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Politik contra Wirtschaft : Die Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland

01.07.1997

Die auffallendsten Aspekte der bilateralen Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland stehen in verwirrendem Widerspruch zueinander. Einerseits ist die Volksrepublik China (VR China) die größte Sicherheitsbedrohung der Republik China und auch für ihre diplomatische Isolation und den prekären Souveränitätsstatus verantwortlich. Andererseits ist das chinesische Festland in kurzer Zeit zum zweitgrößten Exportmarkt Taiwans geworden und ist praktisch die wichtigste Ursache für den Außenhandelsüberschuß der Insel. In kein anderes Land fließt mehr taiwanesisches Kapital.

Im Jahre 1995 erreichte nach Statistiken der Republik China der Handel Taiwans mit dem Festland (hauptsächlich über Hongkong) ein Volumen von 38,25 Milliarden DM. Das sind 17,4 Prozent der taiwanesischen Gesamtexporte jenes Jahres, und so wurde die VR China zum zweitgrößten Handelspartner Taiwans nach den USA. Taiwan ist in zunehmendem Maße vom Festland als Handelspartner abhängig geworden. 1990 beispielsweise betrug Taiwans Außenhandelsüberschuß insgesamt 21,25 Milliarden DM, der Handelsüberschuß gegenüber dem chinesischen Festland belief sich auf 11,9 Milliarden DM. 1995 war Taiwans Außenhandelsüberschuß insgesamt zwar auf 13,8 Milliarden DM zurückgegangen, aber der Überschuß gegenüber der VR China war auf 27,7 Milliarden DM hochgeschnellt. Ohne die VR China wäre Taiwans Handelsbilanz negativ.

Gegen Ende 1995 wurden alle bisherigen Investitionen taiwanesischer Geschäftsleute auf dem Festland auf etwa 50 Milliarden DM geschätzt, mehr als ein Drittel des Brutto-Kapitalabflusses Taiwans und weit mehr als Taiwans Investitionen auf den Philippinen, in Indonesien, Vietnam, Malaysia und Thailand zusammen. Mehr als 30 000 Firmen mit taiwanesischem Kapital haben ihren Sitz auf dem Festland, wo auch etwa 100 000 taiwanesische Geschäftsleute tätig sind. Zwischen 1987 und 1995 gab es 8,5 Millionen Besuche -- zum großen Teil geschäftlich -- von Taiwanesen auf dem Festland, und trotz der Spannungen fuhren 1996 noch 1,57 Millionen Taiwanesen über Hongkong oder Macau aufs Festland.

Diese sich verstärkenden Wirtschaftskontakte konnten die Spannungen zwischen beiden Seiten bisher kaum verringern. Im Gegenteil, die Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland befinden sich seit Sommer 1995 in der schwierigsten Phase, als Beijing nach einem USA-Besuch Präsident Lee Teng-huis im Juni jenes Jahres eine geplante zweite halboffizielle Gesprächsrunde absagte. Seitdem hat die VR China alle bisher offenen Kanäle für halboffizielle Kontakte und Verhandlungen unterbrochen.

Im Sommer 1995 veranstaltete die festlandchinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) zwei Raketentests vor der Nordküste Taiwans und in den folgenden Monaten eine Reihe ausgedehnter Militärmanöver zur Aufrechterhaltung der Drohung, auf Schritte in Richtung einer formalen Unabhängigkeit Taiwans mit militärischen Mitteln zu reagieren. Zusätzlich ließ Beijing eine Serie persönlicher Angriffe gegen Präsident Lee Teng-hui wegen seiner "Verbrechen der Spaltung der Nation" vom Stapel. Kurz vor Taiwans freien Präsidentschaftswahlen am 23. März 1996 zog die VBA 150 000 Mann zu Übungen mit scharfer Munition in der Küstenprovinz Fujian gegenüber der Insel Taiwan zusammen. Dazu kamen weitere Raketentests in der Nähe von Taiwans zwei größten Seehäfen -- die ausgedehntesten Manöver der VR China in der Taiwanstraße seit vierzig Jahren.

