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Taiwan Today

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01.07.1998

Etwa sechzig Taiwanesen studieren zur Zeit an der Peking-Universität, davon 24 Graduiertenstudenten (elf Doktoranden und dreizehn Magisterkandidaten). Sieben streben einen Bachelor-Grad an, und einige der Studierenden sind Gasthörer. Die meisten studieren Geisteswissenschaften. Eine von ihnen ist Lin Chun-hua, 27, im zweiten Jahr eines Jura -Magisterstudienganges.

Eine Bekannte, die ebenfalls in Peking studiert hatte, erklärte Lin das Zulassungsverfahren für das festlandchinesische Hochschulsystem. Im April 1996 flog Lin nach Hongkong und nahm dort an der Sonderprüfung für Studienbewerber aus Taiwan, Hongkong und Macau teil, und im September des gleichen Jahres schrieb sie sich an der Peking-Universität ein. Sie hat bereits alle erforderlichen Scheine für ihren Magister gemacht und konzentriert sich nun auf ihre Magisterarbeit. Normalerweise dauert das Magisterprogramm für Studenten mit einem Bachelor-Grad auf dem Festland drei Jahre, also hat Lin noch ein Jahr bis zum Examen. Sie möchte nun nach Taiwan zurückkehren, sich einen Job suchen und ihre Magisterarbeit auf der Insel schreiben.

Wieso wollte Lin überhaupt auf dem Festland studieren? Sie glaubte, daß die unmittelbare Kenntnis der aufsteigenden Supermacht ihrer Karriere förderlich sein könnte. “Das chinesische Festland entwickelt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit”, verkündet sie. “China wird unausweichlich Taiwans Zukunft beeinflussen.” Kenntnisse über das Rechtssystem des Festlandes werden bei der Zunahme der Rechtsstreitigkeiten über bilaterale Angelegenheiten immer wichtiger.

Lin hatte früher an der juristischen Fakultät der National Taiwan University (NTU) einen Bachelor in Jura erworben und war bereits eine approbierte Rechtsanwältin mit einem Monatsgehalt von 80 000 NT$ (4570 DM) in einer bekannten Anwaltskanzlei in Taiwan, als sie sich entschloß, alles hinzuschmeißen und nach Peking zu gehen -- eine Entscheidung, mit der sie ihre Familie und Freunde schockte. “Vielleicht werde ich meine Verdienstausfälle eines Tages wieder hereinholen”, meint sie halb im Scherz. Ob die Regierung der Republik China ihren Magistergrad vom Festland anerkennen wird, kümmert sie nicht, weil sie in Taiwan sowieso schon als Anwältin arbeiten darf.

Lin hat ein eigenes Zimmer im sechsstöckigen Studentinnenwohnheim, in dem Studentinnen aus Taiwan, Hongkong und Macau im fünften und sechsten Stock untergebracht sind. Die anderen vier Geschosse sind für Studentinnen vom Festland. Lin verbringt ihre Freizeit meistens mit Kommilitonen aus Taiwan. “Mit den Studenten vom Festland verstehe ich mich auch ganz gut”, behauptet sie. “Ich würde ihnen gerne näherkommen, aber irgendwie ist da immer eine Distanz zwischen uns. Die Initiative für Gespräche geht normalerweise von den Taiwanesen aus, und wenn unsere Klasse etwas unternimmt, sagt man mir nicht immer Bescheid.” Ihre Mitschülerinnen vom Festland wohnen in einem etwas weiter entfernten Wohnheim, und es ist “umständlich” für sie, Lin anzurufen.

Studierende aus Taiwan werden in vielerlei Hinsicht anders behandelt als Studierende vom Festland. Lin hat ein Einzelzimmer, Studentinnen vom Festland in der Regel nicht. Auf Lins Etage gibt es ein Badezimmer und einen öffentlichen Fernsprecher, aber Studierenden vom Festland steht in den Studentenwohnheimen nur selten ein Telefon zur Verfügung, und sie müssen auch Waschräume in einiger Entfernung ihrer Schlafräume benutzen. Außerdem bemerkt Lin: “Ich brauche nicht an den Kursen für Marxismus-Leninismus teilzunehmen, die für alle Studierenden vom Festland Pflichtkurse sind.”

