30.04.2025

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Taiwans Puppen tanzen im Wendland

01.09.2008
Chen Hsi-huang ist der älteste Sohn des berühmten taiwanischen Puppenspielmeisters Lee Tien-lu und die Seele des Ensembles TPTC.

Das taiwanische Puppentheaterensemble Taiyuan Puppet Theatre Company(TPTC) , das sowohl der Bewahrung der Tradition als auch innovativen Experimenten große Bedeutung beimisst, gibt im Herbst dieses Jahres im Rahmen einer Europatournee Gastspiele unter anderem im Landkreis Lüchow-Dannenberg.

Puppentheater ist eine Kunstform, die in Taiwan eine lange Tradition hat, im Laufe der letzten Jahrzehnte aber auch eine erstaunliche Entwicklung durchmachte. Lange bevor Kino und Fernsehen im Unterhaltungsgewerbe ihren Siegeszug antraten, waren Aufführungen mit Handpuppen, Marionetten und Schattenpuppen eine übliche Form der Zerstreuung. Besonders populär waren dabei Freilicht-Shows mit Handpuppen im taiwanischen Dialekt ("Holo"), die überwiegend an lokalen Tempeln aufgeführt wurden. Wie groß die kulturelle Bedeutung des Genres in Taiwan heute noch ist, lässt sich daraus ersehen, dass in einer Umfrage vor wenigen Jahren taiwanisches Handpuppentheater(布袋戲) als repräsentativstes Image von Taiwan bewertet wurde.

Handpuppentheater war vor über 200 Jahren von Einwanderern aus den Gebieten Quanzhou und Zhangzhou der festlandchinesischen Provinz Fujian in Taiwan eingeführt worden. Bei diesen klassischen Handpuppenvorstellungen wurden zunächst nur nanguan-Musik(南管) und Balladen im Chaozhou-Stil verwendet. Im Laufe der Zeit begannen verschiedene Puppenspielmeister auch andere Musikstile in die Handpuppen-Vorstellungen einzuflechten, etwa beiguan (北管)und Pekingoper, und im 20. Jahrhundert kamen Einflüsse aus dem japanischen Pop sowie westliche und taiwanische Opernmusik hinzu.

Während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) wurde die Kunstform von den Japanern verboten, da sie mit einheimischen Sitten und Religionen assoziiert wurde, welche die Machthaber im Zuge ihrer Assimilationspolitik in Taiwan unterdrücken wollten. Nur wenigen Ensembles wurden Aufführungen gestattet, die jedoch in geschlossenen Räumen stattfinden und "japanische Werte" preisen mussten.

Nach der Rückgabe Taiwans an die Republik China erlebte die Kunstform auf der Insel ein Comeback. Von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren nahm das taiwanische Puppentheater die Stile kommerzieller Theater in seine Vorstellungen auf. Als das taiwanische Puppentheater in den siebziger Jahren für das Fernsehen entdeckt wurde, vollzogen sich auch Veränderungen an den Puppen selbst. Die kleinen Puppen im klassischen Handpuppentheater waren ungefähr 30 Zentimeter hoch und besaßen einen handgeschnitzen Holzkopf, der Alter und Geschlecht des dargestellten Charakters verriet. In den fünfziger Jahren wurde das "Goldlicht"-Theater(金光) die Hauptform des in Taiwan aufgeführten Handpuppentheaters. Zur Anpassung an die Anforderungen wurden die Puppen auf 45 Zentimeter vergrößert, ihre Köpfe in groteskere Formen geschnitzt, und ihre Kostüme wurden schlichter.

In den siebziger Jahren wurden die Puppen für die Puppenshows im Fernsehen noch weiter vergrößert, und zwar auf die doppelte Größe von 90 Zentimetern, mit beinahe lebensgroßen geschnitzten Köpfen. Die Kabelfernseh-Anstalt Pili Interna tional zum Beispiel produziert ausschließlich TV-Handpuppentheater. Die endlosen Abenteuer ihrer Puppen-Helden in einer zeitlosen, mythischen Welt, die direkt aus chinesischen Ritterromanen entlehnt ist, brachten im Laufe der Jahre eine beachtliche Fangemeinde hervor.

Neben den Puppen machten auch die Kulissen für das Handpuppentheater im Laufe der Zeit drastische Änderungen durch. Die klassischen Handpuppen-Vorstellungen waren auf recht schmalen verzierten hölzernen Türmen aufgeführt worden. Die "Goldlicht"-Vorstellungen der fünfziger Jahre wurden dagegen auf breiteren Bühnen mit einer einfachen gemalten Kulisse aufgeführt, so dass die größeren Puppen mehr Bewegungsspielraum hatten. In den siebziger Jahren wurde im Fernseh-Puppentheater nicht länger eine feste Bühne benutzt, stattdessen kamen dort bei den Vorstellungen komplizierte, veränderliche dreidimensionale Kulissen zur Anwendung, die dem Puppenspieler bei der Handhabung der Puppen noch größere Freiheit gewährten. In diesem langen Ablauf von Veränderungen und Entwicklung verwandelte sich das Handpuppentheater in ein einzigartiges Genre taiwanischen Dramas mit taiwanischen kulturellen Merkmalen.