Trotz Nachlassen der Spannungen sind die halboffiziellen Gespräche zwischen den beiden Seiten bisher noch nicht wieder aufgenommen worden. Taiwans Politiker stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, aus dem Dilemma der Beziehungen zum Festland herauskommen, das aus der wirtschaftlichen Annäherung und dem politischen Auseinanderdriften Taiwans und des Festlandes besteht. Welches sind die treibenden Kräfte bei den bilateralen Beziehungen? Welche politischen Optionen hat Taiwan gegenüber dem Festland?

Seit den frühen achtziger Jahren haben die Republik China und die VR China auf politischen wie wirtschaftlichen Ebenen strategisch miteinander zu tun gehabt. Politisch versuchte Beijing, jede Möglichkeit einer Unabhängigkeit Taiwans auszuschließen und der Insel mit der Formel "ein Land, zwei Systeme" das eigene Modell zur Staatsbildung aufzuoktroyieren. Taiwans Konzept besteht in der Anfechtung des internationalen Souveränitätsanspruchs der VR China über die Republik China. Sowohl Taiwan als auch das Festland möchten das zunehmende Ausmaß und das Tempo der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen unter ihrer eigenen Kontrolle behalten, haben aber beide keinen Einfluß auf die Folgen ihrer Politik im Wirtschaftsbereich.

Bei beiden Regierungen haben die größeren politischen Ziele prinzipiell vor wirtschaftlichen Vorteilen Vorrang. Die Regierung in Beijing fördert die Beschleunigung und Normalisierung des wirtschaftlichen Austauschs über die Taiwanstraße, weil sie damit durch stärkere gegenseitige Abhängigkeiten einen politischen Alleingang Taipeis in dem Zwist über die Souveränität und insbesondere eine Unabhängigkeit Taiwans zu verhindern hofft. Die Regierung in Taipei wiederum will eine Lösung nach dem Hongkonger Modell auf jeden Fall ausschließen, weil sie durch eine volle ökonomische Verschmelzung mit dem Festland die eigene politische Autonomie gefährdet sieht. Daher versucht Taipei die expansiven Wirtschaftsaktivitäten seiner Geschäftsleute auf dem Festland zu reglementieren und nimmt je nach Grad der Feindseligkeit der VR China gegenüber Taiwan Anpassungen vor.

Verhandlungen zwischen beiden Seiten auf Regierungsebene stehen noch aus. Eine Zeitlang herrschte eine stillschweigende Einigkeit im Souveränitätsstreit, nachdem Beijing im Jahre 1979 zum chinesischen Neujahrsfest ein erstes Angebot für eine "friedliche Wiedervereinigung" unterbreitet hatte. In den folgenden Jahren sollte eine Reihe von Einzelvorschlägen, die Tai wan vorgeblich eine hohes Maß politischer Eigenständigkeit und Autonomie nach dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" garantierten, diese Angebote attraktiver machen. Beijing versuchte in dieser Phase unablässig, Taipei zu Gesprächen auf hoher Ebene an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die Führung der VR China betonte, daß man über alles reden könne, einschließlich Taipeis Status in der internationalen Gemeinschaft, wenn das Ein-China-Prinzip respektiert würde -- womit Beijing meint, Taiwan sei ein untrennbarer Teil der VR China.

Während der ganzen achtziger Jahre wies Taipei die Vorschläge aus Beijing immer wieder zurück. Die innenpolitischen Reformen waren drängender. Taiwans unsichere internationale Position wurde immer stärker von den kompromißlosen politischen Manövern der VR China bedroht, die auf die Unterbrechung der diplomatischen Kontakte der Republik China mit anderen Ländern und die Vertreibung Taipeis aus internationalen Organisationen abzielte.

