Auf der Insel Taiwan standen die Führungspositionen für 20 Land- und Stadtkreise zur Disposition. Dazu kam noch je ein Sitz für drei kleinere Inselkreise vor Taiwan: Penghu, Kinmen und Lienchiang -- letzteres ist die Verwaltungsbezeichnung für die Insel Matsu. Nicht gewählt wurde in den Städten Taipei und Kaohsiung, weil diese Städte den Sonderstatus regierungsunmittelbarer Städte haben. Die Wahlen für ihre Oberbürgermeister stehen gleichzeitig mit den Parlamentswahlen im Dezember 1998 an.
Um die insgesamt 23 Sitze bewarben sich 80 Kandidaten, darunter 25 von der Regierungspartei Kuomintang (KMT), 21 von der größten Oppositionspartei, der Demokratischen Progressiven Partei (DPP), sieben von der Neuen Partei (NP), drei von der Taiwan-Unabhängigkeits-Partei (TAIP), einer von der Sozialreform-Partei sowie 23 unabhängige Kandidaten. (Für eine nähere Beschreibung der ersten vier Parteien siehe auch Kasten S. 5-6.)
Wahlberechtigt waren insgesamt 11,8 Millionen Bürger, von denen sich am 29. November 7,78 Millionen, also 65,92 Prozent der Stimmberechtigten, zur Urne begaben. Das Ergebnis war eine schwere Enttäuschung für die KMT: Hatte die Partei 1993 noch 15 der 23 Sitze erobern können, so machten diesmal nur 8 KMT-Kandidaten das Rennen. Erstmals seit der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 blieb die KMT nicht mehr die stärkste Partei und mußte ihre schwerste Niederlage seit 1949 einstecken.
Als klarer Sieger ging die DPP aus den Wahlen hervor. Sie gewann nicht nur in 12 Kreisen, sondern wurde mit 43,32 Prozent der abgegebenen Stimmen auch stärkste Partei vor der KMT (42,12 Prozent). Keine Sitze errangen sowohl die NP (Stimmenanteil 1,42 Prozent) als auch die erst Ende 1996 gegründete TAIP, die mit einem Stimmenanteil von nur 0,19 Prozent außerdem weit hinter ihren eigenen Erwartungen zurückblieb.
Immerhin ist das Wahlergebnis für die beiden großen Parteien nach Prozenten weniger eindeutig als nach der Zahl der errungenen Kreise. Das liegt an dem Wahlsystem bei den Kreiswahlen, das dem Kandidaten mit den meisten Stimmen auch bei einfacher Mehrheit den Sitz sichert: the winner takes it all .
Eigentlich war niemand überrascht, daß die KMT ihr Ergebnis von 1993 nicht verbessern konnte. Überraschend war vielmehr die Schwere der Niederlage. Nach Amtseinführung der neuen Kreisvorstände und Bürgermeister am 20. Dezember 1997 wohnen 71,53 Prozent der Bevölkerung der Republik China auf Taiwan in Kreisen und Städten, die von DPP-Politikern regiert werden. Die KMT vermochte keinen der bevölkerungsreichen Kreise zu gewinnen, sondern nur relativ dünn besiedelte Gebiete wie die Kreise Hualien, Taitung, Yunlin sowie die Inselkreise Penghu, Kinmen und Lienchiang.
Außerordentlich groß war die Enttäuschung in der KMT, daß der als besonders wichtig angesehene Landkreis Taipei -- immerhin die Heimat des Staatspräsidenten der Republik China und Parteivorsitzenden der KMT, Dr. Lee Teng-hui -- trotz großen Wahlkampfaufwandes der DPP nicht wieder abgenommen werden konnte. Nachdem 1994 das Oberbürgermeisteramt der Stadt Taipei an Chen Shui-bian (DPP) ging, ist nun praktisch der ganze Norden Taiwans unter der lokalen Kontrolle der DPP.
In den Tagen nach der Wahl begann in der KMT die Suche nach den Ursachen des Rückschlages. Es ließ sich nicht verleugnen, daß die Niederlage zum Teil auch hausgemacht war, weil die KMT im Kreis Taichung und in der Stadt Tainan jeweils zwei Kandidaten ins Rennen geschickt hatte. Beide Kandidaten bekamen zwar zusammen jeweils mehr Stimmen als der Kandidat der DPP, doch da der DPP-Kandidat von allen Kandidaten die meisten Stimmen erhielt, verlor die KMT dort die Wahlen.
