29.04.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Der Telefonseelsorger Ting Kun-min

01.05.1998
“Sicher halten uns viele Leute für Trottel, weil wir unbezahlt arbeiten, aber ohne Trottel wie uns ware die Gesellschaft noch schlechter dran.”
Die Telefonnummer 505-9595 klingt auf Chinesisch so ähnlich wie "Ich verstehe, hilf mir, hilf mir". Wählt man diese Nummer an einem Samstagabend, so bekommt man möglicherweise Ting Kun -min an die Strippe. Der sechzigjährige Ting ist einer der Ratgeber bei der Telefonseelsorge Taipei, einer gemeinnützigen Organisation, die unglücklichen Anrufern rund um die Uhr Trost und Beistand spendet. Von den anderen Freiwilligen wird der kleine, grauhaarige Brillenträger oft "Bruder Ting" genannt. Beim Erzählen über seine nächtliche Arbeit strahlt er eine große Motivation aus, denn er hält diese Tätigkeit ganz offensichtlich für nicht weniger wichtig als seinen Hauptberuf als Sektionschef im Wasserwerk Taipei. Etwa drei Samstage im Monat macht Ting Nachtdienst bei der Telefonseelsorge.

Vor neunzehn Jahren fiel mein Blick auf eine Zeitungsannonce des Telefonseelsorgeverbandes Taipei, der neue freiwillige Sozialarbeiter suchte. Etwa 800 Leute, darunter ich, meldeten sich für das neunmonatige Schulungsprogramm des Verbandes an. Die Kurse waren aber nicht umsonst, wir mußten die Gebühren aus eigener Tasche bezahlen. Nach ein paar Prüfungen und Gesprächen wurden rund achtzig Leute zur Mitarbeit aufgefordert -- die Zulassungsquote war damit noch niedriger als bei den Aufnahmeprüfungen der Hochschulen. Weil heute mehr Freiwilligenorganisationen für Sozialarbeit existieren, gibt es neben der Telefonseelsorge noch andere Alternativen für Leute, die etwas für die Gesellschaft tun wollen. Deswegen lockte das jüngste unserer einmal jährlich veranstalteten Schulungsprogramme nur noch etwa 200 Leute an.

Nach Abschluß meiner Schulung begann ich als Telefonseelsorger zu arbeiten. Jeder Tag ist in fünf Schichten unterteilt. Wir können uns eine Schicht aussuchen, aber als Freiwilliger muß man monatlich mindestens achtzehn Punkte sammeln. Die vier Schichten am Tag und frühen Abend zählen jeweils aber nur zwei Punkte, die Nachtschicht von halb elf abends bis halb acht morgens dagegen fünf Punkte. Das ist auch sinnvoll, weil die Arbeit in der Nacht anstrengender ist.

Am Anfang arbeitete ich in der Abendschicht von halb sieben bis halb elf. Von meiner regulären Arbeitsstelle ging ich nach Feierabend direkt zum Telefonseelsorge-Verband, manchmal sogar in Eile ohne Abendessen. Nach meiner Beförderung im Wasserwerk Taipei hatte ich dort tagsüber mehr zu tun und konnte die Telefonseelsorge nicht mehr in meinem Tagesablauf unterbringen, daher wechselte ich in die Nachtschicht an Samstagen. Die fehlende Nachtruhe macht mir keine Probleme, denn sonntags kann ich mich gut ausruhen.

In einer normalen Nacht bekomme ich während der neunstündigen Schicht acht Anrufe. Für jeden Fall brauche ich etwa eine Stunde. Wir versuchen die Zeit auf fünfzig bis sechzig Minuten zu begrenzen, damit mehr Menschen in Not zu uns durchkommen können. [Die Telefonseelsorge hat nur eine Leitung, und gleichzeitig haben immer drei Leute Dienst.] Nachts kommen immer viele Anrufe, und oft klingelt das Telefon unmittelbar, nachdem ich aufgelegt habe. Tagsüber ist aber nicht so viel los. Das halte ich für normal, weil die Leute wegen ihrer großen Probleme nachts nicht schlafen können, während sie uns tagsüber wegen Kleinigkeiten anrufen, die schnell erledigt sind. Der Service des Verbandes beschränkt sich nicht nur auf Leute mit Selbstmordabsichten.