Seit den frühen neunziger Jahren hingegen hat die Demokratisierung in Taiwan den Wunsch zum Ausbruch aus der gegenwärtigen Lage bestärkt, die von denen, die fest mit einer zukünftigen Wiedervereinigung rechnen, aber eine Anwendung der Formel "ein Land, zwei Systeme" auf Taiwan befürchten, als unbefriedigend betrachtet wird. Außerdem bietet der Status Quo den Taiwanesen keinen internationalen Schutz gegen den Versuch der VR China, die Insel mit Gewalt zu erobern, wogegen Beijing sich dazu verleitet sehen könnte, Kritik aus dem Ausland oder die Drohung einer ausländischen Interven tion zu ignorieren.

Während der neunziger Jahre versuchte die Führung der Republik China die VR China von den Vorteilen der Koexistenz zu überzeugen und zu einer Akzeptierung des Modells einer geteilten Nation wie beim geteilten Deutschland vor 1990 zu bewegen. Zum Beweis seiner Aufrichtigkeit machte Taipei mehrere Gesten des guten Willens. Die Regierung der Republik China stellte offiziell alle feindseligen Handlungen gegenüber der VR China ein: Übergelaufene Jetpiloten der VBA erhielten beispielsweise keine Belohnungen mehr. Die Republik China erkannte die politische Teilung Chinas nach Ende des Zweiten Weltkrieges als Tatsache an und gab 1991 seinen Vertretungsanspruch für das Festland auf. In einem kühnen Schritt signalisierte Taipei dann seine Bereitschaft zur Zulassung einer parallelen Vertretung, das heißt die Akzeptierung einer gleichzeitigen diplomatischen Anerkennung der Republik China und der VR China durch andere Länder. Taipei stimmte auch der Einrichtung halboffizieller Kanäle für einen politischen Dialog über die Taiwanstraße hinweg zur leichteren Lösung praktischer Fragen, etwa Leistung klarerer Garantien für Investoren und Beilegung von Arbeitsverwaltungsstreitigkeiten, in beiderseitigem Inter esse zu.

Um Beijing das Modell einer geteilten Nation schmackhaft zu machen, versprach die Regierung in Taipei die Zulassung normaler bilateraler Wirtschaftskontakte und Kulturbeziehungen durch die Aufhebung des Verbots der "drei direkten Kontakte" (Postverkehr, Transport, Handel) über die Taiwanstraße. Sie bot auch ein großzügiges Entwicklungshilfe-Paket an und bekundete ihr Interesse an direkten politischen Verhandlungen auf hoher Ebene. Allerdings stellte Taipei auch für Beijing unannehmbare Vorbedingungen: eine Gewaltverzichtserklärung der VR China gegenüber Taiwan, ausreichend Bewegungsfreiheit in internationalen Angelegenheiten, und die Anerkennung der Republik China als gleichberechtigte politische Einheit.

Niemand war überrascht, daß Beijing auf Taipeis Vorschläge nicht einging und seine Ablehnung jeglicher Abweichung von seiner Interpretation des Ein-China-Begriffes bekräftigte. Die VR China nahm auch weiterhin für sich das Recht in Anspruch, im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans oder eines ausländischen Eingreifens in Chinas Wiedervereinigungsprozeß Gewalt anzuwenden. Auch verstärkte die VR China ihre Bemühungen zur diplomatischen Isolierung der Republik China. Immerhin gründete das Regime in Beijing eine halboffizielle Organisation, die Vereinigung für Beziehungen beiderseits der Taiwanstraße (Association for Relations across the Taiwan Straits, ARATS), als Pendant zur Stiftung Austausch beiderseits der Taiwanstraße (Straits Exchange Foundation, SEF) der Republik China. Der dahinterstehende Gedanke war vermutlich, daß halboffizielle Gespräche zwischen den beiden Organisationen in Sachfragen schrittweise zu politischen Verhandlungen auf höherer Ebene erweitert werden könnten.