Wenn die “ausländischen” Studierenden schon besser untergebracht werden, ist das Studieren an der Peking-Universität für sie dann nicht sehr teuer? Lin hat keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung von der Regierung der Republik China, weil akademische Qualifikationen von festlandchinesischen Lehranstalten nicht anerkannt werden. “Ich brauche aber weder Studiengebühren noch Miete zu bezahlen, weil das in einer Beihilfe der Regierung der VR China inbegriffen ist, und darüber hinaus erhalte ich für die Lebenserhaltungskosten monatlich 280 Renminbi (61 DM).” Laut Lin arrangieren nicht weniger als zwanzig namhafte festlandchinesische Universitäten staatliche Finanzhilfen für taiwanesische Studierende, und diese Zuschüsse sind auf Antrag leicht zu bekommen.

Nach ihrer Ankunft auf dem Festland fand Lin das Leben dort zunächst sehr langweilig. “Besonders die abendliche Freizeitgestaltung -- aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt.” Lin teilt sich mit neun anderen taiwanesischen Studentinnen ein Abonnement der in Taiwan verlegten chinesischsprachigen Tageszeitung China Times , die im Festlandabo fünfmal mehr kostet als am Kiosk in Taiwan und normalerweise mit einem Tag Verspätung eintrifft. “Die hiesigen Zeitungen öden mich an”, gibt sie zu. “Sie haben nur ein paar Seiten, fast alles Politik und was die Regierung an Wohltaten für das Volk getan habe.”

Wie sind die Dozenten an der Peking-Universität? Lin findet die älteren, besonders diejenigen, die die Kulturrevolution [offiziell 1966-1976] durchgemacht haben, nicht so gut wie die jüngeren Lehrer unter vierzig. “Manche der älteren Professoren geben auch zu, daß ihr Fachwissen nicht solide fundiert ist, weil die Kulturrevolution eine tiefe Lücke in ihre Forschung gerissen hat.” Das Problem haben die jüngeren Lehrkräfte nicht, und durch Studienaufenthalte im Ausland sind sie gegenüber neuen Ideen oft aufgeschlossener.

Lin ist sehr beeindruckt von dem Fleiß ihrer festlandchinesischen Kommilitoninnen und Kommilitonen. “Ich habe auch den Eindruck, daß sie besser Englisch können als wir. Immer mehr Festlandchinesen machen die TOEFL-Prüfung [ Test of English as a Foreign Language -- darin werden die englischen Sprachkenntnisse als Vorbereitung für Studienaufenthalte im Ausland bewertet]. Mit guten Noten kann man mit Stipendien von ausländischen Schulen ins Ausland gehen. Für die meisten Studis vom Festland ist das die einzige Möglichkeit, jemals zum Studieren rauszukommen.”

Lin hat gerade die Arbeit an einem Handbuch mit Informationen über das Bildungswesen auf dem Festland abgeschlossen. “Viele Leute aus Taiwan haben mich telefonisch und in Briefen um solche Informationen gebeten. Ich habe selbst lange gebraucht, um herauszufinden, wie man in die Peking-Universität reinkommt, also entschloß ich mich, ein Buch darüber zu schreiben.” Das Buch ist nun in Taiwan erschienen, und in dieser Hinsicht hat Lin der Regierung der Republik China etwas voraus, weil diese noch keine umfassende Einführung über die Bildungsmöglichkeiten auf dem Festland veröffentlicht hat.

