Der Wind nimmt zu und übertönt schon fast das Gebrüll der Besatzung, die die Luken dichtmacht und die Takelage festzurrt. Unter Deck entringen die Dunkelheit und der ohrenbetäubende Lärm von Wind und Wellen den Passagieren die ersten Gebete. Zuerst nur ein Murmeln, dann finden die Stoßgebete einzelner zueinander und werden zu einem vereinten Flehen um eine sichere Überfahrt. Die Adressatin der Gebete blieb über Jahrhunderte hinweg die gleiche: Matsu(媽祖), die Meeresgöttin und Schutzpatronin der Seefahrer.
Es gibt viel Seemannsgarn von Schiffern und Fischern, die mit knapper Not dem Tod durch Ertrinken entronnen waren und berichteten, wie vor ihren Augen die Göttin erschienen sei und die Schiffbrüchigen gerettet habe, indem sie die Wogen besänftigte oder einen schützenden Schleier über ihr Boot warf. Dem vergötterten Mädchen aus dem 10. Jahrhundert wurde erstmals in Tempeln der südchinesischen Küstenregion gehuldigt, und ihr Mythos verbreitete sich allmählich über alle südostasiatischen Meere. In Taiwan wurde sie bereits im 15. Jahrhundert verehrt, als sich die ersten Einwanderer aus der Provinz Fujian zur Besiedlung der reichen Küstenebenen im Westen der Insel mit ihren Booten aufs Meer der Taiwanstraße gewagt hatten.
Die Einzelheiten von Matsus Leben sind zwar durch ein Dickicht einander widersprechender Legenden überwuchert, aber fast alle Aussagen stimmen in diesen Punkten überein: Matsu kam im Jahre 960 zum Beginn der Sung-Dynastie (960 -1279) auf der Insel Meizhou vor der Küste der Provinz Fujian zur Welt. Sie war ein außergewöhnliches Mädchen, entsagte schon in jungen Jahren dem Fleischgenuß und entschied sich für ein Leben in Keuschheit. Als sie 16 Jahre alt war, entdeckte man ihre übernatürlichen Fähigkeiten. Einmal sah sie in einem Traum, wie ihr Vater und zwei Brüder mit ihrem Fischerboot untergingen. Sie konnte ihren Vater und einen ihrer Brüder retten, wachte aber auf, bevor sie den zweiten Bruder hatte retten können. Später erfuhr sie, daß einer ihrer Brüder ertrunken sei, ihr Vater und der andere Bruder aber wie durch ein Wunder überlebt hätten.
Im Alter von 28 Jahren starb Matsu. Ihr Ruf verbreitete sich jedoch stetig, als immer mehr Seeleute ihr Eingreifen in Gefahrensituationen bezeugten. Chinesische Fischer und Händler bauten in jedem regelmäßig von ihnen angelaufenen Hafen einen Tempel für sie, und die Einwanderer, die die Überfahrt über die Taiwanstraße wohlbehalten überstanden hatten, errichteten voller Dankbarkeit in den ältesten Häfen Taiwans Tempel, die heute von den etwa vierhundert Matsu-Tempeln auf der Insel am meisten verehrt werden.
Den ältesten Matsu-Tempel Taiwans findet man auf den Pescadoren (Penghu), einer Inselgruppe zwischen Taiwan und dem Festland. Auf Penghu und seinen Nachbarinseln gibt es insgesamt über 140 Tempel, aber der wichtigste von ihnen ist der Matsu-Tempel, der dort "Tienhou-Tempel" genannt wird. Er wurde während der Frühphase der Ming-Dynastie (1368-1644) errichtet und ist damit das älteste religiöse Gebäude Taiwans. Zum Gedächtnis an einen Sieg der chinesischen Flotte über die Japaner 1563 wurde der Tempel erstmals erweitert. Als die Armee der Ming einen weiteren Sieg über die Japaner errang, wurde er 1592 abermals erweitert und renoviert, und noch einmal 1624 nach der Vertreibung der holländischen Besetzer aus Penghu.