Der Stillstand des Dialoges an diesem Punkt kam nicht aus heiterem Himmel, denn die Wahrung der Souveränität eines Staates ist immer ein zentraler Punkt. Beide Seiten versuchten, die eigene Verhandlungsposition zu stärken und die gegnerische Position zu schwächen, und hofften jeweils auf ein Einlenken des Gegners.

Beijings Strategie gegenüber Taiwan wurde bisher wohl am prägnantesten von Qian Qichen bei einem Treffen von Funktionären für Taiwanfragen im Dezember 1993 umrissen. Qian ist Außenminister der VR China, außerdem Vizepremier und Stellvertretender Leiter der Führungseinheit für Taiwanfragen beim Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Ein Bericht dieses Treffens enthüllte eine dreiteilige Regierungsstrategie: "Taiwan diplomatisch isolieren, militärisch einschüchtern und wirtschaftlich gängeln." Häufige militärische Übungen mit amphibischen Landetruppen gegenüber von Taiwan waren deutliche Warnsignale der festlandchinesischen Machthaber. Die VR China verwendet einen zunehmenden Anteil ihres Verteidigungshaushaltes zum Ausbau ihrer Abschreckungsfähigkeiten, darunter auch zum Erwerb von modernen Kampfflugzeugen und U-Booten.

Am auffallendsten ist jedoch, daß Beijing seine Anstrengungen zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Austauschs verstärkt hat. Nach den Worten Li Pengs während des sechsten Plenums des VII. Nationalen Volkskongresses im April 1993 ist das Hauptziel der VR China die Förderung der Drei Kontakte durch wirtschaftlichen Austausch, weil Erfolge in diesem Bereich einen Durchbruch bei der Wiedervereinigung Chinas unter der Formel "ein Land, zwei Systeme" bedeuten würden. Beijing macht aus den politischen Zielen seiner Handels- und Investitionspolitik gegenüber Taiwan keinen Hehl. In offiziellen Dokumenten wird dazu aufgerufen, "die Politik durch die Wirtschaft voranzutreiben und die Regierung [Taiwans] durch die Menschen zu beeinflussen". Im besonderen wird Beijing nicht müde zu verkünden, daß Taiwans Nein zu direktem Handel und direkten Luft- und Seeverbindungen politisch sinnlos und wirtschaftlich schädlich sei.

Die Führung der Republik China konzentriert sich ihrerseits auf innenpolitische und internationale Angelegenheiten. Mit ihrer wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung konnte Taipei den Erfolg verbuchen, daß Beijing sein Ziel der Aufrechterhaltung Taiwans internationaler Isolation verfehlt hat oder die schrittweise Verbesserung seiner Außenbeziehungen nicht aufhalten kann. 1991 wurde Taipei zusammen mit Beijing und Hongkong zu dem ersten regionalen Wirtschaftsberatungsgremium auf Ministerialebene -- dem Asian-Pacific Economic Cooperation Forum (APEC) -- zugelassen und konnte auch einen Vertreter sowohl zu dem halboffiziellen Gipfel in Seattle 1993 als auch zum Gipfel in Jakarta 1994 entsenden. Im Winter 1993/94 setzte Präsident Lee Teng-hui auch seine sogenannte "Reisediplomatie" fort und stattete den Philippinen, Indonesien und Thailand inoffizielle Besuche ab.

Taipeis gegenwärtige Festlandpolitikoptionen wurden nachhaltig von einigen wichtigen Ereignissen der letzten drei Jahre beeinflußt. Zuerst wurde im Januar 1995 in der Bekanntmachung von Jiang Zemins Entwurf seiner Acht-Punkte -Politik die Möglichkeit politischer Zugeständnisse bei der internationalen Beteiligung Taiwans angedeutet, falls Taipei Verhandlungen zustimmte. Taipei sollte mit dieser Initiative die Chance zur Revision seiner politischen Strategie gegenüber dem Festland gegeben werden.