Zwar gibt es heute für das taiwanische Puppentheater im Hinblick auf Sprache und Inhalte keinerlei politische Beschränkungen mehr, doch der gesellschaftliche Wandel durch Modernisierung und Wirtschaftswunder sowie die Konkurrenz durch moderne Medien blieben für das Genre nicht ohne Folgen. Nicht nur schrumpfte das Publikum, auch beim aktiv praktizierenden Nachwuchs musste ein empfindlicher Schwund hingenommen werden, und heute existieren nur noch wenige feste Ensembles.

 

 

Handpuppentheater-Vorstellungen umfassen verschiedene Kulturaspekte, darunter Dia-lekte, Volksmusik, Schnitzerei, Malerei, Stickerei und Puppen-Handhabungstechniken.

Die Taiyuan Puppet Theatre Company(台原偶戲團), abgekürzt TPTC, entstand verhältnismäßig spät, nämlich im Jahr 2000, und sie hat ihren Sitz im Lin Liu-hsin Puppet Theatre Museum, welches die Kultur- und Kunststiftung Taiyuan Arts and Culture Foun dation in einem historischen Gebäude im alten Stadtteil Dadaocheng(大稻埕) im Westen von Taipeh einrichtete. Früher war Dadaocheng ein wichtiges Handelsviertel direkt am Danshuei-Fluss, heute haben sich dort viele traditionelle Schausteller-Ensembles niedergelassen, die wie Anno dazumal an Tempeln auftreten, um das allgemeine Publikum und die Götter gleichermaßen zu unterhalten. Heute ist der Shahai-Stadtgotttempel so wie früher ein örtliches religiöses Zentrum und damit ein wichtiger Schauplatz für Puppentheater und Taiwanoper.

TPTCs wichtigster Puppenspieler und Berater ist Chen Hsi-huang(陳錫煌), der älteste Sohn des berühmten taiwanischen Puppenspielmeisters Lee Tien-lu (李天祿,1910-1998), der 1931 das Puppenensemble I-Wan-Jan(亦宛然掌中劇) gegründet hatte und dessen Leben 1993 von dem namhaften Regisseur Hou Hsiao-hsien(侯孝賢) verfilmt wurde (Der Puppenspieler). Der heute 78-jährige Chen setzt die kreativen Beiträge seines Vaters zum taiwanischen Puppentheater fort, indem er neue Geschichten erzählt, neue Puppenbewegungen und Stile entwirft und dabei doch der Kunst traditioneller Vorstellungen treu bleibt.

Seine Kollegen im TPTC verehren Chen als "lebendige Schatztruhe". Von seinem Vater erlernte er nicht nur die Handhabung der Puppen, sondern schaute ihm auch das Schnitzen der Puppen, Kostümdesign, Schreiben von Stücken und Regieführung ab. Selbst heute gibt der betagte Chen noch über 200 Vorstellungen im Jahr. "Chens Spielkunst ist so fein", lobt Wu Shan-shan(吳姍姍), die Aufführungs-Koordinatorin und Direktorin von TPTC, Chens Umgang mit den Handpuppen. In Kampfszenen raufen Ritter miteinander, fliegen manchmal durch die Luft, doch ebenso überzeugend spielt Chen die Umarmung eines jungen Liebespaares, das bei einem bewegenden Abschied nur schwer voneinander loskommt. Bescheiden weist Chen darauf hin, dass die von ihm verwendeten Puppen mehr Gelenke haben als übliche Handpuppen. "Dank der zusätzlichen Gelenke können die Puppenspieler feinere Bewegungen präsentieren", sagt er. "Manches sieht schwierig aus, etwa wenn eine Puppe einen Salto schlägt, was in Wirklichkeit leicht ist. Anderes sieht einfach aus, ist es aber nicht, zum Beispiel Ausdruck von Emotionen."

Bewahrung der Tradition ist ein wichtiger Schwerpunkt von TPTC, das zweite unverzichtbare Standbein ist Innovation. Wie kein anderes taiwanisches Puppentheater-Ensemble ist TPTC offen für Anregungen und Einflüsse aus dem Westen. Zu verdanken ist dies vor allem Wu Shan-shan, die in Belgien und den USA westliches Theater studierte, und dem 1963 geborenen niederländischen Sinologen Robin Ruizendaal, der nach seiner Promotion über chinesisches Puppentheater 1993 nach Tai wan zog und im Jahr 2000 das TTT Puppet Center gründete; "TTT" steht für "Toa Thiu Thia", die taiwanische Aussprache von Dadaocheng, wo Ruizendaals Zentrum sich befindet. Als Mitbegründer von TPTC und maßgeblicher Dramaturg hat Ruizendaal erheblich zur Kreativität und Lebendigkeit der Produktionen beigetragen.