Xiao Hong-de (33) studiert im ersten Jahr eines Magisterstudienganges am Historischen Institut der Peking-Universität. Er hatte zuvor an der Abteilung für Buchhaltung der Chinese Culture University in Taiwan einen Bachelor erworben, aber sein Hauptinteresse galt immer der Geschichte. Ein paar Jahre nach seinem Examen verkaufte er Computer, büffelte und fiel trotzdem bei der Aufnahmeprüfung für das Magisterinstitut für Geschichte der National Chung Cheng University in Chiayi (Taiwan) durch. Danach versuchte es Xiao zweimal hintereinander ohne Erfolg beim Magisterinstitut für Geschichte der National Cheng Kung University in Tainan.

“Ich war sehr frustriert, weil ich von beiden Schulen praktisch schon angenommen war, und da dachte ich an die Peking-Universität”, erzählt er. “Mir war bekannt, daß der Studiengang für Chinesische Altertumsgeschichte dort einen sehr guten Ruf hat.” Er hatte aber keine Ahnung von dem Bewerbungsverfahren, also wandte er sich an die “Stiftung Austausch über die Taiwanstraße” ( Straits Exchange Foundation , SEF), die für solche Kontakte zwischen Taiwan und dem Festland zuständig ist. Schließlich konnte er den Kontakt mit dem Historischen Institut der Peking-Universität herstellen, und am Telefon machte er die Bekanntschaft des künftigen Betreuers seiner Magisterarbeit. Persönlich lernte Xiao den Professor allerdings erst kennen, als dieser ihn im September 1996 am Flughafen in Peking abholte.

Zuerst nahm Xiao an Vorbereitungskursen für die jährliche Aufnahmeprüfung des Magisterinstituts für Bewerber aus Taiwan, Hongkong und Macau teil, die im April 1997 stattfand. Während dieser Zeit wohnte er bei einem Professor des Historischen Instituts und bezahlte ihm monatlich 800 Renminbi (175 DM) Miete. Nach bestandener Prüfung zog er ins Wohnheim für Studierende aus Taiwan. “Der Professor hatte stapelweise dicke Bücher über Marxismus und einige Zeitschriften aus der Kulturrevolution.” Xiao las darin, und beim Sprechen über den Marxismus wird er lebhaft, weil diese Werke nach seinen Worten viel mehr detaillierte Informationen über den Marxismus enthielten als übliche taiwanesische Publikationen über das gleiche Thema.

Trotzdem hatte er nie das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. “Ich versuche die einheimischen Studis ja auch nicht zu überzeugen. Bis zu einem bestimmten Grad hängt bei ihnen die zukünftige Laufbahn noch von den politischen Ansichten ab. Wenn ich sie beeinflusse, könnten nach dem Examen die Dinge für sie weniger günstig verlaufen.” Seiner Meinung nach werden die Studenten durch die Behörden absichtlich voneinander getrennt. Beispielsweise wurden zum Neujahrsschulfest dieses Jahr keine Studierenden aus Taiwan eingeladen. “Wir [die Taiwanesen und die Festländer] sind alle Chinesen. Die Studierenden aus Taiwan hätten wirklich gern näheren Kontakt mit den festlandchinesischen Studenten, aber wir werden nicht immer akzeptiert.”

Xiao kapselt sich zwar nicht von den festlandchinesischen Studierenden ab, drängt sich ihnen aber auch nicht auf. “Studenten aus Taiwan möchten einfach nur ohne Scherereien ihren Abschluß machen. Die meisten gehen hinterher sowieso zurück nach Taiwan oder suchen in Ländern wie den USA nach Möglichkeiten für weiterführende Studien.” Im großen und ganzen nutzen sie Gelegenheiten zu engerem Kontakt mit Festlandchinesen nicht, um Streit über heikle Fragen zu vermeiden. “Es gibt auch aufgeschlossene festlandchinesische Studenten, meistens aus den großen Küstenstädten, aber die aus den Binnenprovinzen sind manchmal ziemliche Hitzköpfe.”