1683 besiegten Admiral Shih Lang(施琅) und seine Mandschu-Truppen bei einem vernichtenden Angriff auf Penghu die letzten verbliebenen Ming-Loyalisten, die noch gegen die neuen Herrscher der Qing-Dynastie (1644-1911) Widerstand leisteten. Nach der Schlacht notierte der Admiral in seinem Bericht an den Kaiser, daß seine Soldaten während der Seeschlacht göttliche Hilfe und Schutz erhalten hätten. Als er an Land ging und zum Zeichen der Ehrerbietung das Gebäude betrat, das sich als Matsu-Tempel herausstellen sollte, seien das Gewand und das Antlitz der Göttin noch naß von Schweiß gewesen ein Beweis für ihren Beistand. Im folgenden Jahr erhielt Matsu durch Kaiserlichen Beschluß den Rang einer Tienhou(天后), "Himmelskönigin". Diese offizielle Anerkennung ihres religiösen Status hat die Bedeutung der Matsu-Tempel in den Augen ihrer Verehrer noch erhöht.
Einer der ältesten Häfen Taiwans war Peikang an der Westküste (bei Chiayi). Fast gleichzeitig mit dem Bau ihrer Wohnhäuser begannen die Siedler dort mit dem Bau eines Matsu-Tempels. Der Ursprung des Tempels läßt sich bis zu der Ankunft einer buddhistischen Nonne im Jahre 1694 zurückverfolgen, die aus einem Tempel in ihrer Heimatstadt Meizhou eine Figur der Göttin mitgebracht hatte. Für die Statue wurde zunächst nur ein kleiner und unscheinbarer Unterstand errichtet, aber Größe und dekorative Pracht des Tempels nahmen in dem Maß zu, in dem die Stadt wuchs. Nach drei Jahrhunderten voller Umbau und Renovierungen ist der Tempel heute einer der am pompösten verzierten Tempel in Taiwan. Er wird auch "Chaotien"-Tempel genannt und ist Schauplatz der aufwendigsten Feierlichkeiten ganz Taiwans für Matsus Geburtstag, der am 23. Tag des dritten Mondkalendermonats begangen wird (dieses Jahr am 29. April).
Der Chaotien-Tempel in Peikang gilt als der wichtigste Matsu-Tempel der Insel. Jedes Frühjahr reisen zu den Geburtstagsfeierlichkeiten Hunderttausende von Gläubigen per Bus, Auto oder auch zu Fuß an, um der Göttin ihre Reverenz zu erweisen. Beispielsweise marschieren jedes Jahr Tausende von dem nördlicheren Städtchen Tachia (zwischen Taichung und Miaoli) mehr als 100 Kilometer nach Peikang und machen während der einwöchigen Wanderung an sechzehn verschiedenen Matsu-Tempeln Station.
Diesen Pilgern geht es allerdings nicht nur um Matsus Geburtstag. Den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein tragen Gläubige von der ganzen Insel in Gruppen ihre Altar- und Tempelstatuen herbei, um der Götterstatue im Chaotien-Tempel ihre Aufwartung zu machen -- eine wichtiges Ritual, das alle Matsu-Tempel miteinander verbindet und auf der Straße von dichten Räucherwerkschwaden und dem Geknatter von Knallkörpern untermalt wird.
Diese Verbindung aller Matsu-Tempel Taiwans miteinander erfolgt durch ein Ritual mit der Bezeichnung fen-hsiang, "Verteilen des Weihrauchs". Wenn ein neues Götterbild mehr als nur ein geschnitztes Stück Holz sein soll, dann muß es nach einer frühen Tempeltradition seine "Energie" von älteren, anerkannten Abbildern Matsus erwerben. Dazu trägt man das neue Abbild durch den Qualm von Räucherwerk, das in dem Räuchergefäß einer anerkannten Statue verbrannt wird.
Ursprünglich wurden Matsu-Bilder in alten Matsu-Tempeln auf dem chinesischen Festland -- besonders in Meizhou -- geweiht, bevor sie nach Taiwan geschafft und in den neuen Tempeln aufgestellt wurden. Oft wurde auch Glut und Asche aus Räuchergefäßen vom Festland auf die Insel transportiert. Von Zeit zu Zeit begaben sich Pilgergruppen aus Taiwan zu den älteren Tempeln, um ihre Heiligenstatuen dem Rauch des Heimattempels auszusetzen und so ihre spirituelle Kraft zu erneuern.
