Ein paar Wochen nach seiner Einschulung wurde Pan Chaur-sen wegen einer Lebensmittelvergiftung plötzlich krank. Normalerweise erholt man sich davon eigentlich relativ schnell, nicht jedoch der kleine Pan: Er verlor sein Augenlicht.
Seine bis dato glückliche Kindheit fand so ein jähes Ende. Keine Spielkameraden klopften mehr an seine Tür, und schlichte Vergnügen wie Papayas pflücken oder Grillen fangen in den Feldern der Umgebung waren ihm fortan verwehrt. Pans Familie lebte in einem Haus japanischer Bauart, und er verbrachte seine Zeit tagaus, tagein meist schlafend auf dem mit Tatami-Matten belegten Fußboden. Sich ruhelos hin und her wälzend führte er gelegentlich Selbstgespräche. Seine Eltern unterwarfen ihn einer strengen Therapie mit traditioneller chinesischer Medizin: Seine Augen blieben mit zwei Polstern aus gemahlenen Kartoffeln und Eiweiß bedeckt, er durfte keine Meeresfrüchte essen, wurde auf eine Diät aus Reisbrei mit eingelegten Gurken gesetzt und mußte nach jeder Mahlzeit eine Riesenschale mit scheußlich bitterer chinesischer Kräutermedizin schlucken.
Pans Mutter probierte alle möglichen Geheimrezepte von besorgten Freunden und Verwandten an ihm aus. Einmal quälten sich seine Eltern sogar auf einen hohen Berg hinauf, um einen alten Mann mit angeblich magischen Heilkräften zu konsultieren. Nach zwei Jahren in vollkommener Dunkelheit geschah dann das Wunder: Pan wachte eines Morgens auf und konnte sehen.
Diese Erfahrung prägte ihn für sein ganzes Leben. Eine ganze Reihe seiner Bilder zeigt Augenpaare wie etwa ein Werk aus dem Jahre 1985 mit dem Titel Mond und Blumen . "Das sind die Augen des Herzens", erklärt Pan. "Mit unseren physischen Augen können wir die materielle Welt wahrnehmen, aber mit dem Herzen sehen wir das, was darüber hinausgeht. Diese Reihe habe ich in Erinnerung an meine Erfahrungen als Blinder gemalt. Es war in vielerlei Hinsicht eine schlimme Zeit, diese ewig trostlose Einsamkeit in der Finsternis, aber es war so wohltuend zu lernen, mit meinen geistigen Augen zu sehen."
Als er wieder in die Schule gehen konnte, kam er in die zweite Klasse. Der Kunstunterricht machte ihm am meisten Spaß. In jeder freien Minute malte und zeichnete er mit seinen acht Buntstiften. Seine Mutter schickte ihn oft zum Spielen nach draußen, weil sie fürchtete, daß die Zeichnerei den Augen ihres Jungen schaden könnte.
Der Junge wiederum schien vor allem das Versäumte nachholen zu wollen und zeichnete und malte wie besessen. "Ich glaube, die Erfahrung der Blindheit in so zartem Alter ließ in mir eine Wertschätzung für das entstehen, was andere Kinder als selbstverständlich annehmen: Farben und Formen der Dinge sehen zu können und Abbilder davon zu schaffen", sinniert Pan. In der Schule und Umgebung ließ er sich bald keinen Malwettbewerb mehr entgehen. Der Schulleiter sprach sogar Pans Vater auf die künstlerische Begabung des Jungen an und legte ihm ans Herz, diesen zukünftigen großen Maler zu fördern.
In der Mittelschule lernte Pan dann den Mann kennen, der sein Mentor fürs Leben werden sollte: Hsiao Ju-sung, Kunstlehrer der Schule. Zuerst schien Hsiao von Pans Talent kaum etwas zu bemerken. Im zweiten Halbjahr aber meldete sich der Junge für einen freiwilligen Kunstkurs und nahm an Ausflügen zur Landschaftsmalerei mit Hsiao teil. Oft hockte er hinter seinem Lehrer und sah ihm beim Malen zu, und auf dem Rückweg lauschte er den Lebensweisheiten, die sein Lehrer zum besten gab.