Die Regierung der Republik China betrachtete Jiangs Acht-Punkte-Vorschlag hingegen als Teil eines Manövers zu seiner persönlichen Machtsicherung für die Zeit nach Deng Xiaopings Tod. Da Jiang Zemin von vielen Menschen in Taiwan als ein mäßigendes Element in der Führung der VR China betrachtet wird, wollte Taipei den Vorschlag aber auch nicht einfach ungeprüft zurückweisen. Im April 1995 antwortete Lee Teng-hui daher auf Jiangs Initiative mit einem halbherzigen Sechs -Punkte-Plan. Darin wies Lee den Vorschlag des Präsidenten der VR China zu einem Gipfeltreffen nicht zurück, forderte jedoch, daß ein solches Treffen bei einem " internationalen Ereignis" stattfinden müsse. Diese Erwiderung aus Taipei sollte eine versöhnliche Atmosphäre schaffen und die Beziehungen beiderseits der Taiwanstraße wieder auf eine Ebene konstruktiven Engagements heben.

Taipei verfolgte nun eine Doppelstrategie. Die Lobbyarbeit in den Vereinigten Staaten wurde verstärkt, damit Präsident Lee Teng-hui für seine Reise zur Cornell-University im Juni 1995 ein Visum erhalten konnte. Gleichzeitig erklärte man sich zu Gesprächen in Beijing bereit und schlug eine jährliche Veranstaltung solcher Gespräche auch mit politischen Themen vor. Im Mai 1995 stellte Taipei auch offiziell seinen Plan für die Öffnung eines Schiffskorridors vor und milderte damit sein Nein zu den Drei Kontakten. Diese Maßnahmen sollten Beijing zur Übernahme von Taiwans Standpunkt bewegen, daß die Verbesserung der bilateralen Beziehungen nicht im Widerspruch zu Taiwans Fortsetzung seiner pragmatischen Diplomatie stände. Daraus wurde aber nichts.

Sowohl Taipei als auch Washington waren von der Heftigkeit der Reaktion Beijings auf die Zustimmung des Weißen Hauses für Lees US-Visum völlig überrascht. Offenbar waren die Herrschenden in Beijing nicht nur deswegen in Rage, weil sie auf die Entscheidung der US-Regierung nicht vorbereitet waren, sondern auch, weil sie sich damit in ihrem schon seit längerer Zeit gehegten Verdacht bestätigt sahen, Präsident Lee habe einen geheimen Fahrplan für die Unabhängigkeit Taiwans und die USA betrieben eine verdeckte Politik zur Eindämmung der VR China.

Beijing führte daraufhin Ende Juli 1995 eine Woche lang Raketentests vor der Nordküste Taiwans durch, um den Vereinigten Staaten, Japan und der Regierung in Taipei die drastischen Folgen jedes Schrittes in Richtung einer Unabhängigkeit Taiwans unter die Nase zu reiben. Den Raketentests folgten giftige Angriffe offizieller Presseorgane der VR China auf Lee Teng-hui, die offensichtlich seine Wiederwahl vereiteln sollten. Ende August startete die VBA dann eine zweite Runde von Raketentests unweit einer von Taiwan verwalteten Insel vor der Festlandküste.

An dieser Stelle steckte Taipei zurück und signalisierte seinen Willen zur Wiederherstellung der beschädigten Beziehungen zum Festland. In einem Interview mit der New York Times im Oktober 1995 erklärte Lee Teng-hui, daß er zu einem Treffen mit Jiang Zemin "bei jeder Gelegenheit" bereit wäre. Während des Wahlkampfes wiederholte Lee seine Bereitschaft zur Aufnahme politischer Verhandlungen mit dem Festland nach den Wahlen. Beijing verstärkte jedoch seine militärischen Drohgebärden bis zum Wahltag. Die Übungen mit scharfer Munition konnten den Elan der Wahlkampagne Lees aber nicht bremsen, und Lee errang bei den direkten Wahlen eine überzeugende Mehrheit von 54 Prozent über drei Gegenkandidaten.

