28.04.2025

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Wiedergewonnenes Paradies: Taiwans Garten Eden

01.05.1999
Eden verteilt nicht einfach Almosen, sondern bietet den Behinderten in Taiwan vielmehr Chancengleichheit bei Bildung und Beschäftigung.

"Es bringt mehr, einem Menschen das Fischen beizubringen, als ihm einen Fisch zu essen zu geben", zitiert Jacob Chen, Geschäftsführer der Wohlfahrtsstiftung Eden, ein bekanntes Sprichwort. "Das ist unser Leitprinzip, dem wir bei der Förderung der Behindertenwohlfahrt folgen." Die Stiftung war 1982 von der herausragenden behinderten Schriftstellerin Liu Hsia(劉俠) und einer Gruppe von sechs Christen gegründet worden und hilft Behinderten bei der Entwicklung beruflicher Fertigkeiten, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. (Siehe auch das Interview mit Liu Hsia auf Seite 10.) "Es gibt die verschiedensten Behinderungen", doziert Chen. "Es kommt darauf an, die Auswirkungen der Behinderung zu verringern und gleichzeitig das Wissen und die Fähigkeiten der behinderten Person so weit wie möglich zu entwickeln. Nur so können Behinderte unabhängig leben und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten."

Zu diesem Zweck führt die Stiftung eine Reihe von Kursen durch, etwa über chinesisches Knotenbinden und andere Kunsthandwerke, Benutzung elektronischer Rechenmaschinen, Schreibmaschinenschreiben und Computeranwendung. "Bevor ich bei Eden Computerunterricht genommen habe, hatte ich absolut keine Ahnung, wie mein zukünftiges Leben aussehen würde", bekennt der 23jährige Cheng Huang-ching. "Ich erlaubte mir keine Träume oder Pläne. Jetzt aber weiß ich, daß ich in der Werbebranche mit computergestütztem Design arbeiten will. Sobald ich es mir finanziell leisten kann, möchte ich ein eigenes Studio aufmachen."

Cheng kam mit einer schweren Behinderung zur Welt und ist seitdem an den Rollstuhl gefesselt. Trotz großer Schwierigkeiten schaffte er den Oberschulabschluß und denkt nun darüber nach, daß er für eine unabhängige Lebensgrundlage einen Beruf erlernen muß, denn seine Familie ist nicht wohlhabend. Bisher hat Cheng drei Monate des einjährigen Schulungsprogramms von Eden absolviert und ein wachsendes Interesse für den Unterrichtsstoff entwickelt. "Ich bin nun absolut zuversichtlich, daß ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen kann. Ich hoffe auch, daß ich mir einen langgehegten Traum erfüllen und in naher Zukunft ins Ausland reisen kann."

Im Laufe der Jahre hat Eden mit dem Sozialamt der Stadtverwaltung Taipei sowie der Beschäftigungs- und Berufsfortbildungsverwaltung (Employment & Vocational Training Administration , EVTA) im Rat für Arbeitnehmerfragen (Council of Labour Affairs , CLA) zusammengearbeitet, um mittel- bis schwerbehinderten Menschen berufliche Schulung anzubieten. Die Teilnehmer an diesen Programmen erhalten nicht nur kostenlos eine intensive berufliche Ausbildung, sondern können außerdem noch eine monatliche Beihilfe in Höhe von 13 000 NT$ (680 DM) beantragen. "Wir sind die erste Organisation, die Behinderten berufliche Schulung bietet, und unser Computerunterricht ist mit Rücksicht auf Taiwans boomende Informationsindustrie wirklich praxisorientiert", stellt Chen voller Stolz fest. "Nach Abschluß eines Kurses können wir den Absolventen durch unsere Empfehlung Jobs vermitteln, oder sie können auch in der Abteilung für Textverarbeitung und Computerlayout unserer Stiftung arbeiten."

Chen erklärt, daß die EDV-Abteilung der Stiftung (EDV = elektronische Datenverarbeitung) nicht nur für die Produktion der eigenen Publikationen zuständig ist, sondern auch noch mit der Verarbeitung von Design, Texten und Layout im Auftrag inländischer Firmen Geld macht. "Zur Aufrechterhaltung des Betriebs muß die Stiftung weitere Finanzquellen erschließen und ihren Weg finden, ohne vollkommen von anderen abhängig zu sein", begründet Chen. "Mit dem Aufbau der EDV-Abteilung und dem Verkauf von Kunsthandwerk, das von unseren Mitgliedern produziert wurde, können wir uns über Wasser halten." Gegenwärtig hat Eden drei Finanzquellen: private Spenden aus Spendensammelaktionen von Eden, Regierungszuschüsse oder Projekte in Regierungsauftrag sowie Einkünfte aus eigenen Geschäften.