"Ich denke gern an diese Tage zurück", bekennt Pan. "Hsiaos Gesicht war so rot wie das Antlitz der chinesischen Gottheit Kuan Kung. Ich weiß bis heute nicht, ob das an seiner Begeisterung lag oder nur am Abendrot. Er redete gewöhnlich nicht viel, aber bei solchen Anlässen erzählte er mir, wie er sich nach der Fertigstellung eines Gemäldes fühlte. Er zeigte mir auch ein paar Tricks und Techniken und sprach über sein Kunstverständnis. Wenn wir schließlich die Bushaltestelle erreichten, schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr davon, während ich auf den letzten Bus wartete. Er gab mir immer so intellektuell anspruchsvolle Ideen zum Nachdenken auf den Weg, daß ich vor Freude oft Hunger und Müdigkeit vergaß."
Pan dachte an nichts anderes mehr als ans Malen. Oft wartete er hinter der Tür des Lehrerzimmers, bis Hsiao sein Mittagessen verzehrt hatte, damit er ihm sein neuestes Bild zeigen konnte. In den Sommer- und Winterferien malte er pro Tag ein Bild. Hsiao hängte die Bilder seines besten Schülers häufig am Schwarzen Brett und in den Klassenräumen aus. Kurz vor dem Abschluß regte Hsiao eine Ausstellung an und reservierte einen ganzen Raum für Pans Werke.
Einmal bekam Hsiao Besuch von mehreren bekannten Malern. Der Pädagoge ließ sie von Pan abholen und lud ihn später zum gemeinsamen Mittagessen mit den Künstlern ein. "Stellen Sie sich einmal diesen jungen Hüpfer in seiner Schuluniform und mit seinem affigen Kurzhaarschnitt vor, wie er zum Mittagessen mit diesen berühmten Künstlern Platz nimmt!" erinnert er sich lachend. "Hsiaos Ansporn und Fürsorge werde ich nie vergessen."
Pan führt alle seine künstlerischen Konzepte auf den Einfluß seines Lehrers zurück. "Meine Maltechnik gelangte früher und schneller als bei den meisten anderen Malern zur Reife", behauptet er. "Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso geworden wie viele andere, die zwar malen können, aber keine Maler sind. 'Sei zuerst ein Künstler und arbeite dann an deiner Technik' -- das hat mir Hsiao geraten. Er lehrte mich, wie man ein wirklicher Künstler ist. Pflege die Treue zur Kunst und widme der Kunst deine ganze Kraft! Sei bereit, ihr Opfer zu bringen, etwa indem du die Aussicht auf Reichtum durch eine geschäftliche Karriere verschmähst. Gehe bloß keine Kompromisse ein und ändere niemals den Titel eines Bildes, nur weil er deinem Förderer nicht paßt." Diese Prinzipien hatte Pan bereits mit vierzehn Jahren verinnerlicht. Seitdem lernte er mit ihrer Hilfe, ein wirklicher Künstler zu werden.
Nach Abschluß der Mittelschule wurde Pan in ein Kunstprogramm des Lehrerkollegs Taipei aufgenommen. Der Lehrplan war zwar auf die Ausbildung von Lehrern ausgerichtet, aber Pan verlor seine Leidenschaft für Kunst nicht und verbrachte viel unterrichtsfreie Zeit mit Lesen und Ideenaustausch mit Lehrern und Mitschülern, verfeinerte seine Zeichentechniken, besuchte Kunstausstellungen und organisierte die vierzehntägigen Klassenraum-Ausstellungen. Nach Abschluß des Programms studierte er noch drei Jahre am Taichung Junior College für Lehrer. Kurz vor dem Examen errang er bei der Zentraltaiwan -Kunstausstellung mit einem Werk namens Lily den ersten Preis.