Von der Parteibasis der KMT wurde die Kritik laut, daß der Parteivorstand jeweils Kandidaten ohne Rücksprache mit der Basis ausgewählt hätte, weswegen zuweilen Kandidaten mit weniger guten Gewinnchancen vom Vorstand nominiert worden seien. Das führte dazu, daß Kandidaten mit besseren Chancen, die auf einer eigenen Kandidatur beharrten, aus der KMT ausgestoßen wurden und dann als unabhängige Kandidaten der KMT Stimmen kosteten.
So geschah es auch im Landkreis Taipei. Die KMT hatte Hsieh Shen-shan als offiziellen Kandidaten aufgestellt. Ebenfalls zur Wahl stellte sich Lin Chih-chia, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter. Lin war vor der Wahl aus der KMT ausgetreten, weil die Partei ihm eine Kandidatur unter KMT-Flagge untersagt hatte. Hsieh erhielt bei der Wahl dann 540 000 Stimmen, Lin 150 000 -- doch Sieger wurde der DPP-Kandidat Su Chen-chang mit 570 000 Stimmen. Hätte man sich in der KMT vorher mit Lin geeinigt, hätte die Partei der DPP den prestigeträchtigen Landkreis Taipei vielleicht doch noch entreißen können.
Die bestimmenden Wahlkampfthemen waren innere Sicherheit, Verkehrschaos, Müllbeseitigung und Lebensqualität. In den Monaten vor der Wahl hatte eine Welle spektakulärer Kapitalverbrechen die Insel erschüttert. Viele Wähler trauten der KMT offenbar nicht mehr zu, der zunehmenden Kriminalität Herr zu werden. Das Wahlergebnis trägt somit Protestwahl-Charakter.
Sicher waren manche Wähler auch mit den Verfassungsänderungen des Sommers 1997 unzufrieden. Die Nationalversammlung hatte damals nach turbulenten Debatten unter anderem beschlossen, die Provinzregierung Taiwans drastisch zu verkleinern und die Wahlen des Provinzgouverneurs sowie für die Gemeindevorsteher auszusetzen. Die KMT -- die die Verfassungsänderungen mehrheitlich und mit ausdrücklicher Zustimmung der DPP gestützt hatte -- verlor den Kreis Nantou, wo sich der Sitz der Provinzregierung befindet und viele Beamte der Provinzregierung wohnen, an einen unabhängigen Kandidaten.
Die KMT hatte schon vor den Wahlen wenig Zweifel daran gehabt, daß diese Wahlen für die Zukunft der Partei eine große Rolle spielen würden. Als Reaktion auf die deutliche Niederlage erklärte der KMT-Generalsekretär Wu Po-hsiung seinen Rücktritt. Nachfolger wurde John Chang, von September bis November 1997 Vizepremier der Republik China und vorher Außenminister. Nach seiner Ernennung erklärte der 56jährige Chang, der zwar auf dem Festland geboren wurde, aber auch die Dialekte Taiwanesisch und Hakka beherrscht, er wolle den Kontakt mit der Öffentlichkeit verbessern und sich mehr um Benachteiligte kümmern.
Das Thema "Unabhängigkeit Taiwans" spielte beim Wahlkampf hingegen so gut wie keine Rolle. Die DPP hat in ihrem Parteiprogramm das Ziel einer Unabhängigkeit Taiwans festgeschrieben, im Wahlkampf jedoch dazu geschwiegen. Da die Volksrepublik China im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans wiederholt mit militärischer Gewalt gedroht hat, wurde das Thema unmittelbar nach dem Wahlsieg der DPP wieder aktuell. Es trat aber auch die innerparteiliche Zerstrittenheit der DPP in dieser Frage zutage. Der als gemäßigt geltende Parteivorsitzende Hsu Hsin-liang versuchte die Sorgen mit der Versicherung zu zerstreuen, im Falle eines Wahlsieges der DPP bei den Parlamentswahlen im Dezember 1998 werde eine DPP-Regierung weder eine Unabhängigkeitserklärung abgeben noch eine Volksabstimmung über diese Frage veranstalten. Für seine Äußerungen wurde Hsu heftig von radikalen DPP-Parteimitgliedern kritisiert.
