Eine etwas längere Fassung dieses Artikels wurde ursprünglich als vierteilige Serie in der chinesischsprachigen Tageszeitung China Times veröffentlicht und dann von Michelle Wu für die diesjährige Sommerausgabe der literarischen Vierteljahreszeitschrift The Chinese Pen ins Englische übersetzt.

Extreme Freiheit, extremes Chaos...
Taipei -- wie soll man diese Stadt beschreiben? Steht man auf dem Balkon an der Rückseite des Hauses und schaut sich um, blickt man geradewegs in die mit Eisengittern gegen Einbrecher gesicherten Fenster des Nachbarhauses. Schnipsel des echten Lebens geraten ins Blickfeld wie fallendes Herbstlaub. In den Küchen der benachbarten Wohnungen surren die Dunstabzugshauben und saugen Dampf und Qualm aus heißen Woks ab. Zwei Meter weiter hängt Unterwäsche zum Trocknen an einer Bambusstange und bewegt sich leicht im Wind. Hier brodelt und pulsiert das Leben, das Geräusch von brutzelndem Knoblauch und Schalotten mischt sich mit dem Gekeife einer Mutter, die ihr Kind ausschimpft. Ja, hier auf dem Balkon merkt man sofort, wo man sich befindet -- das ist Taipei.
Taipei -- wie soll man diese Stadt beschreiben? Gehen Sie nach draußen. Im Treppenhaus des Mietshauses sind die Wände mit Werbesprüchen besprüht: Klempner gefällig? Möchten Sie eine undichte Stelle reparieren lassen? Muß Ihr Wassertank gereinigt werden? Umzugsservice unter der Telefonnummer...
Beim Schlendern durch die engen Gassen muß man Blumentöpfen, kaputten Stühlen, Eisenketten und anderem Gerümpel ausweichen, mit dem am Straßenrand wertvoller Parkraum blockiert wird. So stecken die Leute ihr Gebiet ab, damit auch ja niemand auf "ihrem" Boden parkt. An den Garagentoren drohen Warnschilder mit der Aufschrift "Privat, Einfahrt freihalten, oder sonst gibt's einen Platten". Werbezettel sind unter die Scheibenwischer der parkenden Autos geklemmt, und fast alle Reifen sind mit Hundepisse markiert. In der Innenstadt von Taipei wird wirklich nicht ein Quadratzentimeter Raum verschwendet.
Die Seitensträßchen und Gäßchen geben der Stadt eine besondere Struktur und sind untrennbar mit der Lebensart der Städter verbunden. Die Gehwege sind mit unzähligen roten Bodenplatten gepflastert, und die Fußgänger müssen oft wie beim Himmel-und-Hölle-Spiel über diese Platten hüpfen, zwei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links, um nicht auf die losen Platten zu treten und sich die Schuhe mit Dreckwasser zu beschmutzen.
Taipei -- wie soll man diese Stadt beschreiben? Da sind die zur Straße offenen Ladenarkaden. Diese architektonische Eigenheit findet man oft in Taipei, eine einzigartige Bauweise, die Passanten und Kunden vor Regen und sengender Sonne schützt. Heute sind diese Durchgänge aber meistens hoffnungslos mit parkenden Mopeds vollgestopft, und auf den öffentlichen Fernsprechern liegen oft leere Getränkedosen.
Die öffentlichen Telefone in den Arkaden dienen Teenagern oft als private Treffpunkte. Sie kommen mit ihren Mopeds angebraust und rufen wie Cowboys auf dem Pferd mit laufendem Motor die Nummer an, die in ihrem piepsenden Pager aufblinkt. Wenn sie für einen Anruf am öffentlichen Fernsprecher Zwischenstation machen, hocken sie sich einfach hin und blockieren manchmal stundenlang die Leitung.
Taipei -- wie soll man diese Stadt beschreiben? Die Teenager kauern sich zum Schnacken am öffentlichen Fernsprecher auf den Boden. Polizisten schlürfen gern in Dreier- bis Fünfer-Grüppchen gemütlich etwas Tee, als ob sie alle Zeit der Welt dafür hätten. Politische Talk-Shows im Radio waren eine Zeitlang besonders bei Taxifahrern beliebt, vor allem solche Sendungen, bei denen die Hörer anrufen konnten.