Bei der Ausstellung preisgekrönter Werke lernte er eine junge Frau kennen, die seine Werke sehr mochte. An einem Tag nicht lange danach tauchte sie plötzlich in Pans Schule auf, und danach gingen sie öfters zusammen aus. Nach einem Monat war es damit vorbei, denn Pan stand vor der Abschlußprüfung und sollte anschließend als Lehrer nach Taipei zurückgehen. Mehr als ein paar Spaziergänge im Park, drei Filme und ein Mittagessen war da nicht drin. "Ich war eben ein junger Bursche mit nichts als Kunst im Kopf und wollte meinen Weg mit der Kunst allein weitergehen", erinnert sich Pan. "Sie wollte meine Adresse haben und mit mir Kontakt halten, aber ich gab sie ihr nicht. Unterm hellen Mond nahmen wir Abschied."
Am Tag seiner Abreise aus Taichung schickte sie ihm einen Zierstrauch im Blumentopf, den er dann am Schulzaun einpflanzte. Im Zug nach Taipei dachte er die ganze Zeit an sie, und bis zur Ankunft war ihm klargeworden, daß dieses Mädchen die Erfüllung seiner Träume war. Bald darauf fuhr er trotz damals schlechter Verkehrsverbindungen zweimal nach Taichung. Er suchte in jedem Viertel und ging von Haus zu Haus, aber er fand sie nicht wieder. Diese flüchtige Erfahrung erster Liebe scheint ihn für immer gezeichnet zu haben, denn auf seinen Bildern sehen die jungen Frauen mit halblangem Haar und ruhiger Miene alle wie dieses Mädchen aus.
Diese Frauen machen auf viele Betrachter einen unauslöschlichen Eindruck. "Er malt ihnen noch nicht einmal einen Mund", bemerkt der Maler und Anthropologe Max Liu. "Seine Frauengestalten sind manchmal so blaß, blutleer und linkisch -- aber sie rühren einen an, als ob sie real wären." "Er ist wie ein erfahrener Regisseur, der bei jedem Film mit der gleichen Hauptdarstellerin arbeitet. Egal wo sie auftritt, sie paßt immer -- ob in einem Fischerdorf oder im Atelier eines Malers", kommentiert der Dichter und Maler Wu Te-liang(吳德亮) und fügt hinzu: "Bilder von Pan erkennt man sofort."
Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer an der Panchiao-Grundschule im Kreis Taipei leistete Pan auf der Insel Matsu nahe dem chinesischen Festland seinen Militärdienst ab. Er kommandierte eine Kompanieabteilung, weswegen er anderen beim Arbeiten zuschauen konnte und dabei selbst eine relativ ruhige Kugel schob. So hatte er genug Zeit, die Seelandschaft zu genießen und das Leben in einem kleinen Fischerdorf mit seinen wettergegerbten Fischern zu beobachten. "Ich habe mich oft mit den Dorfbewohnern unterhalten", entsinnt er sich. "Einmal erzählte mir ein junger Mann, daß sein Opa sich mit geschlossenen Augen aufs Deck legte und dann nur am Klang der Wellen erkennen konnte, ob sie im Hafen angekommen waren. Das nenne ich eine scharfe Sinneswahrnehmung!"
Nach Pans Überzeugung ist eine scharfe Sinneswahrnehmung das Ergebnis des Zusammenwirkens aller individuellen Eigenschaften, darunter Wissen, Charakter und Intelligenz. Primitive Lebensformen haben nur Instinkte, Menschen dagegen können ihre Sinne auf ein höheres Niveau entwickeln. So begann Pan mit der Schärfung seiner Sinne. Bei Spaziergängen übers Land lauschte er immer aufmerksam dem Vogelgezwitscher und dem Rauschen des Windes und ahmte die Geräusche nach. Er versuchte die Farben der Bäume zu unterscheiden und die feinen Farbnuancen der Blätter zu erkennen. Diese Gewohnheit hat er heute noch. "Man wird nicht als Künstler geboren", glaubt er. "Das muß man lernen. Mein Training zur Sinnesschärfung hat sicher meine Malerei verbessert."