Xiao betrachtet das chinesische Festland im Prinzip als immer noch von der Außenwelt abgeschlossen. “Auf dem Festland weiß man über Taiwan oft nur, daß es eine reiche Insel ist. Sie haben keine Ahnung, welche Dialekte dort gesprochen werden, und manche glauben ernsthaft, daß wir in Taiwan auch den Renminbi als Währung benutzen.” Selbst an der Peking-Universität versuchen die Behörden die Verbreitung von Informationen zu kontrollieren. Jeden Werktag morgens um sieben Uhr werden beispielsweise die Errungenschaften der Kommunistischen Partei über Lautsprecher auf dem Campus verkündet. “Das ist eigentlich nicht vollkommen verkehrt, eben nur total überholt. Und Studenten, die spät schlafen gegangen sind, wachen davon auf.”

Die Studenten an der Peking-Universität hält Xiao für ein fleißiges Völkchen. “Manche Leute versteigen sich sogar dazu, sie als Roboter zu bezeichnen. Bei Stromausfall zünden sie Kerzen an und lesen weiter.” Die Professoren dort unterhalten auch meist engere Beziehungen zu ihren Studenten als in Taiwan, weil sie bescheidener sind. Bei der Vertretung ihrer Lehrmeinung in der chinesischen Altertumsgeschichte können sie dennoch recht autoritär sein.

Insgesamt macht Xiao das Leben an der Peking-Universität Spaß. Die einheimischen Studierenden sind einer großen Zahl von Vorschriften unterworfen, wogegen ihre taiwanesischen Mitschüler wie die anderen ausländischen Studenten behandelt werden und daher mehr Freiheiten genießen. Man bekommt auch mehr für sein Geld als in Taiwan. Zwar kann das Leben “langweilig” sein, aber wie Lin Chun-hua hat Xiao sich daran gewöhnt. “In meinen ersten drei Monaten hier habe ich mich vor allem für die vielen historischen Stätten der Stadt begeistert. Ein Jahr später fand ich die Atmosphäre ein wenig bedrückend. Inzwischen habe ich mich der Lebensweise hier angepaßt.” Er hat einen eigenen Computer und kann per Internet problemlos Kontakt mit der Heimat und der Außenwelt halten.

Xiao muß für sein Einzelzimmer pro Tag umgerechnet gut fünf Mark Miete und pro Jahr 15 000 Hongkongdollar (3380 DM) Studiengebühren berappen. Vor der Zulassung zur Aufnahmeprüfung müssen sich Studierende aus Taiwan entscheiden, ob sie finanzielle Unterstützung von der VR China annehmen oder als Selbstzahler studieren wollen. Weil Xiao glaubte, daß die Aufnahmeanforderungen bei Annahme der finanziellen Unterstützung der VR China höher seien, wählte er den Status des Selbstzahlers. Daß man die Prüfung auch bei Inanspruchnahme der staatlichen Unterhaltszahlungen problemlos bestehen kann, erfuhr er erst später und wünscht sich heute, daß er sich rechtzeitig schlau gemacht hätte.

Nach dem Magisterexamen möchte Xiao ein Promotionsstudium anhängen, wenn möglich wieder am Historischen Institut. Danach strebt er eine Stellung als Lehrer in Taiwan an und will nebenher mit Computerzubehör handeln. Das Zögern der Regierung der Republik China bei der Anerkennung der festlandchinesischen Lehranstalten kritisiert er nicht und ist sogar prinzipiell mit der vorsichtigen Politik einverstanden. “Ich möchte nicht für etwas eintreten, nur weil ich persönlich davon profitieren würde.” Seiner Ansicht nach sollte die Regierung die Festlandangelegenheiten schrittweise behandeln und mit der Anerkennung der Magistertitel den Anfang machen. “Die Studenten in Bachelor-Studiengängen sind noch sehr jung und können sich vielleicht nur schwer eingewöhnen. Ich habe auch die Befürchtung, daß sie bei politischen Diskussionen mit einheimischen Studenten nicht vorsichtig genug sein werden.”