Die Kassierer in den kleinen Supermärkten halten die großen Geldscheine zur Überprüfung der Echtheit mißtrauisch gegen das Licht, und man fragt sich, wo sie das bloß gelernt haben. Auffallend ist auch, daß die Banken in den letzten Jahren dazu übergegangen sind, Bargeld in gepanzerten Fahrzeugen zu transportieren.
Am zweiten und sechzehnten Tag des Mondkalendermonats stellen die Ladeninhaber Opfertische mit Speisen und Kerzen auf den Gehwegen am Straßenrand auf, und für die Götter und Geister wird haufenweise "Geistergeld" aus Papier verbrannt. Diese Feuer sind ein faszinierender Anblick in Taipei.
Viele Leute tragen buddhistische Kettchen am Handgelenk.
In fast allen Restaurants gibt es nur Einweg-Eßstäbchen. Tag für Tag landen Millionen verbrauchter Bambus-Eßstäbchen auf Taipeis Müllkippen.
Wenn eine Tankstelle mal einen Tag geschlossen ist, wird sie gleich mit Taxis vollgeparkt. Am nächsten Morgen holen sich die Chauffeure als erstes ihre Taxen, bevor die Tankstelle wieder öffnet.
Taipei -- wie soll man diese Stadt beschreiben? Die Stadt ist sowohl groß als auch klein -- je nachdem. Die Entfernung zwischen der Kunming Street im Westen der Stadt und dem Welthandelszentrum im Osten beträgt keine sechs Kilometer, aber je nach Verkehrslage kann das manchmal über eine Stunde Fahrt bedeuten. Vom Stadtteil Tienmu im Norden bis zum Nachtmarkt Kungkuan im Süden sind es etwas über zehn Kilometer, doch zu mitternächtlicher Stunde schafft ein Taxi die Strecke in sieben Minuten. Taipei -- eine Stadt voller Wunder.
Moderne Bürogebäude säumen die Straßen. Hoch stehen sie da und stolz, als ob sie einander übertreffen wollten. Aber um die Ecke lugen mitunter kleine Tempel und Schreine aus dem Erdgeschoß, dem ersten oder gar zweiten Obergeschoß eines Mietshauses hervor. Taipei -- eine Stadt für die Menschen.
Viele Neuankömmlinge halten Taipei für eine der häßlichsten Städte dieses Planeten. Nun ja, es ist eine moderne Stadt, der es jedoch an Harmonie, eleganten Gebäuden, historischen Stätten und Grünanlagen fehlt. Schwebeteilchen wabern in der Luft, und der Lärmpegel ist fast überall nervtötend hoch. Die Menschen in dieser Stadt sind hingegen nicht hektisch. Keine obdachlosen Landstreicher trüben das Bild, und es gibt weder Slums noch gesetzlose, gefährliche Ecken. Die Stadt ist nicht gerade schön, aber ihre Bewohner sind ansprechend.
Weil draußen alles von einer Staubschicht bedeckt ist, halten die Menschen ihre Wohnstätten blitzsauber, und beim Betreten einer Wohnung zieht man die Schuhe aus. Sauberkeitsfimmel kann man das wiederum aber auch nicht nennen. Manche Leute -- nicht allzu viele -- schützen ihre Atemwege mit Atemschutzmasken. Überall streunen herrenlose Straßenhunde durch die Stadt, stören die Bewohner aber nicht in dem Maße, daß sie sie ausrotten wollten. Auf den ersten Blick wirkt die Stadt überfüllt und chaotisch, aber es drehen kaum Leute durch.
Die Geldscheine in den Taschen der Städter sind vielleicht nicht mehr ganz so taufrisch und knisternd wie die Scheine in japanischen Portemonnaies, aber zu den deprimierend schmutzigen und abgegriffenen Banknoten in den Taschen der chinesischen Landsleute auf dem Festland ist es noch ein himmelweiter Unterschied. Im Vergleich mit anderen Weltstädten lassen Taipeis öffentliche Verkehrsmittel einiges zu wünschen übrig, aber die Bewohner haben sich soweit damit arrangiert und erreichen ihre Fahrtziele in der Regel ohne viel Gezeter.