Nach Ende des Wehrdienstes 1966 ging Pan als Lehrer zurück an die Panchiao-Grundschule. Zu dieser Zeit nahm er an vielen Malwettbewerben teil, und im Jahr zuvor war sein abstraktes Werk Vögel bei einem der angesehensten Wettbewerbe in Taiwans Kunstkreisen, der jährlichen Veranstaltung "Taiyang Kunstausstellung und Wettbewerb", mit dem ersten Preis ausgezeichnet worden. Die Erfahrung des Lebens auf einer abgelegenen Insel [nämlich Matsu] und einer einfachen Lebensweise schlug sich nun auch in seinen Werken nieder. Aufsehen erregte seine unverwechselbare Art, das Meer, Fischerdörfer und Fischer miteinander zu kombinieren, denn die meisten anderen Mitbewerber hatten vor allem Stilleben und Landschaften gemalt.
In dieser Frühphase seiner Laufbahn verwendete Pan in seinen Bildern hauptsächlich der Motive wegen auffallend viel blaue Farbe. Ein Gemälde aus dem Jahr 1973 mit dem Titel Hinaussegeln ist typisch dafür. Das Wasser, die Häuser und zum größten Teil auch das Kleid des Mädchens sind blau. Der Künstler bevorzugt auch heute noch die Verwendung eines einzelnen, dominierenden Farbtons. "Er hat seinen eigenen Farbstil", findet Wu Te-liang. "Die gleiche Farbe für Himmel, Häuser, Sträucher und Berge wäre bei anderen Malern langweilig, aber Pan erzeugt damit eine starke Wirkung beim Betrachter."
1974 unternahm Pan eine viermonatige Auslandsreise nach Europa und in die USA. Er besuchte Museen, Galerien und andere Künstler. Danach reiste er aber nur noch gelegentlich ins Ausland. Durch die Reise kam er zu der Überzeugung, daß er seinen Bildern eine kulturelle Identität verleihen müsse. "Ich stimme der Ansicht zu, daß taiwanesische Maler sich nicht auf Tempel, Bauernhöfe und folkloristische Motive beschränken sollten", postuliert er. "Auf der anderen Seite sollten sie ihre Beobachtungen und Interpretationen ihrer eigenen Kultur darstellen können. Ich habe nun ein wenig von der Welt gesehen und finde, daß man sich durch ein kulturelles Flair am besten von den anderen abheben kann." Eine seiner Techniken für die Schaffung einer kulturellen Identität ist die Plazierung von typisch taiwanesischen Häusern im Hintergrund des Bildes. Ein charakteristisches Beispiel für diese Technik ist sein Werk Geschwister aus dem Jahr 1989, das 1992 für eine internationale Ausstellung der Französischen Kunstgesellschaft ausgewählt wurde.
Pan war über fünfundzwanzig Jahre lang Grundschullehrer und ist mit vielen Schulleitern, Lehrern und Schülern befreundet, doch eines Tages hatte er genug. 1987 teilte er seinem Schulleiter mit, daß er nach so vielen Jahren als Kunstlehrer die kommenden zwanzig oder dreißig Jahre ausschließlich dem Malen widmen wolle.
