aus Pappe.
Ein kühner Schritt
Huang war sich darüber im Klaren, dass das ein kühner Schritt wäre, denn seine kleine Firmenneugründung würde sich mit keinem der großen Unternehmen messen können, die kommerzielle und industrielle Papierwaren herstellen, und auch nicht mit den älteren Papiermühlen Taiwans, die den Markt für handwerkliches und handgemachtes Papier beherrschen. Nach eingehendem Nachdenken beschloss er, es mit Papier- und Kartonverpackung zu versuchen. Zwar wusste er, dass in dem Bereich ein heftiger Konkurrenzkampf tobte, doch er glaubte, seine neue Firma würde mit kreativen, einzigartigen Produkten überleben können.
Huang erläutert, dass damals die verbreitete Auffassung über Verpackung im Prinzip so aussah, fertige Waren in handelsübliche Pappschachteln oder Kartons zu stopfen, und da sah er eine Gelegenheit für „kreative Papierverpackung“, wie er es nennt. „Die Leute, die schon seit langer Zeit im Geschäft waren, sagten mir, sie hätten mehr unterschiedliche Papierartikel gesehen, als ich in meinem Leben Reiskörner gegessen hätte“, kolportiert er. „Nach ihren Worten eigneten sich Papierprodukte lediglich zum Bedrucken, Bemalen und um Schweinereien aufzuwischen. Ich wollte dagegen Papier so verwenden wie Holz oder Plastik, um große Verpackungen zu schaffen, was in ihren Augen eigentlich mehr oder weniger ein Witz war.“
Huang pfiff auf diese Art von „Rat“ und eröffnete 1984 eine Werkstatt, in der er kreative Designs für Karton- und Papierverpackung schuf. Eines seiner Angebote der Frühphase war ein Geschenkkarton für eine Firma, die Sternfruchtsaft herstellte. Anstelle einer üblichen viereckigen Schachtel für die Geschenke ersann Huang eine wie eine Sternfrucht geformte Verpackung. Zwar brauchte er für das Design viel mehr Zeit als bei einer Box nach Schema 08/15, doch gewann er dadurch einen zufriedenen Kunden und baute sich allmählich seinen Ruf in dem Gewerbe auf.
Huangs Geschäft und Ruf erweiterten sich, so dass er 1999 Chin Tang gründen konnte. 2007 folgte der Carton King Creativity Park. Obwohl er heute einen größeren Geschäftsbetrieb leitet, sind seine Fähigkeiten beim Design einzigartiger Behälter weiterhin stark. Ein Entwurf der jüngeren Zeit ist beispielsweise ein Räucherbehälter für einen Matsu-Tempel; die Meeresgöttin Matsu ist Taiwans beliebteste Volksgottheit. „Eine gewöhnliche Papierschachtel hätte den Zweck auch erfüllt, doch eine solche Schachtel kann man an jeder Straßenecke bekommen“, begründet Huang. „Die Kunden kommen zu Chin Tang, weil sie etwas Anderes suchen, darum müssen wir ihnen etwas bieten, das ihre Erwartungen erfüllt.“ Nach einigem Nachdenken kam Huang die Idee für einen Räucherbehälter, der wie die Sänften aussieht, auf denen man Matsu-Statuen während der jährlichen Pilgerfahrten in Taiwan herumträgt. Chin Tangs Sänften-Nachbildung ist natürlich aus Papier und Pappe, das Gehäuse enthält das Räucherwerk, das Sänftendach dient als Deckel, und an der Unterseite befinden sich zwei Schubladen für kleine Gegenstände.
Mit seiner unorthodoxen Denkweise etablierte sich Huang im Verpackungsgewerbe zur ersten Anlaufadresse für alle, die kreative und neuartige Designs suchen. „Wir nennen ihn den ,Papier-Paten‘“, bekennt Zhao Nian-feng, Vorsitzender der in Taichung ansässigen Druckerei Global-Ace Corp. „Huang ist deswegen so gut, weil er für die gleiche Art von Produkt unterschiedliche Ansätze wählt, wogegen die anderen für unterschiedliche Produkte beim gleichen Ansatz bleiben.“
Laut Zhao, der seit über einem Jahrzehnt mit Chin Tang zusammenarbeitet, war Taiwan in den siebziger und achtziger Jahren ein bedeutender Lieferant von Papier und entsprechenden Produkten. Der Aufstieg von ausländischer Konkurrenz mit niedrigeren Herstellungskosten hatte indes zur Folge, dass viele einheimische Firmen entweder aus dem Geschäft gedrängt wurden oder ihren Betrieb ins Ausland verlegen mussten. Zhao: „Kreativität und Innovation ermöglichten es Chin Tang, hier zu bleiben und stark zu bleiben.“
Zeit und Mühe
Während die Kundschaft meist von Chin Tangs einzigartigen Designs sehr angetan ist, ist ihnen selten klar, wieviel Zeit und Mühe dahintersteckt. Zur Zeit sind rund 30 Angestellte in der Zentrale von Chin Tang am Carton Creativity Park beschäftigt, etwa ein Drittel von ihnen entwirft und entwickelt neue Produkte. Im Schnitt legt das Team der Kundschaft jedes Jahr 40 bis 50 neue Designs vor. Die Designer entwickeln außerdem selbst neue Verpackungskonzepte, die nicht auf Kundenaufträge zurückgehen. Zum Team gehören Designer, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind, aber auch junge Leute frisch aus der Schule. „Die jüngeren Angestellten haben geniale und unkonventionelle Ideen, und die alten Hasen sorgen dafür, dass die Ideen für eine Kommerzialisierung nicht zu wild werden,“ sagt Huang. „Ihre gemeinsamen Anstrengungen stellen eine perfekte Verbindung von Kreativität und Erfahrung dar.“
Die Kunden bekommen nicht nur einzigartig gestaltete Verpackung, sondern profitieren oft auch noch von Chin Tangs niedrigen Produktionskosten. Xue Sheng-yi legt dar, dass mit den modernen, computergestützten Schneidemaschinen der Firma Teile auch für komplizierte Entwürfe schnell und präzise zugeschnitten werden können. Mit dieser Verminderung der erforderlichen Arbeitskraft zur Herstellung von Teilen für ein neues Design besteht der größte Teil der Fertigungskosten für die meisten Artikel in der Art und Menge des benutzten Papiers und Kartons. Oft stellt sich heraus, dass man für die meisten von Chin Tangs Designs in Wirklichkeit weniger Rohmaterial benötigt als für die normalen viereckigen Schachteln, was die Kosten weiter senkt. „Wir machen es den Kunden schwer, ein Angebot abzulehnen, weil unsere Produkte so ausgelegt sind, dass sie ihren besonderen Anforderungen genügen, und außerdem ist unsere Ware in der Regel preisgünstiger“, prahlt Xue.