In keiner anderen Stadt gibt es so viele Kleinhandwerker, die Zweitschlüssel anfertigen -- verlieren die Bürger von Taipei etwa besonders oft ihre Schlüssel? Auch die Zahl der Brautkleidboutiquen und Studios für Hochzeitsfotos ist frappierend -- sind die Leute alle wild aufs Heiraten, oder will man später nur von Zeit zu Zeit die Hochzeitsbilder durchblättern und sich so ins Gedächtnis rufen, wie man in jungen Jahren beim Kentern im Hafen der Ehe aussah? Überall kommt man an Arztpraxen vorbei, besonders Zahnkliniken -- sind die Einwohner Taipeis besonders anfällig für kleinere Wehwehchen und Zahnschmerzen? Und die Anzahl der Lädchen zur Anfertigung von Namensstempeln sucht ebenfalls ihresgleichen -- müssen die Leute ständig ihre Identität beweisen?
Die Menschen mit Wohn-Sitz in Taipei wischen sich mit dem reinsten und weichsten Klopapier der Welt ihre Hintern. Recyceltes Toilettenpapier gibt es in der ganzen Stadt nicht.
Ständig sieht man auf den Straßen Leute mit Muße, aber untätig sind die Menschen keineswegs. Auch wenn in Taipei viele Leute nicht arbeiten gehen, so ist doch Arbeitslosigkeit kein Thema. Nur wenige Firmen setzen ihre Beschäftigten vor die Tür. Rentner können problemlos eine Anstellung als Pförtner in Hochhauskomplexen der Stadt finden, und alte Frauen können immer Bambussprossen und Süßkartoffelblätter sammeln und in kleinen Straßenständen verkaufen.
Von allen Großstädten der Welt hat Taipei wahrscheinlich die wenigsten Graffitis. Dabei gibt die Regierung gar nicht viel für die Entfernung solcher Schmierereien aus -- die Leute geben sich einfach nicht mit dem Sprühen von Graffitis ab, weil sie nicht diesen starken Mitteilungsdrang auf öffentlichem Eigentum verspüren. Auch Schmierereien auf Klowänden sieht man in Taipei kaum.
Man lebt in Taipei nicht in einer Gartenstadt, und in der Umgebung gibt es auch wenig Wälder, Gewässer oder landschaftliche Idyllen. Freie Plätze sind in der Stadt dünn gesät. Trotzdem leben und arbeiten die Menschen in Taipei mit Vergnügen und vermögen sich am Anblick einer Maulbeerblüte mit Tautropfen wie Schneekönige zu freuen.
Geräusche und Gerüche
Die quietschenden Bremsen der Omnibusse; die brummenden Motoren der Mopeds; die rauschende Klospülung in der Wohnung ein Stockwerk tiefer; der mobile Händler, der seine Ware lautsprecherverstärkt feilbietet; blechern klingende Tonbandansagen, die einem jedesmal beim Passieren einer Lichtschranke eines kleinen Supermarktes ins Ohr gequäkt werden; das Rasseln und Knirschen der Stahlrolladen zum Ladenschluß; eine schrille Unterhaltung am Tisch nebenan unter eifriger Benutzung eines Mobiltelefons; das Plätschern von Wasser vom Balkon weiter oben, wenn der Nachbar seine Pflanzen gießt; die dröhnende Musik aus dem offenen Fenster eines Taxis; das entnervend monotone Piepen der Elektrowecker auf den Nachtmärkten; das Donnern der startenden und landenden Flugzeuge auf dem Flughafen für Inlandsflüge im Osten der Stadt; das allgegenwärtige Saxophongesäusel in den Cafés und Teehäusern... die Einwohner Taipeis lieben diese Geräuschkulisse vielleicht nicht gerade, sie stört sie aber auch nicht weiter -- man nimmt es hin.
Nun zu den Gerüchen. Wer an einem Restaurant vorbeigeht, wird immer in eine Wolke aus Fritieröl eingehüllt. In Theatern steigt einem das Aroma von Brathähnchen in die Nase, das jemand in der Nähe verzehrt. Beim Verlassen des Theaters defiliert man dann durch den Qualm siedenden Öls aus dem Kessel des Brathähnchenhändlers.
Die Türen der Video-Spielhöllen gehen immer wieder automatisch auf und zu und entlassen so in Intervallen ein Brodem aus kalter Klimaanlagenluft und abgestandenem blauen Dunst ins Freie.
Bei einer Fahrt in einem Taxi wird das Riechorgan oft von einem penetranten Knoblauchgeruch bedrängt, woraus man schließen kann, daß der Fahrer kurz vorher eine Mahlzeit eingenommen hat.
