11.08.2025

Taiwan Today

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"Taipei ist das Neapel Chinas"

01.07.1998
Heidegert A. Hoesch—“Schwierigen Situationen begegnet man hier mit einer positiven Nonchalance und auch in einer gewissen ‘asiatischen’ Indifferenz.”

Heidegert A. Hoesch, Jahrgang 1942, verheiratet, eine Tochter, war von 1992 bis Ende Juni 1998 die Leiterin des Deutschen Kulturzentrums (DK) in Taiwan. In den sechziger Jahren hatte sie in München, Heidelberg und Berlin Germanistik, Europäische Geschichte und Soziologie studiert und ist seit 1978 beim Goethe-Institut (GI) beschäftigt. Als Deutschlehrerin und Führungskraft des GI war Hoesch unter anderem in Atlanta (USA) und Singapur tätig. Im Herbst dieses Jahres soll sie die Leitung des GI in Prien (Bayern) übernehmen.

In einem Gespräch mit Freies China sprach Hoesch über die Beziehungen zwischen der Republik China auf Taiwan und der Bundesrepublik Deutschland, die Schwierigkeiten beim bilateralen Kulturaustausch sowie über ihre persönlichen Erfahrungen in Taipei. Es folgen Auszüge.

Freies China: Frau Hoesch, wie haben sich während ihrer Tätigkeit als Leiterin des Deutschen Kulturzentrums die Beziehungen zwischen der Republik China auf Taiwan und der Bundesrepublik Deutschland entwickelt?

Heidegert A. Hoesch: Es hat eine ganz fühlbare Entkrampfung stattgefunden. Zwischen der Bundesrepublik und der Republik China ist es leichter geworden, was durchaus an beiden Seiten liegt. Man versucht auf eine vernünftige und praktikable Weise innerhalb der bekannten Grenzen zu agieren, ohne daß die wichtigen Beziehungen, nämlich die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen auf der einen Seite und die kulturellen-akademischen Beziehungen auf der anderen Seite leiden. Der Austausch wurde erweitert; keiner protestiert, wenn Taiwanesen nach Deutschland gehen oder Deutsche nach Taiwan kommen. Das spielt auch gegenüber dem Festland keine Rolle, sondern das sind Aktivitäten, die völkerrechtlich und juristisch selbstverständlich und selbständig ablaufen können und dürfen. Solange wir unterhalb der völkerrechtlichen Anerkennungsschwelle arbeiten, glaube ich, daß dieser Handlungsspielraum noch nicht einmal ganz ausgeschöpft ist.

Aus welchen Gründen wurde zusätzlich zu einer bereits vorhandenen deutschen Repräsentanz in Taiwan 1981 das Deutsche Wirtschaftsbüro gegründet?

Das ist naheliegend. Das Deutsche Kulturzentrum ist aus einem DAAD-Büro gewachsen und war eigentlich immer, wenn auch indirekt, durch die Aktivitäten des Goethe-Instituts definiert. Das heißt, in Taiwan gab es keine Wirtschaftsvertretung der Bundesrepublik Deutschland. In den siebziger Jahren zeigte sich zum ersten Mal, daß Taiwan sich zu einem Industriestaat entwickelte, der eine gewisse wirtschaftliche Potenz präsentiert. Das fing damals mit "Spargel und Champignons aus Formosa" an und ging recht schnell beispielsweise in die Halbleiterproduktion über. Man merkte dann schon, daß eine neue Kraft und eine neues Potential heranwächst. Ein wichtiger Markt wie Taiwan konnte von der Bundesrepublik Deutschland nicht länger vernachlässigt werden. Deswegen war es notwendig, daß hier ein Wirtschaftsbüro errichtet wurde, in dem die Außenhandelskammer präsent ist.

Wieso hält sich das DK in den Bereichen Musik und Literatur zurück?

Konzerte und Musik werden im wesentlichen von kommerziellen Veranstaltern abgedeckt. Wir haben hier mindestens ein-, zweimal pro Monat große Konzerte mit klassischer Musik, wobei die deutsche und europäische Klassik eine prominente Rolle spielt.

Ich möchte eines sagen: Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann usw. gehören nicht mehr ausschließlich zu Österreich oder Deutschland, sondern sind genauso ein kultureller Bestandteil der asiatischen Kultur. Das ist eine provokante These, die ich aber auszusprechen wage -- aus eigener Erfahrung nach zehn Jahren in Asien. Ich habe das schon in Singapur erlebt. Wenn wir spazierengingen, erscholl aus jedem zweiten Haus Beethovens "Für Elise" oder Nocturnes von Chopin. In Taiwan ist es ähnlich. In einem der vielen Radiosender hört man nur klassische europäische Musik, auch durch die Deutsche Welle. Viele junge Leute lernen und studieren europäische Musik. Die Orchester hier bestehen fast zu hundert Prozent aus einheimischen Kräften, die aber genauso aktiv, brillant und leidenschaftlich Liszt, Beethoven, Brahms und Mahler spielen wie europäische oder amerikanische Orchester unter guten Dirigenten.

Ich glaube, daß die Musikarbeit sich so weit internationalisiert hat, daß wir als DK finanziell völlig überfordert wären und außerdem auch das falsche Konzept verfolgen würden. Die Veranstaltungen organisiert man hier selber, weil es ihre eigene Musik ist!