Das Modell des Eiffelturms im Carton King Creativity Park in Taichung besteht aus wasserabweisender Pappe.
Im Laufe der Jahre hat Chin Tang über 1000 Verpackungsdesigns hervorgebracht. 2006 richtete das Unternehmen eine Online-Datenbank ein, die alle ihre Entwürfe einschließlich Konstruktionspläne enthält. Für eine Jahresgebühr in Höhe von 600 NT$ (13,95 Euro) können Mitglieder sich einloggen und eines der Verpackungsdesigns aussuchen. Sie können auch Preisangebote anfordern, Bestellungen tätigen oder um Genehmigung bitten, ein bestimmtes Design von einem anderen Hersteller fertigen zu lassen.
Zwar sind viele Entwürfe von Chin Tang patentiert, doch man könnte meinen, die Einrichtung einer öffentlichen Online-Datenbank mit Konstruktionsplänen für Produkte würde das Unternehmen gegenüber Nachahmern verwundbar machen. Huang zerstreut diese Befürchtungen. „Mir macht das keine Sorgen, und ehrlich gesagt, wir haben auch nicht genug Personal, um uns mit solchen Dingen zu befassen“, beschwichtigt er. „Wir haben gelernt, dass die beste Lösung ist, weiterhin innovative neue Produkte zu schaffen und das mit einer Geschwindigkeit zu tun, durch die wir den Vorsprung vor den Nachahmern behalten.“
Neuland betreten
Als immer mehr Entwürfe von Chin Tang auf den Markt kamen, wurde Huang gewahr, dass viele Kunden die Verpackungen aufbewahrten und sie als Behälter oder einfach als Dekoration benutzten. Diese Art der Anwendung bestärkte ihn in dem Glauben, dass Karton und Papier sich für mehr kreative Zwecke eigneten als nur für ihre normale Rolle bei Verpackung. Da Chin Tang ein stabiles Einkommen erzeugt, hat Huang die Freiheit, diese Möglichkeiten weiter zu erkunden. Grundsätzlich besteht seine Methode darin zu versuchen, fast alles, was er in seinem Alltagsleben sieht, aus Papier oder Pappe zu erzeugen. Er erläutert, dass verglichen mit Materialien, die normalerweise für die Herstellung solcher Alltagsobjekte zum Einsatz kommen, Papier und Karton oft billiger und umweltfreundlicher sind, und zudem sind sie sehr haltbar. Darüber hinaus ist Huang nach der Entwicklung von Papier- und Kartonmaterial, das wasser-, feuer und reißfest ist, zuversichtlich, dass er damit ein ganzes Haus bauen und ausstatten könnte.
Der Absatz von solchen Artikeln auf Papier- und Kartongrundlage war bislang allerdings nicht sehr ermutigend. „Bei den Materialien, Struktur oder Technologie gibt es keine Probleme“, behauptet Huang. „Das größte Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Einstellung der Menschen.“ Er legt dar, dass die Menschen in ethnisch chinesischen Gesellschaften die Gewohnheit haben, im Rahmen von Bestattungszeremonien Papier-Nachbildungen von Dingen wie Geld, Häusern, Möbeln und Autos zu verbrennen, weil man glaubt, die Asche werde den Himmel erreichen und dem Verblichenen dort ein besseres Leben bieten. Wegen der Gedankenverbindung zwischen Papiergegenständen und Beerdigungen haben viele Menschen ein ungutes Gefühl dabei, auf einem Kartonbett zu schlafen oder auf einem Kartonsessel zu sitzen.
Huang hat aber Grund, hinsichtlich der Zukunft solcher Produkte optimistisch zu sein, da die jüngeren Generationen sie nicht so stark mit Bestattungen assoziieren wie ältere Menschen. In den letzten ein, zwei Jahren wurde bei Chin Tang mit Kartonmöbeln erstmals Geld verdient, als einheimische Kunden Stände auf Handelsmessen damit ausstatten wollten. Das Unternehmen hat auch ein paar Bestellungen von ausländischen Käufern für Kartonmöbel und Ausstellungsregale aus Karton erhalten.
Meistens sind Huang und sein Designteam von Papier und Pappkarton umgeben und bearbeiten Kundenbestellungen oder schaffen neue Designs, um neue Märkte zu erschließen. „Verpackung, Kartons, Möbel, Spielzeug – was immer Sie wollen, wir werden eine Lösung aus Papier finden“, verspricht Huang. „Das Einzige, woran wir kein Interesse haben, ist, unsere eigenen Designs zu wiederholen.“
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