Edens Hauptziel ist laut Chen die Koordinierung der Anstrengungen von Regierung und privatem Bereich zum Aufbau eines den Bedürfnissen der Behinderten angepaßten soliden und praktischen Sozialsystems. Während der Anfangsperiode konzentrierte die Stiftung ihre Anstrengungen auf die Hilfe für Einzelpersonen bei deren Kampf für ihre Rechte und Interessen, aber die Resultate waren eher dürftig. " Wir haben später festgestellt, daß die beste Strategie zur Verbesserung der Lage der Behinderten insgesamt die Arbeit an strukturellen Änderungen ist, also Gesetzesänderungen", unterstreicht Chen. "Auf diese Weise können wir allen Behinderten auf verschiedene Art nachhaltig nützen."

Deshalb bemüht sich Eden um Zusammenarbeit mit anderen karitativen Organisationen und privaten Gruppen, um die Regierung zur Formulierung neuer Gesetze zum Wohle der Behinderten zu motivieren und gleichzeitig alle diskriminierenden Bestimmungen abzuschaffen. Ein im Jahre 1990 verabschiedetes Gesetz verlangt von Staatsunternehmen, je fünfzig Mitarbeiter einen Behinderten einzustellen, und von privaten Unternehmen die Einstellung eines Behinderten je hundert Mitarbeiter. Wenn eine Organisation diese Bestimmung mißachtet, ist eine Geldstrafe in Höhe eines Mindestlohnes von 15 840 NT$ (830 DM) fällig. Die Geldstrafen werden von der jeweiligen Lokalverwaltung kassiert und zur Umsetzung von Wohlfahrtsprogrammen genutzt, etwa berufliche Schulung oder Beschäftigungshilfe. Ein Teil des Geldes geht auch als Sub vention an die Firmen, die mehr Behinderte als von der gesetzlichen Quote verlangt einstellen. Seit der Umsetzung des Gesetzes zur verbindlichen Beschäftigung von Behinderten im Jahre 1990 wurden nach Chens Angaben pro Jahr etwa 20 000 Jobs für Behinderte geschaffen.

Andere Gesetzesänderungen umfassen die Abschaffung von Beschränkungen für Behinderte bei der allgemeinen Hochschulaufnahmeprüfung. Außerdem gibt es neue Vorschriften über den Bau behindertengerechter Wege und Eingänge. "Bildung sollte universal sein, ohne Rücksicht auf individuelle körperliche Unterschiede", fordert Chen. "Auch wenn Behinderte bestimmte Sonderbedürfnisse haben, so dürfen sie doch nicht wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden." Chancengleichheit bei Bildung ist ein Grundrecht der Behinderten, die Garantie dieses Rechts ist keine "Wohlfahrtsmaßnahme", unterstreicht Chen. Deshalb halten Eden und andere karitative Vereine regelmäßigen Kontakt mit Regierungsbeamten und haben in dem Verlauf nach Chens Worten einige unangenehme Konfrontationen erleben müssen. Erst als die Beschränkungen im Jahre 1988 abgeschafft wurden, erhielten Behinderte die Chance für höhere Bildung.

Das Konzept einer "hindernisfreien Umgebung" -- darunter der Aufbau eines bequemen Systems öffentlicher Verkehrsmittel -- garantiert nicht nur die Grundrechte der Behinderten, sondern aller Menschen auf Taiwan, wirbt Chen und fügt hinzu, daß bestimmte Einrichtungen wie etwa Aufzüge, Geländer, größere Toiletten, angepaßte Gehwege sowie reservierte Sitzplätze und Parkplätze auch den Senioren, Schwangeren und Kindern nützen.

"Man soll den Behinderten nicht nur das Fischen beibringen, sondern sie müssen den Fischteich auch selbst erreichen können, denn sonst können sie immer noch nichts fangen", vergleicht Chen. "Genauer gesagt, wir brauchen eine hindernisfreie Umgebung, damit Behinderte sich frei bewegen können."

Derzeit bemüht sich Eden darum, die Vorstellungen der Öffentlichkeit über Behinderte durch Publikationen und Veranstaltungen zu verbessern. Nach traditioneller Ansicht in Taiwan ist Behinderung eine Strafe für Sünden in einem früheren Leben und daher sozusagen selbstverschuldet. Chen widerspricht diesem Vorurteil: Zwar sind nicht wenige Behinderte von Geburt an behindert, aber viele andere sind auch unschuldige Opfer von Unfällen und Brandkatastrophen. "Wir müssen den Behinderten unsere Anteilnahme zeigen und ihnen nach Kräften beistehen, denn jeden von uns könnte ein solches Schicksal jederzeit und überall ereilen."