Ein Student im Bachelor-Studiengang ist Ben Chang, der an der Medizinischen Hochschule Peking Medizin studiert. Mit seinem Ohrring fällt der 25jährige in dem konservativen Umfeld des Festlandes sehr auf. “Meine Mitschüler wissen, daß ich aus Taiwan komme, daher überrascht sie das nicht so sehr. Sonst fänden sie das wohl sehr merkwürdig”, vermutet er. Seit fünf Jahren lebt er in Peking, und seine Ausdrucksweise ist durchsetzt mit typisch festlandchinesischen Begriffen.

Als Chang im August 1993 zum ersten Mal nach Peking kam, war er im zweiten Studienjahr an der Chinese Culture University in Taipei. Er glaubte, sein Vater wollte nur mit ihm Urlaub machen, und hatte keine Ahnung, daß er die nächsten fünf Jahre auf dem Festland bleiben sollte. “Mein Vater hatte mir gesagt, daß wir nach Peking in Urlaub führen. In Wirklichkeit hoffte er, daß ich bleiben und an der Eingangsprüfung der Medizinischen Hochschule teilnehmen würde.” Als gehorsamer Sohn willigte Chang ein und studierte gemäß den Wünschen seines Vaters Medizin.

Die Prüfung fiel ihm nicht schwer, und er wurde von der Schule angenommen -- zum Teil auch deswegen, weil viele der anderen Prüflinge weit unter den Anforderungen blieben. Chang gibt bereitwillig zu, daß viele Studenten aus Taiwan aufs Festland gehen, weil sie von keiner der Lehranstalten in Taiwan angenommen werden. Einen Monat nach der Ankunft auf dem Festland schrieb er sich an der Medizinischen Hochschule ein und beantragte bei der Chinese Culture University in Taiwan ein Urlaubsjahr, damit er im Falle von unüberwindlichen Eingewöhnungsschwierigkeiten in der neuen Umgebung nach der Rückkehr nach Taiwan immer noch einen Studienplatz hätte.

Erst in seinem zweiten Jahr an der Medizinischen Hochschule Peking erfuhr Chang durch Gespräche mit einem Kommilitonen aus Taiwan, daß ihn die Hochschule zur Eingangsprüfung zugelassen hatte, ohne vorher die Genehmigung der Behörden der VR China einzuholen. Heute steht er kurz vor dem Examen, ist sich aber nicht sicher, ob er dann auch wirklich seinen Bachelor-Grad erhält. Für eine Rückkehr an die Chinese Culture University ist es jedenfalls zu spät. “Ich muß diesen Weg weitergehen -- ich habe keine Wahl.” Offensichtlich hatte die Medizinische Hochschule Peking die Prüfung ohne Benachrichtigung der Behörden aus der Annahme heraus genehmigt, diese Vorgehensweise werde später nachträglich abgesegnet werden. Das erwies sich leider als zu optimistisch.

Zu allem Verdruß hat Chang noch ein spezielles “Identitätsproblem”. Bei den Studiengebühren wird er wie alle anderen ausländischen Studenten behandelt und pro Jahr mit umgerechnet 3500 DM zur Kasse gebeten, wogegen die festlandchinesischen Studenten mit staatlichem Stipendium nur 500 Renminbi (108 DM) und ohne Stipendium 2000 Renminbi (434 DM) bezahlen müssen. Als er sich jedoch um Beihilfen für ausländische Studenten -- die für ihn eigentlich leichter zu erlangen sein sollten als die Beihilfen für einheimische Studenten -- bewarb, teilte ihm die Uni mit, er sei als Festlandchinese eingestuft. Ausländische Studierende müssen bestimmte Pflichtkurse nicht besuchen, aber diese Vergünstigung gilt nicht für Chang.