In Taipei gibt es Millionen fest verschlossener Wohnungen und somit Millionen eigener Geruchswelten. Sie schließen die Haustür auf, betreten die Wohnung, Tür zu, und schon sind Sie auch olfaktorisch daheim und in Sicherheit. Jeder hält seine Haustür geschlossen und bewahrt so die eigenen Gerüche, die ein Teil der Stadt sind.
Halten Sie das bloß nicht für unzivilisiert. Die Hochschätzung von Ruhe und Frieden liegt eben in der menschlichen Natur. Doch bevor Ruhe und Frieden erlangt sind, verzehren sich Taipeis Einwohner nicht in Sorge. Sie sind vielmehr sehr praktisch.
Wie wirkt Taipei auf aufmerksame Neuankömmlinge? Betelnußpackungen und Feuerzeuge sind mit Bildern nackter Frauenzimmer bedruckt. Teure ausländische Luxuslimousinen gleiten über Straßen voller Schlaglöcher. Die Flachdächer der Hochhäuser sind fast ausnahmlos mit illegalen wackligen Schuppen zugebaut. Die Hochhäuser selber sind meistens supermodern mit Stahl, Glas und Beton, doch die Verschläge auf den Dächern bestehen aus Asbestplatten und rostendem Wellblech. Fliegende Händler ohne Gewerbeschein verhökern ihre Waren und verduften wie ein geölter Blitz, sobald die Bullen auftauchen. Kaum sind die Gesetzeshüter verschwunden, sind auch die Händler wieder da. Überall gibt es Absteigen, die als Liebesnester benutzt werden. Die Neonlichter der Freizeitcenter und Saunen erhellen die Nacht, und Video-Spielhöllen für verbotenes Glücksspiel sprießen wie Pilze aus dem Boden. Ein gebildeter Außenstehender braucht nur einen einzigen Blick auf Taipei zu werfen und kann sich dann sein Teil denken, was für eine Stadt das ist. Er sollte in der Lage sein zu spüren, daß Taipei von einem großen Geheimnis in Bewegung gehalten wird.

Süchtig nach Taipei
Wieso bleiben Taipeis Einwohner in der Stadt und machen sich nicht statt dessen einfach aus dem Staub?
Sie bleiben, weil sie dort zum Frühstück gebackene Fladen und knusprig gebratene Teigwaren mit Sojamilch oder Reisbrei und eingelegtes Gemüse oder Nudelsuppe mit Fischklößchen schmausen können. Abends kann man über die Nachtmärkte bummeln, nach Lust und Laune immer und überall kleine Leckerbissen bekommen, in Karaoke-Bars schmachtende Lieder trällern, sich mit Kumpels bis zum Anschlag vollaufen lassen und sich prima amüsieren.
Sie bleiben, um beim Mahjongg zu zocken. Sie bleiben, um Betel zu kauen.
Die Jugendlichen rasen auf ihren Mopeds durch die Gegend. Die Müllwagen und Taxis scheren sich nicht um rote Ampeln. In den Parks gönnen sich die Alten auf eigens dafür angelegten Fußwegen mit großen, glatten, runden Kieselsteinen barfuß eine therapeutische Fußmassage. Für die fliegenden Autowäscher findet sich am Straßenrand überall ein Wasserhahn, der ihnen ihr Gewerbe ermöglicht. Parlamentarier und Ausschußmitglieder verschaffen sich bei Sitzungen und Ausschußtreffen lautstark Gehör, teilweise mit Hilfe der Fäuste oder geworfener Tassen.
Wieso bleiben Taipeis Einwohner in der Stadt? Sie bleiben, weil sie dort mit den Nachbarn auf der Gasse einen Plausch halten können. Vor einer Reise erledigt das Reisebüro den ganzen Papierkram, per Anruf kann man sich eine volle Gasflasche fünf Treppen hoch liefern lassen, und mittags kann man sich drei oder vier Lunchpackungen ins Büro bestellen.
Manchmal kann man sich mit ein paar Freunden sogar eine Woche frei nehmen und zum Meditieren in ein Zen-Kloster fahren.
Besonders in den letzten Jahren konnte es leicht passieren, daß man in einem Restaurant in eine politische Diskussion mit einem völlig Fremden verwickelt wurde. Es kommt vor, daß sich frühmorgens zwei alte Männer im Park begegnen und ihre Ansichten über die "Neue Partei" austauschen, und manchmal vergessen sie dabei sogar ihre Übungen im traditionellen chinesischen Schattenboxen. Künstler und Schriftsteller können sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Kneipen treffen. Teen ager können Videospielen frönen und in Pachinko-Glücksspielhallen dumpf die Nachtzeit vertreiben. Jederzeit kann man Freunde anrufen und sich zu einem Treffen verabreden, ohne sich über eine Verletzung ihrer Privatsphäre Sorgen machen zu müssen.