Wiedergewonnenes Paradies: Taiwans Garten Eden

Das Leben von Behinderten kann ebenso bunt -- und kimpliziert -- wie ein Gemälde sein.

In den letzten 16 Jahren ist Eden enorm gewachsen: Von ursprünglich zwei Teilzeitkräften und einem von der Eden -Gründerin Liu Hsia gespendeten Kapital von 200 000 NT$ (10 520 DM) vergrößerte sich die Stiftung auf heute 280 bezahlte Mitarbeiter und einen Jahresetat von rund 200 Millionen NT$ (10,5 Millionen DM). "Wir freuen uns, daß Eden nun immer mehr Behinderten dabei helfen kann, aus dem Schatten ihrer Behinderung herauszutreten und ihr Leben neu zu gestalten", sagt Chen. "Unseren Erfolg verdanken wir jedoch auch dem guten Umfeld hier in Taiwan, das Eden ein ständiges Wachstum erleichtert." Die breite Unterstützung der Öffentlichkeit für Eden rührt Chen. "Viele Menschen haben zum Wachstum von Eden beigetragen, indem sie Geld gespendet oder ihre kostbare Freizeit für Teilnahme an Wohltätigkeitsaktivitäten der Stiftung geopfert haben", lobt Chen. "Das öffentliche Vertrauen in Eden ist wie eine riesige Lokomotive, die uns mit Volldampf voranbringt, aber wir müssen auch aufpassen, daß wir unsere finanziellen Ressourcen optimal ausnutzen."

Zur weiteren Ausdehnung und Diversifizierung der Dienste an der Gemeinschaft wurde Eden im Jahre 1994 von einer ursprünglich in Taipei registrierten regionalen Organisation in eine nationale Institution umgewandelt. Seitdem hat die Stiftung nationale Servicezentren eingerichtet, etwa Heime für Mittel- bis Schwerbehinderte, Rehabilitationszentren und Behandlungszentren für Behinderte im Frühstadium. "Zur Zeit unterhält Eden insgesamt 22 Servicezentren in acht Städten und Kreisen, darunter auch abgelegene Gebiete", zählt Chen auf. "Gleichzeitig möchten wir die Zielgruppe unserer Dienstleistungen auf Senioren und Kinder ausdehnen, die wenig Fürsorge von anderen Institutionen erhalten." Wegen der höheren Lebenserwartung und sinkenden Geburtenrate "ergraut" Taiwans Gesellschaft, und das Problem alleinstehender Senioren wird immer schwerwiegender. Die Stiftung würde deswegen gerne den Senioren zur Seite stehen, die im Alltag nicht mehr ohne Hilfe zurechtkommen oder ohne angemessene Pflege sind. Schließlich sind viele Alte schwach, krank oder versehrt, fährt Chen fort.

Die wichtigste Aufgabe besteht für Eden jedoch in der Förderung der frühen Behandlung geistig behinderter Kinder, von denen es in Taiwan heute schätzungsweise 158 000 gibt. "Wenn diese Kinder noch vor dem dritten Lebensjahr frühzeitig behandelt werden können, dann ist der Nutzen zehnmal größer als bei einer späteren Behandlung", argumentiert Chen. "Die Phase zwischen der Geburt und dem sechsten Lebensjahr ist entscheidend und stellt die Weichen für Art und Ausmaß der Behinderung dieser Kinder."

Chen ist über die gegenwärtigen Bedingungen für Taiwans geistig behinderte Kinder betrübt, denn weniger als drei Prozent haben das Glück einer frühen Behandlung. Die Stiftung hat sich deswegen mit der Supermarktkette "7-Eleven" zum inselweiten Spendensammeln zusammengetan. Bis Januar 1999 sollten insgesamt 20 Millionen NT$ (1,05 Millionen DM) aufgetrieben werden, um dann innerhalb von drei Jahren ein umfassendes Behandlungsnetzwerk für die frühstmögliche angemessene Behandlung geistig behinderter Kinder aufzubauen.

Yi-yi ist eines der glücklichen Kinder, die mit erstaunlichem Erfolg frühzeitig behandelt werden konnten. "Nach seiner Geburt merkten mein Mann und ich sofort, das mit ihm etwas nicht stimmte. Er heulte wenig und reagierte auch kaum auf Geräusche", erinnert sich Yi-yis Mutter Shan Kuei-ying. "Schlimmer war, daß er nach einem Jahr immer noch nicht aufrecht sitzen konnte. Sein ganzer Körper hatte nur sehr wenig Kraft." Damals weinte Shan sehr viel. Sie ging mit ihrem Sohn zu vielen chinesischen und westlichen Ärzten, aber es gab keine wesentliche Besserung.