Die nächtlichen Anrufe sind in der Regel erheblich komplizierter als die Anrufe am Tag, und nachts reden die Leute auch länger. In einem Fall ging es um das Liebesleben einer Frau -- das dauerte fast drei Stunden. Ich weiß noch, daß sie morgens gegen zwanzig vor zwei anrief. Zuerst war sie fast ganz still und schluchzte nur leise, aber sehr elend. Ich bat sie, sich zu entspannen, und sie fing laut an zu weinen. Sie weinte fast zehn Minuten, bevor sie zu sprechen anfing. Wir redeten und redeten, bis mir das Ohr wehtat. Als der Morgen dämmerte, änderte sich plötzlich ihr Ton. Sie lachte und bedankte sich, bevor sie auflegte. Diese Erfahrung war ein echtes Erfolgserlebnis.

Wie gewöhnlich drängte ich sie zu keiner Entscheidung. Wenn sich die Situation wegen meines Eingreifens verschlimmert hätte, wem hätte man dann die Schuld gegeben? Ich analysierte nur ihre Situation für sie und wog Vor- und Nachteile gegeneinander ab -- das ist meine Aufgabe als Berater. Ich bin nur ein Spiegel, in dem sich die Anrufer genauer betrachten können. Außenstehende sehen ja oft klarer als die Beteiligten.

Manchmal reicht die Rolle des Spiegels aber nicht aus. Wenn Anrufer beispielsweise finanzielle Probleme haben, fühle ich mich oft inkompetent und ein bißchen deprimiert. Natürlich kann ich Trost spenden, aber ich kann den Leuten unmöglich Geld leihen oder ihre komplizierten Finanzprobleme lösen.

Unsere Ausbildung als Berater lohnt sich, man wird zu einem klugen Zuhörer. Manche Anrufer gehen wie eine Katze um den heißen Brei herum. Ich hatte schon Fälle mit schlechten sexuellen Beziehungen zwischen Eheleuten, und der Anrufer redete über alles mögliche, nur nicht über das Problem. Ich habe aber ziemlich schnell gemerkt, wo der Hund begraben liegt, also brachte ich ihn Schritt für Schritt dazu, sein wirkliches Problem mit mir zu besprechen.

Manche Anrufer wollen nur schwatzen. Meine weiblichen Kollegen erzählen, daß manche Männer sie am Telefon sexuell belästigen, und zwar indem sie über ihre sexuellen Abnormitäten reden. Vielleicht haben sie ja wirklich ein solches Problem, und dann geben wir auch gerne Ratschläge. Jedenfalls kriegen wir die wirkliche Absicht des Anrufers recht schnell raus und können ein Gespräch auch taktvoll beenden. Man kann nicht einfach abrupt auflegen.

Ich versuche, meine Beratungsfähigkeiten zu verbessern und außerdem mehr über alle Aspekte der modernen Gesellschaft zu lernen. Sonst könnte ich ja nicht so lebhaft mit den Anrufern reden und erst recht nicht ihre Probleme erörtern. Gelegentlich lädt der Telefonseelsorgeverband Experten für Jura, Medizin und Psychologie für Vorträge bei uns ein. Als in Taiwan die ersten Aidsfälle auftraten, lud der Verband umgehend Fachleute ein, um von ihnen etwas über die Krankheit zu erfahren.

Die Telefonseelsorge kann Selbstmorde verhindern. Eines Nachts rief mich eine Frau an und murmelte, sie hätte gerade vierzig Schlaftabletten geschluckt. Sie wollte nicht sterben, ohne mit jemandem über ihr trauriges Los gesprochen zu haben. Das war ein echter Notfall. Mit Gesten forderte ich meine Kollegen auf, die Telefongesellschaft anzurufen und den Anruf der Frau zurückverfolgen zu lassen, während ich sie in der Leitung hielt. Die Nummer der Frau wurde ermittelt, sie wurde rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht und gerettet.