TPTC erkundet die unterschiedlichen Möglichkeiten traditionellen Puppentheaters und setzt sich dabei hinsichtlich Form und Stil keine Grenzen. Die Überprüfung der Traditionen taiwanischen Puppentheaters geht Hand in Hand mit der Aufnahme neuer Elemente westlicher Theaterkonzepte und methoden. TPTC arbeitet "an der Schaffung einer organischen, lebendigen modernen Tradition", beschreibt Wu. "Wenn wir neue Werke schaffen, haben wir keine festen Regeln, diese können dann durch Übung und Lernen Gestalt annehmen." Neben Freilichtaufführungen im alten Stil veranstaltet TPTC zudem moderne Bühnenshows, bei denen die Schausteller, Schauspieler und Musikanten miteinander in Interaktion treten.

Beispiele für die einzigartige Vermählung von Alt und Neu findet man praktisch in allen Werken des Ensembles. Ein Paradebeispiel dafür ist TPTCs Debüt-Werk aus dem Jahr 2001 mit dem Titel Marco Polo, in dem die Handlung auf der Begegnung zwischen Ost und West aufbaut. In dem Stück wird die Geschichte in der traditionellen Form der Erzählweise taiwanischen Puppentheaters präsentiert, doch der Dialog springt zwischen der italienischen Sprache und Holo hin und her, und der musikalische Hintergrund besteht aus einer Mischung aus nanguan-Musik und Streichduetten des italienischen Komponisten Mattia Peli. In Marco Polo wurden sowohl italienische Fantoccini-Puppen als auch traditionelle taiwanische Puppen eingesetzt, die allesamt eigens für das Stück kreiert worden waren.

Eine taiwanische Version von Robin Hood mit dem Titel Liao Tianding -- Ein Mord in Taipeh spielt in der japanischen Kolonialzeit in Dadaocheng, der Heimat von TPTC. Im Mittelpunkt steht der Held Liao Tianding, der sich zwischen Gut und Böse entscheiden muss. Das Stück ist bemerkenswert wegen der Spannung und auch der Tiefe der Charaktere, wie man sie sonst in traditionellen Puppentheater-Aufführungen nur selten erlebt. Taiwanische Oper, Holo-Pop und japanische enka-Balladen beschwören die vergangene goldene Zeit von Dadaocheng herauf.

Ein weiteres bahnbrechendes Stück ist La Boite (Die Kiste), eine Koproduktion von TPTC mit der Compagnie des Zonzons aus dem französischen Lyon. Die Liebesgeschichte aus der Feder von Ruizendaal, Wu, Philip Auchere und Stephanie Lefort bestach das Publikum mit dem kreativen Einsatz einer riesigen Kiste, die in der Mitte der Bühne aufgebaut wurde und als Mehrfachbühne für die Puppen und die Schauspieler gleichermaßen diente. Das herausragende Bühnendesign tauchte Elemente des französischen Guignol-Puppentheaters und des taiwanischen Puppentheaters in ein neues Licht. Bei der musikalischen Begleitung gelang die harmonische Kombination des chinesischen Zupfinstruments Pipa(琵琶) mit der westlichen Harfe und dem Akkordeon.

TPTCs erfolgreiche Verbindung von Tradition und Innovation gefällt nicht nur den Zuschauern, sondern gewann nach Auslandstourneen ab 2003 in Europa und Lateinamerika auch das Lob internationaler Kritiker. In der französischen Theaterzeitschrift Les Trois Coups wurde La Boite als "visuelles Wunder" gelobt, das "unglaubliche Dynamik und Energie" enthalte.

Im September und Oktober darf sich das Publikum in Tschechien, Frankreich, Deutschland und Ungarn auf Vorstellungen von TPTC freuen. Im Rahmen des 1. Internationalen Marionetten-Festivals Lüchow-Dannenberg "Puppets for People" wird TPTC zwischen dem 13. und dem 25. Oktober dieses Jahres vier Mal auftreten -- zwei Mal in Lüchow, ein Mal in Lübeln und ein Mal in Dannenberg. Daneben ist noch ein Gastspiel im Museum für Völkerkunde in Hamburg vorgesehen. Ohne Zweifel wird TPTC den Zuschauern wieder einmal beweisen, dass Taiwans reiche Puppentheater-Tradition unsterblich ist, da sie stets bemüht ist, die ehrwürdige Kunst in Gefilde jenseits der Vorstellungskraft des Publikums zu führen.

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