Man kann den Menschen wirklich nahe kommen und braucht keine Einsamkeit, Entfremdung, Isolation oder unerträgliche Distanz zu fürchten.
Oder sind die Leute nach so langen Jahren der Gewöhnung von dem Krach, Streit, Zwielicht und dem Tempo abhängig und brauchen das einfach?
Taipei ist eine Stadt der Menschen. In dieser Stadt legen die Menschen Wert auf Gegenseitigkeit, und man muß seine Talente mit den anderen teilen, sonst hat niemand etwas davon.
Gegenseitigkeit steht hier über dem Gesetz.
Abendessen in Taipei
Wenn es einen Grund dafür gibt, daß die Einwohner Taipeis nirgendwo sonst leben können, so muß es das Essen sein. In Taipei ist es nie ein Problem, etwas zwischen die Zähne zu bekommen -- man kann jederzeit und allerorts essen, was immer man will. Menschen aller Schichten sind in den Restaurants gern gesehene Gäste, und fast nirgendwo wird eine strenge Kleiderordnung mit Schlips und Kragen vorgeschrieben. Anders als in Paris oder New York müssen die Gäste selbst in Weltklasse-Restaurants nicht ein halbes Jahr im voraus reservieren. Ein solches Getue können die Menschen in Taipei sowieso nicht begreifen, weil man ihrer Meinung nach um eine gute Mahlzeit nicht so ein Theater veranstalten sollte. Das ist eben so.
Was speist man denn so in Taipei? Als Zwischenmahlzeit locken etwa Tempura, Reisnudelsuppe, Gebratener Stinktofu oder einfach Nudeln oder Reis mit kleiner Beilage. Mittags greift man zur Lunchpackung. Auch an einfacher Kost können sich die Leute delektieren. Beim Gedanken an Reis aus Osttaiwan, hartgekochte halbe Eier in Sojasauce, knackig gebratene Rippchen und pikant eingelegten Rettich läuft den taiwanesischen Studenten im Ausland das Wasser im Munde zusammen. Auch wenn die Lunchpackung nicht mehr ganz heiß ist, schmeckt das Essen doch immer noch gut.
In Taipei kann man in Spitzenrestaurants ebenso schlichte wie schmackhafte Gerichte wie Dampfnudeln, gebratenen Reis mit Garnelen, scharfe Suppe mit Essig oder Reisknödel in Bambusblättern verzehren, aber die Stadtbewohner verschmähen auch nicht die kleinen Imbißbuden am Straßenrand, wo Nudeln, gekochtes Gemüse, Schalen mit Leberscheibchen und anderen gegrillten Innereien kredenzt werden.
Was sich die Menschen in Taipei zum Munde führen, ist für sie wichtiger als die Dekoration.
Ein einziger Blick auf die traditionellen chinesischen Märkte offenbart, daß die Menschen in Taipei trotz voller Terminkalender und wenig Freizeit daheim ihre Freude am Essen noch nicht verloren haben. Die große Auswahl an Obst und Gemüse belegt den Wohlstand der Insel. Aus Europa und den USA heimkehrende Chinesen entdecken auf den Märkten Gemüsesorten, deren Existenz sie völlig vergessen hatten, zum Beispiel Winterbambussprossen, Lotuswurzeln, Wasserkastanien und exotische Pflanzen wie Bergamotte, Große Klette und Chinesische Süßkartoffel.
Wenn's ums Essen geht, können alteingesessene Bewohner der Stadt mitunter aber auch sehr wählerisch werden. Essen bedeutet ihnen alles, und sie kompensieren damit die Unerquicklichkeiten, die sie im Laufe der Jahre in Taipei hatten schlucken müssen.
Früher war Taipei eine Brutstätte für Hepatitis. Die Stadtbewohner sind mittlerweile auch für die Gefahren der Luftverschmutzung, des sauren Regens, Gifte in der Nahrung und Wasserverschmutzung sensibilisiert. Dieses Umdenken beeinflußte auch die Eßgewohnheiten.
Als erstes verschwand der künstliche Geschmacksverstärker Monosodium-Glutamat (MSG) aus den Küchen. In den privaten Haushalten wird heute viel weniger mit MSG gekocht als früher, und von meinen Freunden verwendet es keiner mehr.