Später nahm sie auf Anregung von Freunden mit Eden Kontakt auf. Das war vor rund zwei Jahren, und ihr Leben hat sich seitdem komplett geändert. "Eden schickte mir sofort einen Sozialarbeiter nach Hause, um das Problem besser zu verstehen, und versorgte mich mit Informationen über Behandlung in der Frühphase", erzählt Shan. "Am Anfang zögerte ich mit diesem neuen Versuch, weil ich schon so frustriert und erschöpft war. Die Mitarbeiter von Eden drängten mich aber, es noch einmal zu versuchen, und sie fuhren uns einmal die Woche zum Behandlungszentrum. So ging das dann über ein Jahr lang." Heute ist Yi-yi dreieinhalb Jahre alt und kann nicht nur krabbeln, sondern auch herumlaufen, wenn auch manchmal etwas wacklig. Die Stiftung bietet der Familie auch Milchpulver, Windeln und eine monatliche Beihilfe von 2000 NT$ (105 DM) an. "Mit Edens Hilfe konnte ich die schwierigste Zeit meines Lebens durchstehen und bin nun angesichts der stetigen Fortschritte meines Sohnes wahnsinnig glücklich", dankt Shan. "Zwar haben wir noch ein schweres Stück Weg vor uns, aber ich habe jetzt wohl gelernt, wie ich mich dem Leben mit Mut und Optimismus stellen kann."

Mit ihrem wachsenden Mitarbeiterstab und Etat kann die Stiftung nun professionelle Schulung, Hilfe bei Jobvermittlung, psychologische Beratung, Gottesdienste, Rechtsschutz und vieles andere mehr bieten. Zusätzlich bringt Eden Bücher mit Behindertenthematik heraus, produziert kurze Werbefilme und Videos, Fernseh- und Radioprogramme und bietet den Behinderten gesundheitliche Untersuchungen.

Mit ihrer christlichen Gesinnung arbeitet die Eden-Stiftung daran, ihren Service über die Grenzen Taiwans hinaus auszudehnen. "Liebe sollte keine Grenzen kennen", kontempliert Chen. "Wir sollten die Segnungen Gottes und unsere Fähigkeiten mit der ganzen Menschheit teilen, besonders mit den Leidenden."

Eines von Edens laufenden Projekten betrifft Minen. Im Mai 1998 organisierte die Stiftung in Taipei das "Seminar gegen Minen in Asien". Laut während des Seminars zitierten Statistiken der Vereinten Nationen lauern weltweit rund 111 Millionen Minen im Erdreich. Alle zwanzig Minuten geht irgendwo auf der Welt eine Mine hoch, und jeden Monat werden durch diese entsetzlichen Vernichtungswaffen 800 Menschen getötet und 1200 verstümmelt. Wegen dieser permanenten Bedrohung für das menschliche Leben hat die Weltgemeinschaft zahlreiche Kampagnen gegen Minen gestartet und viele Rehabilitationsprogramme für Minenopfer eingerichtet. "Die Bewegung für ein Verbot von Minen hat internationale Aufmerksamkeit erregt", weiß Chen. " Als eine der Gruppen mit Engagement für Behinderte und als Teil der internationalen Gemeinschaft denkt Eden darüber nach, was Taiwan tun könnte."

Für mehr Aufklärung über das Minenproblem und zur weiteren Erforschung der Bedürfnisse von Minenopfern hat Eden viele Veranstaltungen organisiert. Im März 1997 war Eden die erste zivile Organisation in Taiwan, die auf einen internationalen Aufruf für ein Verbot von Minen und für die Förderung von humanitären Rettungsmaßnahmen reagierte. Eden bemüht sich auch um ein größeres Verständnis für Einzelheiten der Minenfrage durch Besuche in Ländern mit verminten Gebieten und durch Teilnahme an internationalen Konferenzen über das globale Verbot von Minen, wie etwa im Mai 1998 in Taipei. Zusätzlich hat die Stiftung Kampagnen gegen Minen gestartet und Spendengelder für Tausende von Rollstühlen und Beinprothesen für Minenopfer in Kambodscha, Afghanistan, Bangladesh, Mosambik, Jordanien und Kinmen (Republik China) gesammelt.

"Jesus hat es schon in der Bibel gesagt: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst'. Das ist unsere höchste Berufung", bekennt Chen. "Wir erwarten, daß durch internationale Anstrengungen Minenopfer aus der ganzen Welt aus der Dunkelheit ihres Daseins heraustreten und ein neues Leben anfangen können, indem sie durch Schulbesuch, Rehabilitation und berufliche Weiterbildung selbst ihren Lebensunterhalt verdienen." Abschließend äußert Chen die Hoffnung, daß ein neues Zeitalter der Liebe ohne nationale Grenzen eingeleitet werden kann.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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