Durch diese rituelle Verteilung des Weihrauches und dazugehörende Zeremonien können der neue Tempel und seine Heiligenbildnisse an der Kraft und der Identität des alten Tempels teilhaben, und so hat sich der Matsu-Kult im Lauf der Jahrhunderte in "Generationen" von Statuen und Tempeln verbreitet, die sich alle auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lassen. Wenn die Bewohner Taiwans mit der Tradition des fen-hsiang-Rituals zur Erneuerung der Bande zwischen den Matsu -Tempeln der Insel brächen, dann würden sie sich auch von einer gemeinsamen spirituellen Geschichte abwenden. Um die durch die jährlichen Wallfahrten hergestellte Sozialgemeinschaft zwischen Taiwans Gemeinden wäre es dann auch geschehen.
Zwar wohnt Matsus Geist angeblich in jedem ihrer Abbilder, die Wirkkraft dieser Abbilder ist jedoch unterschiedlich stark. Die Gläubigen schreiben gewöhnlich den älteren Statuen eine größere Kraft zu als jüngeren. Da es für die Gläubigen vor allem auf die "Essenz" von Matsus Kraft ankommt, müssen sie eine Statue besuchen, die möglichst wenig durch Verbreiten ihrer Wirkkraft geschwächt wurde und die durch die meisten vollbrachten Wunder die größte Authentizität besitzt.
Die Tradition der Besuche bei alten Tempeln auf dem Festland konnte wegen des jahrzehntelangen Reiseverbots zum Festland bis zur Entspannung der bilateralen politischen Beziehungen Ende der achtziger Jahre nicht aufrechterhalten werden. Folglich war das Pilgernetzwerk in jener Zeit nicht mehr als ein Torso des früher weit ausgedehnteren Systems. Als Pilgerziele haben die ältesten Matsu-Tempel Taiwans, besonders der Chaotien-Tempel in Peikang, deshalb erheblich an Bedeutung gewonnen.
Heutzutage reisen die meisten Wallfahrer in gemieteten Bussen nach Peikang. Auf der ganzen Insel werden dazu in Dörfern, Städtchen und großstädtischen Gegenden von Tempeln und religiösen Vereinigungen Gruppen organisiert. Nach ihrer Ankunft setzen sie die Tradition der rituellen Erneuerung ihrer mitgebrachten Matsu-Statuen fort und tragen sie durch den Rauch, der aus den Räucherbecken im Chaotien-Tempel quillt.
Während der Pilgerzeit um Matsus Geburtstag herum bevölkern diese Pilgergruppen die Straßen um den Tempel und versuchen einander mit Darbietungen zur Ehre der Göttin zu übertreffen. Wenn die Straßen sich dann mit Zuschauern füllen, trägt jede Gruppe stolz ihre Statue voran, die auf einer kunstvoll geschnitzten Sänfte thront und von Schamanen in Trance, farbenprächtigen Tanztruppen, Kapellen und dem pausenlosen Geknatter von Chinakrachern begleitet wird.
Der verschwenderische Pomp und die Ausgelassenheit der Matsu-Geburtstagsfeiern in Peikang haben das Fest zu einer großen Touristenattraktion gemacht. Die Atmosphäre in den Straßen um den Chaotien-Tempel ist so intensiv wie beim Karneval. Von kunstvoll geschmückten Festwagen winken kostümierte Kinder, riesige Bildnisse der Götter werden durch die Menge getragen, und fliegende Händler bieten leckere Festtagsspezialitäten und Schalen dampfender Nudeln sowie andere Snacks feil. Im Innenhof des Tempels führen Schausteller Kampfsport-Kunststücke, Löwentänze und Szenen aus chinesischen Opern vor. Diese Darbietungen werden immer wieder vom Dröhnen der Trommeln, Gongs und dem Widerhall der langen Knallfroschketten auf den Straßen der Stadt übertönt.
Man darf sich fragen, wieso Matsu in Taiwan trotz der Modernisierung weiterhin so populär ist. Fischerei und Schiffahrt sind zwar nach wie vor wichtige Wirtschaftszweige, aber es müssen sich nicht mehr so viele Bürger direkt auf tückische Wasser wagen.