Auch Gesundheits-Nahrung erfreut sich wachsender Beliebtheit. Zwar essen nur wenige Leute ausschließlich natürliche Nahrungsmittel und Vollwertkost oder Lebensmittel mit einer anti-kanzerogenen Wirkung. Dafür pflanzen viele ihre eigenen Bohnensprossen, Luzernensprossen oder Weizengras an und machen sich ihren Joghurt selbst. Die vegetarischen Restaurants sind endlich mündig geworden.

Stadt der Glücksritter, Kapitale des Geldes
Taipei ist keine prächtige Stadt. Wenn ein Fotograf schöne Bilder von Taipei machen will, ist das kein leichtes Unterfangen. Die Erscheinung der Stadt hat denn auch ihre Wirkung auf die Sicht-Weise ihrer Bewohner. Die Schulkinder achten mit ihren Augen nicht mehr so auf die äußere Erscheinung der Stadt -- statt dessen lesen sie, sehen fern oder kleben an den Bildschirmen der Videospiele. Viele haben eine Brille auf der Nase.
Taipei hat sich der Arbeit und nicht der Unterhaltung verschrieben.
Die Erscheinung Taipeis wird auch durch die Zirkulation und den Gebrauch von Geld geprägt.
Der durchschnittliche Bürger der Stadt verdient monatlich 20 000 bis 30 000 NT$ (1250 bis 1875 DM), schafft es aber fast immer, die vier bis fünf Millionen NT$ (250 000 bis 310 000 DM) für eine Eigentumswohnung aufzutreiben. Das ist eins der vielen Mysterien Taipeis, so interessant wie wichtig.
Beamte und Volksvertreter müssen ihre Vermögen offenlegen, und viele sind Grundbesitzer. Allerdings, Grundbesitz, Sie haben richtig gelesen! Taiwan ist eine kleine Insel, aber trotzdem gibt es immer noch genügend Leute, die etwas von dem knappen Grund und Boden Taiwans ihr Eigen nennen können.
Taipei ist die Hauptstadt des Geldes.
Die Einwohner Taipeis scheinen besonders telefonierfreudig zu sein. In der Stadt werden 280 000 Mobiltelefone herumgetragen, eines je neun Einwohner, und es gibt 380 000 Pager. Dabei kostet ein Ortsgespräch in einer öffentlichen Telefonzelle nicht mehr als einen NT$, das sind umgerechnet knapp vier amerikanische Cents, 27 Hongkong-Pence, vier japanische Yen, 40 österreichische Groschen, 5 schweizer Rappen oder gut sechs Pfennige. Für den Preis einer Fahrt im öffentlichen Omnibus kann man 15 Ortsgespräche führen.
Es gibt 16 000 öffentliche Fernsprecher, also ungefähr eins je 160 Einwohner. Man kann im Prinzip immer und überall telefonieren: Wenn der nächste öffentliche Fernsprecher besetzt ist, geht man einfach ins nächste Restaurant und benutzt dort das Münztelefon.
In Taipei ist Information und nicht Realität der Treibstoff für die Menschen.
Reisen in Taipei
Was soll man sich in Taipei anschauen? Kein einzelner Fleck in Taipei ist ausschließlich eine reine Touristenattraktion und nichts anderes.
Wenn man Taipei wirklich sehen will, muß das Bild durch mehr Details ergänzt werden. Die Leute verbringen ihre Tage in den Seitenstraßen und Gassen: Dort sammeln sich die vielen Jahre der Erinnerungen an.
Beim Lustwandeln auf der Wenchou Street fiel mein Blick auf eine Haustür, die mit Denkspruchtafeln folgenden Inhalts flankiert war: "Immer denke ich an meine Heimat 3000 Meilen überm Meer und lebe hier seit fünfzig Jahren mit geliehener Zeit." Dieses Frühjahr wurde ein neues Spruchpaar aufgehängt: "Ich lachte über die Welt und wurde des Hochmuts bezichtigt, wie kann ich mich dem Lauf der Welt, der die Herzen entzweibricht, entgegenstellen?" Sehr interessant. Ohne auf die tiefere Botschaft des Autors hinter diesen Versen eingehen zu wollen, bedeutet es schon eine Menge, daß Verspaare wie diese zu beiden Seiten von Eingangstüren in kleinen Nebenstraßen überhaupt da sind, und es macht Spaß, sie zu lesen.