Die erfolgreich durchgeführten Präsidentschaftswahlen -- und die Entsendung zweier US-amerikanischer Flugzeugträger -Kampfverbände in internationale Gewässer nahe Taiwan -- rückten die Insel zwar für eine Zeitlang in den Mittelpunkt des Weltinteresses, diplomatisches Kapital konnte sie daraus aber nicht schlagen. Im Gegenteil, nach der offiziellen Amtseinführung im Mai 1996 wurden mit zunehmendem Druck im In- und Ausland von Lee Teng-hui größere und ernsthaftere Bemühungen zur Verringerung der Spannungen in der Taiwanstraße und Verbesserung der beschädigten Beziehungen zu Beijing verlangt. Zudem verstärkte Beijing seine Anstrengungen, Taiwan den Zugang zu internationalen Organisationen zu verbauen und Taipeis restliche diplomatische Kontakte zu kappen.

Die Lobbyarbeit der VR China trug im Jahr 1996 die ersten Früchte. Zwei wichtige Gremien, nämlich das Regionalforum der ASEAN (Association of South East Asian Nations = Vereinigung südostasiatischer Nationen) und die Asien-Europa -Konferenz (Asia-Europe Meeting, ASEM) erließen Teilnahmebedingungen, die die Republik China von einer Beteiligung ausschlossen. Im November 1996 kündigte Südafrika das Ende der diplomatischen Beziehungen mit der Republik China für das folgende Jahr an. Kurz darauf ging die Forderung hoher Offiziere der VBA nach einer Modernisierung ihres Potentials für hochtechnologische Kriegsführung durch die Medien. Die VBA legte eine lange Wunschliste für Angriffswaffen einschließlich satellitengesteuerter Marschflugkörper und Flugzeugträger zur Vorbereitung eines zukünftigen militärischen Schlagabtauschs in der Taiwanstraße vor.

Trotz versöhnlicher Passagen in Lees Rede zum Amtsantritt am 20. Mai 1996, darunter eine Anmerkung zu Jiangs Gesprächsangebot zur Beendigung der Feindschaft zwischen beiden Seiten, lehnte Beijing eine Wiederaufnahme bilateraler Gespräche ab und wiederholte statt dessen seine Vorbedingungen für die Wiedereröffnung der Kommunikations- und Verhandlungskanäle: Taipei müsse zuerst verbindlich die Interpretation der VR China zum Ein-China-Konzept übernehmen, die pragmatische Staatschef-Diplomatie beenden und sein Streben nach UN-Mitgliedschaft aufgeben.

Diese Vorbedingungen wurden von Taipei zwar ausnahmslos offiziell zurückgewiesen, es verstärkte sich jedoch auch das Bewußtsein, daß die gefährliche Entwicklung der Beziehungen zum Festland aufgehalten werden und man Maßnahmen ergreifen müsse, damit die Taiwanfrage nicht den Konservativen und Falken in Beijings Führungsriege und Armee in die Hände spielte. Innenpolitisch war die Gelegenheit für eine Neuordnung der Festlandpolitik günstig, denn der Wahlsieg gab Lee mehr Spielraum für Kurskorrekturen.

Die Regierung der Republik China hat ihr strategisches Kalkül offensichtlich überprüft und bildet sich nicht mehr ein, die Aufhebung des Neins zu direkten Kontakten für größere politische Zugeständnisse Beijings einhandeln zu können. Taipei kann jetzt nur hoffen, daß mit einem schrittweisen Abbau der vorhandenen Beschränkungen das Eis in der Taiwanstraße aufgetaut werden kann.