Die Antwort auf diese Frage liegt zum Teil in der historischen, kulturellen und sozialen Dimension der Matsu-Tempel. Matsu gilt nicht nur als Beschützerin von Individuen, sondern spielt auch eine wichtige Rolle in Taiwans Gesellschaftsstruktur. Mehr noch als vielleicht jedes andere religiöse Symbol wurde Matsu durch die gemeinsamen Erfahrungen der Siedler der Insel auch zu einem Symbol der einheimischen Kulturidentität der Taiwanesen. Die persönliche Lebensgeschichte der Matsu ist für die Pilger bei ihrer alljährlichen Fahrt mit den andächtigen Zwischenstopps weniger relevant als die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren, die als Pioniere nach Taiwan kamen. Wenn die taiwanesischen Gläubigen der Göttin ihre Reverenz erweisen, ehren sie damit auch gleichzeitig ihre Ahnen, die in den letzten Jahrhunderten die Taiwanstraße überquerten.
Dieses Gefühl der gemeinsamen Erfahrung darf auch im heutigen Taiwan nicht unterschätzt werden. "Wolkentor", eine international bekannte moderne Tanztruppe aus Taipei, erregte mit der Inszenierung und Aufführung des Stücks Vermächtnis Aufsehen. Das Stück ist eine lebhafte und fesselnde Tanzdarstellung der Gefahren für die frühen Einwanderer, als sie das Meer überquerten und ihr neues Leben auf der Insel aufbauten. Die Verehrung für Matsu kann auch als Mittel verstanden werden, mit dem die jüngeren Generationen ihre persönlichen Bindungen an Taiwans Geschichte stärken können.
Wegen ihrer Beliebtheit wurde Matsu auch in viele andere Tempel aufgenommen. In chinesischen Tempeln ist es durchaus üblich, eine Reihe von Gottheiten anderer Kulte oder gar anderer Religionen unterzubringen, daher kann man Matsu in vielen Nischen und Alkoven in Tausenden von Tempeln und Schreinen auf der ganzen Insel finden. In dem berühmten Lungshan -Tempel in Taipei hat Matsu einen Ehrenplatz im Innenhof, direkt hinter der Hauptgottheit des Tempels.
Die Matsu-Tempel haben auch die gleiche kulturelle Bedeutung wie alle anderen Tempel in Taiwan. Jeder Bau, ob groß oder klein, ist eine Fundgrube chinesischer Kultur. Die Tempeldekorationen aus Stein, Holz, Stoff und Keramik haben geschichtliche, literarische und mythologische Inhalte. Die jahrhundertelangen kulturellen Überlieferungen sind auf den Säulen, Wänden und Decken eingeschnitzt und aufgemalt. Kalligraphien künden von vergangenen Helden und heutigen Wohltätern. Steingravuren ermahnen zu ethischem Streben und warnen vor unmoralischem Verhalten. Fliegende Drachen und Phönixe auf den Dachfirsten, in Wände eingravierte historische Schlachten, symbolische Vögel und Blumen als Verzierung von Pfeilersockeln -- das alles bildet zusammen einen chinesischen Pantheon und bietet ein Panorama chinesischer Kulturerfahrung.
In den Tempeln haben die Helden aus Geschichte, Literatur, Sagen und Philosophie eine gemeinsame Heimstatt gefunden. Sowohl in den Matsu-Tempeln als auch in den meisten anderen teilen sich viele Göttinnen und Götter die Altäre. Mit ihren zahlreichen Anspielungen auf Geschichte und Kultur halten die Tempel bei jeder Besinnung auf Matsu die reiche chinesische Vergangenheit lebendig.
Für die meisten Bewohner Taiwans ist Matsu die Göttin schlechthin, aber sie ist auch das Bindeglied zum größeren Pantheon der himmlischen Geister, Gottheiten und Ahnen, die eindeutig chinesisch sind. Ihre Verehrung ist daher eine Bekräftigung Taiwans einzigartiger Geschichte und seiner Kontinuität in der chinesischen Kultur.