An Dichterlesungen habe ich mich nicht getraut, weil die Sprachbarriere zu hoch ist. Die Dichtersprache ist eine sehr komplexe Sprache, und diese ad hoc zu übersetzen, ist kaum möglich. Wer versteht schon letzten Endes, wenn ein Dichter etwas vorliest? Auch in Deutschland geht ja nur ein ausgewähltes Publikum zu Dichterlesungen.

Ich habe die Veranstaltungsform außerdem ausgelassen, weil sie ungeheuer aufwendig gewesen wäre. Man muß Dichter einfliegen, man muß übersetzen, man muß präsentieren, und wer ist am Ende das Publikum? Es ist bisher noch eine hauchdünne Schicht. Diesen Aufwand konnten wir uns nicht leisten.

Sie waren von 1984 bis 1988 in Singapur. Welche Unterschiede zwischen Singapur und Taiwan sind Ihnen aufgefallen?

Singapur ist ein durchregulierter Staat. Das bringt gewisse praktische Vorteile mit sich, kann aber auf der anderen Seite auch leicht langweilig werden. Das war in Taiwan anders. Das Schöne daran war dieser positive Kulturschock, dieses Durcheinander, dieses Essen, Trinken und Lachen und sich-selbst-ironisieren.

Ich wußte von Taiwan so gut wie nichts außer dem KMT-Klischee, das Taiwan immer noch umgibt, und war äußerst positiv überrascht, hier eine vielschichtige Gesellschaft und darüber hinaus offene Türen gegenüber unserem Land vorzufinden. Dieses noch junge, aufstrebende und wirtschaftlich potente Land, das auch die Asienkrise gut zu überstehen scheint, ist eines der wenigen Länder, dessen Kapazitäten sich immer noch erweitern und das sich gegenüber Deutschland öffnet und nicht verschließt; das eine zweite Fremdsprache einführt und nicht abschafft. Damals, kurz nach der Wiedervereinigung, war das Interesse natürlich ganz besonders groß, und wir wurden überrannt mit Anfragen aller Art.

Wie Sie wissen, ist Taiwan sehr vielschichtig. In gewisser Weise gibt es noch eine Generation, die aus der "Ochsenkarrengesellschaft" stammt, und andererseits ist Taiwan ein Schwellenland. Wir haben ein Land, das im Umbruch vom Agrarland in die Industriegesellschaft ist, das gleiche Land entwickelt sich von der Industrie- in die postindustrielle Gesellschaft. Das sind Gleichzeitigkeiten, die in Europa und Amerika langfristig nacheinander abliefen und hier in wahnsinnig kurzen Abständen, zum Teil parallel, ablaufen.

Wenn man den großen chinesischen Kulturraum -- den chinesischen Überseeraum mit einbezogen -- sieht und mit dem großen europäischen Kulturraum von Skandinavien bis Sizilien vergleicht, dann würde ich sagen, daß Taiwan so etwas wie Neapel ist. Lebensfreudig, chaotisch, amüsant, mit gutem Essen, Sauberkeit wird nicht so groß geschrieben, Korruption, kurz "mit allem, was das Herz begehrt", den guten und den schlechten Seiten, und zwar in ihrem ganzen Spektrum. Auch hier in Taiwan könnte Sophia Loren pausenlos schwanger werden, damit sie nicht ins Gefängnis kommt.

Was unser persönliches Leben angeht, habe ich den vorherrschenden Eindruck, daß sich vieles verändert hat. Das Leben für Ausländer ist erheblich leichter geworden, die Einfuhr vieler Güter wurde erleichtert -- es gibt heutzutage jede Ware, die man sich denken kann. Der Verkehr hat durch die MRT-Schnellbahnlinien und die Bändigung des Straßenchaos etwas von seinem Schrecken verloren. Allerdings fühle ich -- vor allem in Taipei, vielleicht beeinflußt durch die enorme Betriebsamkeit und Hektik -- neuerdings manchmal so etwas wie eine gewisse Ungeduld aufscheinen. Die Anonymität der Großstadt erzeugt auch Aggression, aber wenn man dann über einer Tasse Tee zur Sache kommt, ist die alte Herzlichkeit wieder da.

Was wird Ihnen nach der Rückkehr nach Deutschland fehlen?

Die besagte Herzlichkeit im Umgang. Auch die Regellosigkeit und das "kreative Chaos" werden wir vermissen. Das menschliche Element wird mir in Deutschland wohl am meisten abgehen, die Freundlichkeit und Offenheit der Bevölkerung in Taiwan, die uns so viele Freunde beschert hat. Es gibt wirklich echte Freundschaften hier. Schwierigen Situationen begegnet man hier mit einer positiven Nonchalance und auch in einer gewissen "asiatischen" Indifferenz. Wir würden zum Vergleich das Wort "Kismet" gebrauchen. Wenn wir Deutschen Problemen gegenüberstehen, dann ziehen wir die Mundwinkel runter und denken scharf nach, was wir machen können. Dann stellen wir fest, wir können nichts ändern, und von da ab laufen wir mit saurer Miene herum. Wenn man hier feststellt, daß man nichts ändern kann, dann sagt man, "okay, ich kann daran nichts ändern", atmet einmal tief durch und lächelt wieder.

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