Für eine vollständige Bewertung der Folgen der Krise vom März 1996 ist es jetzt noch zu früh. Es gibt aber Grund zu der Annahme, daß beide Seiten daraus gelernt haben und so die Beziehungen über die Taiwanstraße wenigstens kurz- oder mittelfristig stabilisiert werden können. Durch diese Auseinandersetzung haben alle Seiten -- einschließlich Japan und die USA -- ein besseres Gefühl für die grundsätzlichen Standpunkte aller Beteiligten bekommen und können nun die Risiken jeder eigenmächtigen Veränderung des Status Quo besser einschätzen.

In Taiwan trug die Krise zu einer stärkeren Annäherung der konkurrierenden politischen Kräfte bei: Die Unabhängigkeitsbewegung Taiwans erhielt einen Dämpfer, und die allgemeinen Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft in der UNO kühlten sich merklich ab. Außerdem näherten sich beide Oppositionsparteien, die DPP (Democratic Progressive Party) und die New Party, der Mitte an. Gleichzeitig hat der Wahlsieg Lee Teng-huis im großen und ganzen wohl den mäßigenden Stimmen in Beijings Führung Auftrieb gegeben.

In naher Zukunft ist für die Regierung in Beijing keine politisch akzeptable militärische Lösung der sogenannten Tai wan-Frage in Sicht. Eine militärische Operation der VR China gegen Taiwan könnte viele unangenehme Folgen haben: eine Rückkehr des Kalten Krieges in Ostasien; die Verhängung langfristiger Wirtschaftssanktionen durch den Westen und damit ein Ende der Wirtschaftsentwicklung der VR China; eine formelle Unabhängigkeitserklärung Taiwans; eine Wiederaufrüstung Japans; möglicherweise hohe Militärausgaben für die VR China sowie ein unkalkulierbares politisches Risiko für die gegenwärtige Oligarchie der VR China.

Taiwans langfristige Zukunft sieht allerdings weniger rosig aus. Taipei steht vor der schwierigen Aufgabe, einen Ausgleich zwischen seinen kollidierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen zu finden. Wenn keine neuen Beschränkungen eingeführt werden, so wird das Festland nach der Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong an die VR China am 1. Juli dieses Jahres bei Anhalten der gegenwärtigen Exporttrends höchstwahrscheinlich der größte Exportmarkt der Insel werden. Ebenso darf man annehmen, daß nach einer Aufnahme der VR China in die Welthandelsorganisation ( World Trade Organization, WTO) Handel und Investitionen der Insel in eine noch bedenklichere Schieflage geraten.

Ein gleichermaßen kompliziertes Unterfangen wird es für Taiwan sein, Beijings tiefes Mißtrauen über den angeblichen geheimen Fahrplan zu einer möglichen Unabhängigkeit zu zerstreuen und damit die Hoffnungen der VR China auf eine friedliche Wiedervereinigung ganz Chinas aufrechtzuerhalten. Schwierig wird auch die Festigung einer eigenen Identität in der Weltgemeinschaft, denn je nachdrücklicher Taipei seinen internationalen Status verbessern will und seine Streitkräfte modernisiert, desto mehr wird Beijing die Regierung in Taipei einer zunehmenden und "nicht-offiziellen" Drift in Richtung Unabhängigkeit verdächtigen. Wenn sich Argwohn und Feindseligkeit verdichten, entfernen sich beide Seiten immer weiter von der Möglichkeit einer Verhandlungslösung. Ein ungebremstes Anhalten dieses Trends könnte dann in zehn bis fünfzehn Jahren in einer kriegerischen Auseinandersetzung eskalieren.

(Deutsch von Tilman Aretz)


Chu Yun-han(朱雲漢) ist Professor für
Politikwissenschaft an der National
Taiwan University und Programmdirektor
am Institut für Nationale Politikforschung,
einer bekannten Denkfabrik in Taipei.
Dieser Artikel wurde einer Abhandlung
entnommen, die bei einer Tagung der
Gesellschaft für Asienstudien
(Association for Asian Studies) im
März 1997 in Chicago vorgelegt wurde.

Copyright 1997 by Chu Yun-han.

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