Sehr interessant ist die Reaktion der Volksrepublik China auf das Wahlergebnis. Vor den Wahlen hatten politische Beobachter aus Taiwan gewarnt, ein Wahlsieg der DPP könnte die ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen Tai wan und dem Festland noch weiter beschädigen. Nach den Wahlen spielte Peking den Erfolg der DPP jedoch herunter und maß ihm nur lokale Bedeutung bei, wertete die Niederlage der KMT hingegen als ein "Votum gegen die Unabhängigkeit". Die kommunistische Führung, der das Parteiprogramm der DPP zweifelsohne bekannt sein dürfte, wirft Präsident Lee Teng-hui schon seit langem vor, er verfolge heimlich das Ziel einer Unabhängigkeit Taiwans, daher sei das Wahlergebnis "eine Absage des Volkes an Lees blindes Streben nach Unabhängigkeit". Präsident Lee hat dagegen immer wieder deutlich erklärt, daß die Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland in Demokratie, Freiheit und gerechter Verteilung des Wohlstandes Ziel seiner Politik ist und bleibt.
Die renommierte, in Hongkong herausgegebene englischsprachige Wochenzeitschrift Far Eastern Economic Review kommentierte, daß die Pekinger Führung Präsident Lee wegen angeblicher Unabhängigkeitspläne bisher immer zu schwächen versucht habe und jetzt endlich anfangen müsse, die DPP deren Ziel laut Parteiprogramm die Unabhängigkeit Taiwans ist -- ernst zu nehmen, zumal die Wahltermine für Parlament (1998) und Präsidentschaft (2000) nicht mehr fern seien.
Die maßvolle Reaktion der VR China wurde in Taiwan mit Erleichterung aufgenommen. Sie ist außerdem ein Anzeichen dafür, daß sich Pekings Führung vom Konfrontationskurs der letzten zwei Jahre entfernt und eine Wiederaufnahme des 1995 abgebrochenen Dialoges über die Taiwanstraße in den Bereich des Möglichen rückt.
Das erhofft sich auch die KMT. Eine Verbesserung der Beziehungen mit Festlandchina könnte die zur Zeit niedrigen Popularitätswerte der Partei wieder steigen lassen. Spielraum gäbe es etwa bei der Anerkennung der Hochschuldiplome aus der VR China, wie sie Bildungsminister Wu Jin fordert.
Die Wahlen vom 29. November 1997 haben Taiwans Parteienlandschaft in Bewegung gebracht. Die KMT-Führung hat sich vorgenommen, die innerparteiliche Demokratie zu pflegen, die innerparteiliche Solidarität zu stärken und einen besseren Kontakt mit Parteibasis und Bevölkerung herzustellen. Die DPP steht vor der Aufgabe, die bedrohlich tiefen innerparteilichen Differenzen in verschiedenen Sachfragen zu überwinden und sich -- da sie sich im Vorzimmer der Macht sieht -- über ihr realpolitisches Konzept klarzuwerden. Die NP fühlt sich durch ihr schlechtes Abschneiden nicht entmutigt, weil bei dem Wahlsystem dieser Wahlen auch NP-Anhänger ihre Stimme lieber einem aussichtsreicheren Kandidaten der größeren Parteien gaben. Bei den Parlamentswahlen im Dezember 1998 darf die NP mit einem besseren Ergebnis rechnen.
Das Wählerverhalten, der Verlauf des Wahlkampfes und die Reaktionen der Politiker auf das Wahlergebnis sind ein klarer Beweis dafür, daß die Demokratie in Taiwan festen Fuß gefaßt hat. Im Wahlkampf standen Sachfragen im Vordergrund, und für den taiwanesischen Wähler sind die von den Kandidaten vorgestellten Inhalte ausschlaggebender als die Parteizugehörigkeit. In drei Wahlgebieten erhielten jeweils unabhängige Kandidaten die meisten Stimmen. Die Tatsache, daß unterlegene Kandidaten ohne Umschweife ihre Niederlage eingestanden und sich selbstkritisch nach ihren Versäumnissen fragten, zeigt, daß die Demokratie in Taiwan heute fest verwurzelt ist.