In diesem Fall erfuhr ich durch einen Anruf der Klinik bei der Telefonseelsorge, daß die Frau außer Gefahr war. Normalerweise führen wir aber keine Folgegespräche und treffen die Anrufer nicht. Zur Vermeidung von zu großer Vertrautheit mit den Anrufern benutzen wir statt unserer Namen nur vom Verband vergebene Kennummern. Sonst könnte es Probleme geben, wenn sich Anrufer zu sehr auf einen bestimmten Berater verlassen oder zu starke Gefühle für ihn bzw. sie entwickeln. Ich erinnere mich, wie mich eines Morgens zum Ende der Nachtschicht eine Frau anrief und sagte, sie warte unten vor dem Gebäude des Verbandes auf mich. Sie wollte mir für die guten telefonischen Ratschläge danken. Ich lehnte natürlich eine Begegnung ab und forderte sie auf zu gehen.

Wir freiwilligen Ratgeber erzählen normalerweise niemandem, daß wir bei der Telefonseelsorge arbeiten. Beim Wasserwerk wissen nur zwei meiner Kollegen Bescheid, und mehr sage ich denen auch nicht. Wir haben strengste Schweigepflicht und sprechen nicht über die Anrufer. Je weniger Leute über meine Tätigkeit Bescheid wissen, desto besser, denn sonst möchten sie vielleicht mehr über meine Fälle erfahren. Und überhaupt -- was soll ich machen, wenn sich herausstellte, ein Anrufer wäre ein Bekannter von mir?

Die meisten Anrufer sind Frauen. Nach unserer Statistik sind nur drei von zehn Anrufern Männer, und ich selbst habe festgestellt, daß nachts noch weniger Männer anrufen. Wir notieren einige Informationen über die Anrufe, zum Beispiel die Länge des Telefonats, Alter, Beruf und Geschlecht des Anrufers sowie das besprochene Problem. In den letzten Jahren wurde geistige Labilität zum Anlaß Nummer eins für Anrufe bei der Telefonseelsorge, und Beziehungen zwischen Männern und Frauen rutschten auf Platz zwei. Aber wie soll man mit geistig Verwirrten sprechen? Sie rufen meistens nach Einnahme ihrer Medikamente an.

Seit fast zwanzig Jahren habe ich mir nun zahllose Klagen angehört. Ich bin deswegen nicht von der Gesellschaft enttäuscht, aber ich bin überzeugt, daß die Gesellschaft ohne Telefonseelsorge oder ähnliche Organisationen nicht auskommt. Ich spiele nicht Mahjongg und schaue mir keine Seifenopern im Fernsehen an, warum soll ich da nicht meine Freizeit sinnvoll verbringen, indem ich etwas Gutes für die Gesellschaft tue? Ich helfe den Menschen gern! Je mehr Anrufe ich kriege, desto fester wird meine Überzeugung, daß ich weiter für die Telefonseelsorge arbeiten muß. Sicher halten uns viele Leute für Trottel, weil wir unbezahlt arbeiten, aber ohne Trottel wie uns wäre diese Gesellschaft noch schlechter dran.

Meine Frau stört es nicht, daß ich für die Telefonseelsorge arbeite. Am Anfang hat sie sich manchmal beschwert, wenn ich nach der Arbeit ohne Abendessen daheim vom Wasserwerk direkt zur Telefonseelsorge gegangen bin. Sie und unsere zwei Kinder hatten nie irgendwelche Einwände gegen meinen Wunsch, Menschen zu helfen, aber sie wollen auch nicht im Verband mitarbeiten. Nicht jeder hat Lust oder Zeit für freiwillige Arbeit, und manche hören auf, weil sie es leid sind oder weil sich ihr Tagesablauf ändert. Ich werde diesen Weg jedenfalls weitergehen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

Meistgelesen

Aktuell