"Als ich noch unterrichtete, hatte ich wirklich wenig Zeit zum Malen", klagt er. "Nur hin und wieder konnte ich Bilder für eine Ausstellung oder für einen Wettbewerb machen. Die Tätigkeit als Kunstlehrer ist irgendwie eine Art Kompromiß zwischen dem Dasein eines hungernden Künstlers und eines Werktätigen, der kein Malzeug mehr anrührt. Ich war gern Kunstlehrer, weil ich so als einziger Lehrer der Schule unseren unter Prüfungsdruck ächzenden Schülern ein wenig Ablenkung verschaffen konnte. Zwar hat das Unterrichten auch meine Zeit und Energie fürs Malen eingeschränkt, mich aber nie meiner Fertigkeiten beraubt. Tatsächlich habe ich sogar von den unvoreingenommenen Vorstellungen der Kinder von Malen und Farben profitiert."
Eine Reihe von Bildern mit dem Thema " Fliegen" spiegelt perfekt seine Gedanken während seiner Zeit als Lehrer wider. Auf dem Bild Ich will fliegen (1994) beispielsweise ist eine von Tauben umgebene unbekleidete Frau zu sehen. Pan meint, daß die physische Mobilität des Menschen begrenzt ist, dem Geist, so lange er noch arbeitet, jedoch keine Grenzen gesetzt sind.
Seine lange Laufbahn als Lehrer war in gewissem Sinne auch eine Experimentierzeit. "Ich habe zwar immer an Wettbewerben und Ausstellungen teilgenommen, blieb aber ein Einzelgänger", gibt Pan zu. "Doch ich wollte es ja auch nicht anders. Ich suchte immer noch nach einem eigenen Stil oder einem persönlichen Markenzeichen. Ich wollte mich von dem Chaos der Außenwelt nicht stören oder beeinflussen lassen. Als Einzelgänger konnte ich meinen Gedanken nachhängen und diese in Gemälden ausdrücken." Er versuchte es mit anderen Farben als dem schweren Blau, das er bis dahin bevorzugt hatte; er erforschte verschiedene Techniken wie Surrealismus und Abstraktionismus; und er experimentierte mit neuen Motiven aller Art einschließlich Stilleben, Landschaftsmalerei und ausländische Landschaften.
Das Jahr 1987 erwies sich als günstiges Jahr, ein hauptberuflicher Maler zu werden. Der Kunstmarkt florierte, auch weil die Leute wegen der steil ansteigenden Börsenkurse mehr Geld für Kultur übrig hatten. Schon bald erklärte sich die Dimen sions Art Gallery bereit, ihn vorzustellen.
Seit inzwischen einem Jahrzehnt konzentriert sich Pan voll aufs Malen. Die langen Jahre des Forschens und Experimentierens kamen ihm nun zugute. Nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst verhalf ihm die in ihm gewachsene Energie zu schnellem Erfolg. In den letzten zehn Jahren wurde er zur Teilnahme an den jährlichen Ausstellungen der Werke namhafter Künstler in größeren Museen eingeladen, etwa dem Taipei Fine Arts Museum und dem National Museum of History. Außerdem hat er mehrere Solo-Ausstellungen in angesehenen Galerien der Insel veranstaltet. Das Taiwan Provincial Museum of Fine Arts kaufte viele seiner Werke, und vom 36. französischen Salon International d'Arts plastiques hat Pan eine Auszeichnung für künstlerische Leistungen erhalten.
Pans größte Freude ist aber, daß er endlich seinen eigenen künstlerischen Stil gefunden hat. Er zeigt auf ein Bild mit dem Titel Ein Tag mit Fischverkauf und erklärt, daß er mit der Häuserreihe im oberen Teil des Bildes einen Kontrast zwischen seinem Ölgemälde und dem Realismus westlicher Maler bilden wollte. Das dichte Wirrwarr von Häusern im taiwanesischen Stil soll ein kulturelles Flair vermitteln. Das Mädchen mit gekreuzten Armen, geschlossenen Augen und Mund (oder vielleicht sogar ohne Mund) ist quasi das Markenzeichen des Künstlers. Der große leere Raum in der Mitte symbolisiert die Hilflosigkeit und Leere des vergebens auf Kunden wartenden Fischhändlers.