Taiwans politische Parteien
Eine parlamentarische Demokratie ist ohne politische Parteien heutzutage kaum denkbar. Auf Taiwans politischer Bühne spielen vor allem vier Parteien eine Rolle. Freies China stellt sie vor:
Die Kuomintang (KMT) ist die älteste bestehende Partei ganz Chinas. Sie entstand noch während der kaiserlichen Qing-Dynastie (1644-1911) im Jahre 1894 unter dem Namen Tongmenghui ("Revolutionäre Allianz"). Im Jahre 1912 wurde erstmals der Name Kuomintang verwendet, zu Deutsch etwa "Nationale Volkspartei". Bis 1949 war die KMT die regierende Partei auf dem chinesischen Festland und zog sich nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten (1945-1949) nach Taiwan zurück. Unter Chiang Kai-sheks straffer Führung steuerte die Partei einen streng antikommunistischen Kurs mit dem Ziel der Wiedervereinigung mit dem Festland. Nach Chiangs Tod 1975 eingeleitete demokratische Reformen führten zu freien Präsidentschaftswahlen im März 1996, die der KMT-Kandidat Lee Teng-hui im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewann. Bei den Wahlen am 29. November 1997 büßte die KMT -- mit 2 Millionen Mitgliedern die größte Partei Taiwans -- erstmals ihre Stellung als stärkste Partei der Republik China ein, stellt aber nach wie vor den Staatspräsidenten und die Zentralregierung.
Die Demokratische Progressive Partei (DPP) ist die größte Oppositionspartei der Republik China und wurde am 28. September 1986 gegründet. Sie formierte sich aus dem Sammelbecken aller oppositionellen Kräfte Taiwans und wurde nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 legal. Im Gegensatz zur KMT trat die DPP von Anfang an für eine staatliche Unabhängigkeit Taiwans vom chinesischen Festland ein und verankerte dieses Ziel auch in ihrem Parteiprogramm. Mit dem Einzug ins Parlament 1989 und der Eroberung des Oberbürgermeisteramtes der Stadt Taipei 1994 gewann die DPP auf Taiwan immer mehr politischen Einfluß. Angesichts der Möglichkeit eines guten Abschneidens bei den kommenden Parlamentswahlen im Dezember 1998 entbrannte in der DPP jedoch eine Debatte darüber, ob eine von der DPP gebildete Zentralregierung ungeachtet der militärischen Drohungen der VR China ein Referendum über eine Unabhängigkeit Taiwans ansetzen solle oder nicht. Die DPP hat schätzungsweise 90 000 Mitglieder.
Die Neue Partei (NP) bildete sich im August 1993 als Abspaltung von der KMT, nachdem unzufriedene KMT-Mitglieder -- darunter mehrere Parlamentsabgeordnete -- ihrer Partei aus Protest gegen angebliche "undemokratische Praktiken in der KMT" und wegen ideologischer Differenzen die Gefolgschaft gekündigt hatten. Die NP fordert einen verstärkten Kampf gegen Korruption und tritt ebenso wie die KMT nachdrücklich für das Ziel der Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland ein. Die NP zieht vor allem Menschen an, die mit der Regierungspartei KMT unzufrieden sind, aber auch keine Unabhängigkeit Taiwans wollen. Zwar konnte die NP bei den Wahlen am 29. November 1997 keinen der Kreise gewinnen, politische Beobachter trauen der Partei jedoch zu, daß sie bei den nächsten Parlamentswahlen ihren Stimmenanteil deutlich erhöhen kann. Die NP gibt ihre Mitgliederzahl mit knapp 72 000 an.
Die Taiwan-Unabhängigkeitspartei (TAIP) wurde am 10. Dezember 1996 als Abspaltung von der DPP gegründet. Ihre Gründer hatten die DPP mit der Begründung verlassen, die DPP setze sich nicht energisch genug für die Unabhängigkeit Taiwans ein. Die TAIP hat weder einen Sitz im Parlament, noch konnte sie bei den letzten Wahlen einen der Kreise gewinnen, aber trotz eines Stimmenanteils von nur 0,19 Prozent vermochte die TAIP aus der Namenlosigkeit ins Bewußtsein der politisch Interessierten in Taiwan einzudringen.