Chang arbeitet derzeit als Assistenzarzt in einem Pekinger Krankenhaus. Als er in den ersten zwei Jahren noch mit anderen ausländischen Studenten zusammenlebte, trieb er sich oft mit ihnen herum und ging in teure Nachtclubs. Damals hatte er in einer gemischten Klasse mit ausländischen und einheimischen Studenten Unterricht, und seine ausländischen Kollegen hatten gewöhnlich eine äußerst laxe Arbeitsmoral. Im Gegensatz dazu waren die akademischen Leistungen der einheimischen Studierenden normalerweise immer hervorragend. “Von den ausländischen Studenten bin ich der Beste, aber im Vergleich mit den einheimischen Kommilitonen bin ich nur Durchschnitt.” Es herrscht ein starkes Konkurrenzdenken unter den festlandchinesischen Studenten an dieser Universität, die als eine der besten medizinischen Hochschulen auf dem Festland gilt.

In seinem dritten Studienjahr begab sich Chang zum Rektor und bat um die Versetzung in eine rein festlandchinesische Klasse. Das wurde gewährt, und von da an wohnte er auch mit Festlandchinesen zusammen. Das war ein vernünftiger Schritt. Von den 15 ausländischen Studenten, die 1993 gemeinsam mit Chang zugelassen worden waren, schafften es nur sechs bis ins fünfte Studienjahr. Der Rest wurde entweder rausgeschmissen oder mußte Nachprüfungen machen.

Chang ist sicher besser in die Gesellschaft des Festlandes integriert als die meisten seiner Landsleute. Seine zwei besten Freunde sind festlandchinesische Kommilitonen. Im Studentenwohnheim wohnt er mit sechs einheimischen Studenten in einem Achtbettzimmer mit wenig Komfort und muß daher viele Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen -- zum Duschen muß er fünfzehn Minuten zu Fuß zu seiner Klinik gehen, aber daran hat er sich schon längst gewöhnt. “Nach meiner Ankunft in Peking hat mich zuerst vieles an der Uni und an der Stadt überrascht, aber das ist vorbei.”

Autofahren wie in Taiwan ist für Chang auf dem Festland natürlich passé -- heute ist es für ihn normal, durch Pekings Gassen zu radeln. “Der Lebensstandard ist deutlich niedriger als in Taiwan, aber die Leistungen der festlandchinesischen Studenten sind trotzdem hervorragend -- da sollten wir von ihnen lernen”, empfiehlt Chang und fügt hinzu, daß sein Leben jetzt viel schlichter sei als früher. Im ersten Jahr wollte er wegen Eingewöhnungsschwierigkeiten oft zurück nach Taiwan, und selbst heute findet er manche schlechten Angewohnheiten der Festlandchinesen unerträglich: etwa das rücksichtslose Drängeln unter Einsatz beider Ellbogen anstatt geordnetes Schlangestehen oder die Benutzung des Abtritts ohne anschließende Betätigung der Toilettenspülung. Das Leben auf dem Festland hat ihn aber auch gelehrt, das bereits Erlangte hochzuschätzen.

Durch das Leben auf dem Festland hat Chang auch gelernt, die bilateralen Beziehungen aus einer neuen Perspektive zu betrachten. “In Taiwan behandeln viele Leute diese Frage sehr emotional. Man muß Taiwan auch einmal von außen betrachten, weil man dann eine rationalere Ansicht von den bilateralen Problemen erhält.”

Ist die Weigerung der Regierung der Republik China auf Taiwan gegenüber einer Anerkennung der Lehranstalten auf dem Festland nun rational oder emotional? Chang hält die Medizinische Hochschule Peking für eine gute Schule und bedauert, daß sie in der vorläufigen Liste von anzuerkennenden Schulen nicht aufgeführt ist. Die drängendere Sorge für ihn bleibt allerdings, ob ihm die Behörden der VR China nach dem Examen auch seinen akademischen Grad zugestehen werden. Chang behauptet, daß ihm das nicht den Schlaf raubt, denn in jedem Fall will er an eine medizinische Hochschule in einem Drittland gehen und dort noch einmal als Student im dritten oder vierten Studienjahr anfangen. So könnte er dann in Taiwan mit sehr viel weniger Schwierigkeiten die Prüfung zum “Dr. med.” in Angriff nehmen und damit den Traum seines Vaters verwirklichen.