In den alten Seitenstraßen und Gäßchen kann man viele kuriose Dinge entdecken. Außer den da und dort noch vorhandenen alten japanischen Häusern sieht man in manchen Gärten tropische Brotfruchtbäume mit gigantischen Wurzeln und riesigen Blättern. Wer Taipei in seiner echten Ursprünglichkeit sehen möchte, der gehe in die Chinchiang Street und sehe sich bei Hausnummer 17 den alten Baum an. Und an der Kreuzung zur Roosevelt Road ist die Tungan Street so schmal wie noch vor vielen Jahren: Es passen gerade mal zwei Leute nebeneinander hindurch.
Gebrauchtbuchläden wie in alter Zeit kann man noch in der Kuling Street besichtigen, wo ein paar Geschäfte dieser Art überlebt haben. Man sollte sich die Zeit nehmen und sich die Straße zu ihrer Blütezeit vorstellen, als sie noch auf beiden Seiten mit solchen Läden gesäumt war.
An einem Abschnitt der Kuangchou Street nahe der Poai Road stehen noch einige im westlichen Baustil erbaute Villen mit Gärten.
Bis zum heutigen Tag ist noch kein annehmbarer Reiseführer über Taipei geschrieben worden. Bis zum heutigen Tag hat noch kein Dokumentarfilm die gesamte Entwicklung der Stadt nachgezeichnet. Strenggenommen gibt es seit vierzig oder fünfzig Jahren keinen brauchbaren Stadtplan von Taipei mehr, nur ein Straßenverzeichnis. Die Bürger der Stadt finden sich jedoch auch ohne Karte oder Plan in den Straßen und Gassen des Molochs zurecht.
Wieso gibt es eigentlich keinen guten Stadtplan von Taipei? Beruht dieses Versäumnis auf Sicherheitserwägungen? Soll Einbrechern die Arbeit erschwert werden? Oder gilt es, Armut und Häßlichkeit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu verbannen? Keine Ahnung. Ist etwa kein Kartograph in der Lage, eine Karte von Taipei zu zeichnen? Brauchen die Bürger der Stadt denn keine genaue Karte? Keine Ahnung.
Bei der Orientierung in Taipeis Bezirken, Abschnitten, Seitenstraßen und Gäßchen verlassen sich die Alteingesessenen auf ihr Gedächtnis und benutzen keinen Plan. Aber wie finden sich die Briefträger zurecht? Wie kommen die Pizzaboten ans Ziel? Was macht die Polizei, wenn sie einen Notruf erhält?
Das Fehlen eines Stadtplans hat aber auch einen Vorteil: Es gibt mehr Geheimtips in Taipei.
Taipei -- eine Stadt im Wandel
Taipeis Geschichte ist hochinteressant.
Der Geschichte kann man in Taipei aber oft nicht so leicht auf die Spur kommen, weil die Einwohner ihre Stadt perma nent modernisieren. Fast nirgendwo auf der Welt verbreiteten sich digitale Medien und moderne Unterhaltungselektronik so schnell wie in Taipei.
In den späten sechziger Jahren wurde ein Schwarzweiß-Film mit dem Titel "Goodbye Taipei" gedreht. Alle Dialoge sind im taiwanesischen Dialekt. Taipei wird in dem Film als eine Stadt dargestellt, die nach den Verwüstungen des Krieges mit neuen Mietshäusern auf Streifen gelber Erde oder grauen Zements wiederaufgebaut wurde. Die Szenen erinnern stark an den Architekturstil in italienischen Filmen aus der Periode des Neuen Realismus. Doch dieser Film entstand im Jahre 1969. War Taipei damals denn so rückständig?
Dazu muß man wissen: Taipei erwuchs aus der Wildnis. Vor vierzig Jahren war die Stadt keine Stadt, sondern ein von Bewässerungskanälen durchzogenes Dorf, mit Reisfeldern und Bambushainen voller Entenmist, quakenden Fröschen und wucherndem Unkraut. Gleichzeitig war Taipei aber auch eine Stadt, in der man in einen Bus springen und sich 25 Minuten später im Kino den Film "Un condamné à mort s'est échappé" (1956) von dem französischen Regisseur Robert Bresson ansehen konnte.
Einerseits sind die Bewohner Taipeis waschechte Städter, auf der anderen Seite sind sie in gewisser Weise auch Bauerntrottel, denn Taipei ist eine "ländliche Stadt" oder "städtisches Land".