In seinen Bildthemen und seiner Symbolismus-Technik ist sein Stil klar erkennbar. Menschliche Wesen, besonders die Schwachen und Vergessenen, kehren als Thema immer wieder. "Motive wie schöne Landschaften, grüne Berge und saubere Flüsse interessieren mich nicht", verkündet Pan. "Meine Sache sind eher menschliche Wesen und zwischenmenschliche Beziehungen, etwa Geschwister, Liebende, Eltern und Kinder oder Individuen aller Art -- ein Straßenhändler vielleicht oder ein alter Mann. Mit denen habe ich viel Mitgefühl."
Lee Quan-pui(李焜培), Maler und Kunstprofessor an der Nationalen Pädagogischen Hochschule Taiwans, bestätigt Pans Selbsteinschätzung. "Die westliche Kunstströmung der Fixierung auf den Adel ist schon lange passé", stellt er fest. "Die Künstler suchen anderswo nach Inspirationsquellen -- Markthändler, die gesellschaftliche Unterschicht, der Alltag der normalen Leute. Und in Pans Bildern sind die immer so lebendig. Jedes Bild erzählt etwas über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, einer Frau und ihrem Haustier, oder worüber ein Händler gerade nachdenkt."
Symbolismus kennzeichnet die meisten seiner Werke, wie man an einer Reihe neuerer Bilder mit einem jungen Paar erkennen kann. Auf dem Bild Stilles Seminar aus dem Jahr 1994 sitzt das Paar an einem Tisch. Beide haben je eine Karte in der Hand, bei ihr steht ein X darauf, bei ihm ein O. Zu weiteren Beispielen gehören Die drei Grazien (1994) mit drei nackten Frauen, die Äpfel auf einem Tisch betrachten, und Die Fischseele (1974), auf dem vor einer Häuserzeile eine Reihe von Fischgräten hängt. "Bilder sind ohne Worte", erklärt Pan. "Kunst sollte mit Worten nicht bis ins kleinste interpretiert werden können. Wozu bräuchten wir sonst Gemälde? Ein Bild spricht für sich selbst, und für jeden bedeutet es etwas anderes. Das ist das Schöne am Symbolismus."
Eine andere Facette seines klaren individuellen Stils ist eine gewisse Vorliebe für literarische und ironische Titel. Einmal beobachtete er einen alten Mann, der am Straßenrand Zuckerwatte feilbot, und pinselte daraufhin ein Bild mit dem Titel Süßes Leben (1984) -- natürlich war das Leben des alten Straßenhändlers alles andere als süß. Ein anderes Bild heißt Ein Nachmittag ohne Gewicht (1974) und entstand nach Pans Bummel über einen traditionellen Markt. Dort sah er einen deprimierten Fleischhändler mit seinem unverkauften Schweinefleisch und der unbenutzten Waage sitzen.
Pan bezeichnet sich selbst jetzt als einen "malenden Werktätigen". In den letzten zehn Jahren hat er wie ein Beamter streng den gleichen Tagesablauf eingehalten, außer bei seinen seltenen Auslandsreisen. Jeden Morgen geht er bergwandern und macht dann vor Arbeitsbeginn ein paar Tai-chi -Übungen. Morgens um halb neun geht er in sein Atelier, macht zwischen halb zwölf und zwei Mittagspause und geht abends gegen sechs Uhr heim. Er arbeitet viel mehr als während seiner Zeit als Lehrer. "Mit fünfzig bis siebzig ist ein Maler auf der Höhe seiner Schaffenskraft", findet er. "In dieser Zeit entstehen die Meisterwerke, weil die Maler dann nämlich technisch und geistig gereift sind. Für die Bewältigung einer schweren Arbeitslast ist es die ungeeignetste Zeit, aber es ist auch die beste Zeit."