Manchmal sind die Dinge im Leben aber noch komplizierter, und in einem Punkt konnte Chang die Redakteure von Free China Review überraschen: Eigentlich will er ja gar nicht Arzt werden, sondern möchte statt dessen eines Tages eine Klinik auf dem chinesischen Festland leiten. Ein Magisterstudium in Betriebswirtschaftslehre wäre dann vielleicht sinnvoller.

An der Filmakademie Peking absolviert der 29jährige Yeh Chi-ku einen Magisterstudiengang für Regie. Seine taiwanesische Identität ist bei ihm noch auffallender als bei manchen seiner Kollegen, weil er immer wieder in den taiwanesischen Dialekt verfällt. “Ich bin immer ganz aus dem Häuschen, wenn mir Leute über den Weg laufen, die gerade frisch aus Taiwan kommen”, gesteht er und fügt hinzu, daß er seit seiner Ankunft auf dem Festland Taiwan noch mehr liebt als vorher.

Im April 1995 bestand Yeh die Eingangsprüfung und schrieb sich im September desselben Jahres an der Akademie ein. Vorher hatte er in Taiwan für eine Fernsehanstalt und als Assistenzlehrer in der Theater- und Filmabteilung der Chinese Culture University in Taipei gearbeitet. Dort erwarb er einen Bachelor-Grad, und eines Tages zeigte ihm ein Mitschüler einen Zeitschriftenartikel über die Filmakademie Peking, was Yehs Interesse an einem Auslandsstudium erregte.

“Ich kann nicht sehr gut Englisch”, gibt er zu bedenken. Wenn ich an einer US-amerikanischen Universität hätte weiterstudieren wollen, hätte ich dort zuerst Sprachunterricht nehmen müssen, und das wäre für meine Eltern sehr teuer geworden. Ich verfolgte den Gedanken daher nicht weiter.” Außerdem wollte er sich von den anderen unterscheiden. “Die meisten meiner Lehrer in Taiwan hatten entweder in den USA oder Frankreich studiert, und meine Mitschüler hatten ähnliche Pläne, deswegen entschied ich mich für das chinesische Festland.” Auch keine schlechte Wahl, denn die Filmakademie Peking ist eine Schule von Weltruf, an der unter anderem berühmte Regisseure wie Chen Kaige(陳凱歌) [“Lebewohl, meine Konkubine”] und Zhang Yimou(張藝謀) [“Rote Laterne”] studiert haben. “Vor ein paar Tagen besuchte der taiwanesische Regisseur Lee Ang(李安) [‘Das Hochzeitsbankett’] unsere Schule, um Schauspieler für Rollen zu suchen.”

Als Yeh sich für Peking entschied, hielten alle seine Freunde das für eine interessante Wahl. Keiner riet ihm ab, und selbst seine Eltern zeigten nur geringe Sorge. “Die Menschen in Taiwan und in Peking sprechen die gleiche Sprache, nur unterschiedliche Dialekte. Die Umgewöhnung an Klima und Lebensweise geht schnell. Im übrigen: Wenn ich mich hier nicht wohlfühle, kann ich immer noch aufhören und zurückgehen.”

Yeh lebt seit fast drei Jahren in Peking und hatte in dieser Zeit keine größeren Schwierigkeiten. Das Leben in einer anderen Umgebung hat ihm gutgetan, denn: “Ein guter Regisseur muß echtes Talent haben, sollte aber auch unterschiedliche Lebensweisen kennengelernt haben.” Im Gegensatz zu Taiwan, wo ihm die Professoren nur wenig Denkanstöße gaben, stellt ihm der Betreuer seiner Magisterarbeit oft grundlegende Fragen über seine Ideen. Yeh: “Er ist ein guter Lehrer und kein Spießer.”