In den letzten vierzig Jahren haben die Bewohner der Stadt zahllose Veränderungen und Wiedergeburten miterlebt. Wie glücklich ist man in Taipei im Vergleich mit den Europäern in ihren historischen Städten, in denen sich seit hundert oder gar zweihundert Jahren so gut wie gar nichts verändert hat!
In Taipei trotzen die Städtebauer der Natur Land ab und legen Flüsse, Abwasserkanäle und Teiche trocken. Man kann es sich leicht vorstellen, daß beinahe jede krumme Straße in Taipei früher ein Wasserweg war. Diese alten gewundenen Straßen folgten einfach dem natürlichen Flußverlauf und wurden später nicht begradigt. Daß Taipei früher eine von Wasser umgebene Stadt gewesen ist, mag man heute kaum noch glauben. Aber es war wirklich so und ist noch gar nicht einmal so lange her -- nur etwa dreißig Jahre.
Taipei verändert sich ununterbrochen.
Anfangs waren alle Kakerlaken in Taipei riesig. In den letzten zehn Jahren krabbelten dann aber immer mehr kleine Kakerlaken herum. Vielleicht wurden sie mit Frachtern und Lastern nach Taipei eingeschleppt. Es ist jedenfalls interessant, daß es in Taipei so viele eingeführte Dinge gibt.
Auf den Märkten sieht man immer mehr philippinische Hausmädchen. Bauarbeiter, Englischlehrer, Leute in Kneipen und Discos, ja sogar die Straßenmusiker in den Fußgängertunnels kommen oft aus anderen Ländern und Kontinenten.
Die jungen Leute sind heute alle hochgewachsen und kräftig und werden normalerweise größer als ihre Altersgenossen in Hongkong, Singapur und Vietnam. Einmal bin ich gegen Schulschluß mit dem Omnibus gefahren. Als zehn oder zwanzig Mittelschüler in den Bus drängten, war plötzlich die Deckenbeleuchtung im Bus verdeckt.
Taipei verändert sich ununterbrochen.
Seit ein paar Jahren sieht man immer mehr frühreife junge "Nymphchen" in Taipei. Die jungen Mädchen ziehen in Gruppen durch die Gegend, reden einander mit Spitznamen an, schultern kleine Designer-Rucksäcke, rauchen Mentholzigaretten, tragen schwarze Klamotten und Stiefel und streifen bis spät in der Nacht durch die Straßen im glitzernden Ostbezirk.
An der Kreuzung von Linsen South Road und Roosevelt Road kann man eine von Taipeis Kuriositäten bestaunen. Ein großer Baum wächst mitten in einem Haus durch zwei Etagen hindurch. Baum und Haus stehen schon seit Jahrzehnten da und wurden erstmals vor zwanzig Jahren in den Zeitungen beschrieben. Wir reden zwar gelegentlich über diesen Baum, denken aber nie weiter darüber nach. War denn nun der Baum zuerst da und wurde das Haus darum herumgebaut? Oder stand der Baum ursprünglich ein Stückchen von dem Haus weg, wuchs dann aber später hinein und ist nun ein untrennbarer Teil davon? Und -- ganz interessante Frage -- wieso hat man den Baum nicht einfach gefällt? Normalerweise schützen die Leute in Taipei lieber ein Haus als einen Baum.
Das ist ein besonderes Taipei-Phänomen, ein Symbol für Taipei. Das Leben des Baumes, seine Entstehung oder ob ein Baum in einem Haus wachsen darf, das interessiert niemanden. Es kommt darauf an, daß er da ist, seit Jahrzehnten da ist.
Als ich einmal durch die Straßen wanderte, drückte mir jemand ein Flugblatt in die Hand, einen Ratgeber zum Überleben einer nuklearen Katastrophe. Als letzte Empfehlung stand auf dem Flugblatt: "Wenn Sie aus der Stadt rausfahren, drehen Sie sich unbedingt noch einmal um und werfen Sie einen Blick auf die Stadt hinter Ihnen, denn es wird das letzte Mal sein, daß Sie Taipei zu Gesicht bekommen."
Eigentlich drehe ich mich sowieso schon oft um und betrachte die Stadt hinter mir. Und jedesmal hat sich unmerklich wieder irgend etwas verändert.
Copyright 1996 by Shu Kuo-chih. Kürzung
und Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
von The Chinese Pen.