Nicht alle Professoren sind jedoch so aufgeschlossen, und besonders liberal ist die Schulverwaltung auch nicht. “Auch die Aufgeschlossenen gehen den Problemen aus dem Weg, die sie mit der offiziellen Politik in Konflikt bringen könnten. Schließlich wollen sie sich nicht die Karriere vermasseln.” Yeh weiß ganz genau, daß manche Filme -- etwa mit zu freizügigen Sexszenen -- an der Schule nicht offen gezeigt werden dürfen, und von wichtigen Filmen erfahren die festlandchinesischen Studenten oft erst von ihren taiwanesischen Mitschülern.

Ein anderer heikler Bereich ist die Politik. Einmal sah der Vizedekan einen Kurzfilm von Yeh mit eindeutig politischem Unterton, in dem Yeh andeutete, daß Taiwan sich nicht mit dem chinesischen Festland vereinigen wolle, solange die Insel vom Festland militärisch bedroht werde. Der Vizedekan hielt Yeh offensichtlich für einen Unruhestifter und zitierte ihn zum Gespräch zu sich. Letztendlich maßen die Behörden der Sache dann aber doch keine große Bedeutung bei. “Aber seitdem macht der Vizedekan immer ein finsteres Gesicht, wenn wir einander über den Weg laufen.”

Yeh ist mit den Studiengebühren unzufrieden. “Die Gebühren werden jedes Jahr geändert”, klagt er. 1995 zahlte er für ein Jahr umgerechnet 4725 DM Studiengebühren. Im folgenden Jahr wurden die Gebühren auf 6300 DM erhöht -- mehr als die meisten Privatunis in Taiwan verlangen würden. Yeh hat gehört, daß die Studiengebühren in manchen Abteilungen sogar auf 7000 DM gestiegen sein sollen. “Dagegen sind wir machtlos”, seufzt er. “Die Haltung der Schule ist anscheinend: 'Wenn dir das zu teuer ist, dann geh doch woanders hin.' Einem Studenten aus Taiwan haben sie das sogar so ins Gesicht gesagt.”

Bezahlt ist bezahlt, und für Yeh -- der im Juli Examen macht -- ist jetzt entscheidend, ob er in Taiwan eine Qualifikationsprüfung machen kann, damit dort sein Abschluß von der Filmakademie Peking anerkannt wird. Laut Angaben vom Bildungsministerium der Republik China können Studenten aus Taiwan, die nicht an einer der in der vorläufigen Liste aufgeführten 73 anerkannten Lehranstalten studiert haben, an dieser Prüfung teilnehmen, wenn sie zwischen September 1992 und Oktober 1997 an der betreffenden Schule eingeschrieben waren. So gesehen scheint Yeh sich qualifiziert zu haben.

Es gibt aber auch noch zwei wichtige Einschränkungen. Erstens dürfen die auf einen festlandchinesischen Studienabschluß hinführenden Kurse keine ideologischen Studien enthalten -- und Yeh weiß nicht, ob die Regierung der Republik China Filme nicht als ideologisch einstuft. Zweitens ist die ganze Frage über die Anerkennung festlandchinesischer Studienabschlüsse immer noch umstritten. Auf dem Weg zur Lösung dieses Problems gab es einige Rückschläge, und kein Regierungsvertreter der Republik China scheint definitiv mitteilen zu können, wann eine abschließende Entscheidung getroffen wird.

“Die Verknüpfung der Anerkennung von Studienabschlüssen mit politischer Ideologie ist Quatsch”, argumentiert Yeh. “Taiwan ist eine offene Gesellschaft. Wenn die Regierung das Wachsen der oppositionellen DPP (Demokratische Progressive Partei) toleriert, wieso kann sie dann Leute wie uns nicht akzeptieren?” Er hofft sehr, daß er an der Prüfung teilnehmen darf, denn ein anerkannter Abschluß wäre ein großes Plus für seine Karriere. Auf der anderen Seite glaubt er, daß für Studierende wie ihn ein Abschlußzeugnis weniger wichtig ist als “das Wesentliche”, das er in den letzten drei Jahren gelernt hat.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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